Der Schrei nach dem Gedächtnis der Menschheit - Ein Zwischen(Denkauf-)ruf
Der Mensch denkt ..., und damit zeichnet er sich aus als anthrôpos, als menschliches Lebewesen, das vernunft- und sprachbegabt und in der Lage ist, als Individuum in menschlichen Gemeinschaften zu leben; so die Auffassung, wie sie von den antiken Philosophen postuliert und in unser Denkbewusstsein eingegangen ist. Mit dem Gedächtnis entwickelt der Mensch „die mentale Fähigkeit, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gefühle oder Begriffe über den Zeitpunkt des Erlebens hinaus aufzubewahren“ (Martin Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 2009, S. 249). Soweit – so gut! Die Frage, wie sich Denken als intellektuelle und alltägliche Bedeutsamkeit beim Menschen vollzieht, hat die Menschen sicherlich von Anfang ihres Menschseins an bewegt. In der philosophischen, psychologischen und anthropologischen Diktion ist Denken nur dann für den Lebensbezug des Menschen bedeutsam, wenn Denken Grundlage des individuellen Bewusstseins ist, sich sowohl als kontinuierlicher wie auch wandelbarer Prozess und als unabhängiges Denken darstellt. „Ich denke, also bin ich“ steht dabei im Gegensatz zum „Ich lasse denken“ (vgl. dazu: Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, München 2011, 223 S.). In der Lernpsychologie kommt der Frage nach dem „Denken lernen“ eine besondere Aufmerksamkeit zu. Lernen definiert sich zur Fähigkeit, das eigene Verhalten ändern zu können (Klaus Foppa, Lernen – Gedächtnis – Verhalten, 9. Aufl., Köln 1973, 466 S.), und in der Denkpsychologie wird die umgangssprachliche Bedeutung des menschlichen Denkens, wie auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung über die Fähigkeit zur „Vergegenwärtigung“ von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem thematisiert (Carl Friedrich Graumann, Hrsg., Denken, 5. Aufl., Köln 1971, 513 S.). Das Bon-mot - „Wir sind durch Andere, anderes und uns selbst bedingt, können und müssen uns zu Anderen, anderem und uns selbst … stets noch einmal bzw. immer wieder verhalten“ - macht eindeutig deutlich, dass ein Überdenkens des individualtheoretischen und dualistischen Verständnisses, das den traditionellen Lerntheorien zugrunde liegt, notwendig ist (siehe dazu: Tobias Künkler: Lernen in Beziehung. Zum Verhältnis von Subjektivität und Relationalität in Lernprozessen, Bielefeld 2011, in: socialnet Rezensionen, https://www.socialnet.de/rezensionen/12017.php). Damit soll die Aufmerksamkeit auf die Herausforderung gerichtet werden, wie sie mit der Titelüberschrift provoziert wird: Es geht um die Frage, wie wir Menschen damit umgehen, dass die menschengemachten Entwicklungen, die sich in den Schlagworten „Klimawandel“, „Migration“, „Hungerkatastrophen“... ausdrücken, die Existenz der Menschheit bedrohen. Das Phänomen zeigt sich darin, dass es zahlreiche Prognosen und Analysen der Neuzeit gibt, die den Zustand des Lebensraums der Menschen und ihre humane Entwicklung aufzeigen, als Warnungen, wie sie in den Berichten an den Club of Rome als Szenarien des Schreckens deutlich werden (Dennis L. Meadows, u.a., Die Grenzen des Wachstums, 1972), als Aufforderung zum Umdenken (Mihailo Mesarovic / Eduard Pestel, Menschheit am Wendepunkt, 1974), als Bestandsaufnahmen der Interessen und Bedürfnisse der Menschen (Bericht der Unabhängigen Kommission für Internationale Entwicklungsfragen – Nord-Süd-Kommission: Das Überleben sichern. Gemeinsame Interessen der Industrie- und Entwicklungsländer, Köln 1980), die Vorhersagen, „wenn sich die gegenwärtigen Entwicklungstrends fortsetzen, wird die Welt im Jahre 2000 noch übervölkerter, verschmutzter, ökologisch noch weniger stabil und für Störungen anfälliger sein als die Welt, in der wir heute leben“ (Council on Environment Quality, u.a., Global 2000. Der Bericht an den Präsidenten, 1980), die drängende Aufforderung der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, den „throughput growth“ („Durchflusswachstum“) und die Mentalität des „business as usual“ aufzugeben zugunsten einer „tragfähigen Entwicklung“ (WCED, Our Common Future <Der Brundtland-Bericht>, Volker Hauff, Hrsg., Unsere Gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, 1987), der Fingerzeig, dass mehr als drei Viertel der Weltbevölkerung in den (sogenannten) Entwicklungsländern leben (Stiftung Entwicklung und Frieden, Hrsg., Die Herausforderung des Südens: Über die Eigenverantwortung der Dritten Welt für dauerhafte Entwicklung. Der Bericht der Südkommission, 1991), der Vorschlag, eine „globale Partnerschaft“ zu errichten, um die „zunehmende Ungleichheit zwischen Völkern und innerhalb von Völkern, eine immer größere Armut, immer mehr Hunger, Krankheit und Analphabetismus sowie eine fortschreitende Schädigung des Ökosystems“ zu verhindern (Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro, Agenda 21), die dramatische Aufforderung – „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ – wie sie von der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 in die Welt gebracht wurde; nicht zuletzt die wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Lage der Welt, die alljährlich vom New Yorker Worldwatch Institute vorgelegt werden, etwa mit der Warnung vor der Überhitzung des Planeten (Zur Lage der Welt 2009), den Hinweisen, dass, wenn das System falsch programmiert ist, der gute Wille des Einzelnen an Grenzen stößt und Nachhaltigkeit als ein neuer Lebensstil entstehen (Zur Lage der Welt 2010), sowie der Skandal beseitigt werden muss, dass es heute in der Welt „Hunger im Überfluss“ gibt (Zur Lage der Welt 2011, siehe die Rezensionen in socialnet). Es sind die vielfältigen, rapide, lokal und global sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden Weltsichten und -wahrnehmungen (vgl. dazu z. B.: Astrid Messerschmidt, Weltbilder und Selbstbilder. Bildungsprozesse im Umgang mit Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte, Frankfurt/M., 2009, www.socialnet.de/rezensionen/7256.php; sowie: Dirk Lange, Hrsg., Entgrenzungen. Gesellschaftlicher Wandel und politische Bildung, Schwalbach/Ts., 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12192.php), die sich als Herausforderung der Moderne alltäglich, gesellschaftlich und im wissenschaftlichen Diskurs ergeben (Oliver Kozlarek, Moderne als Weltbewusstsein, Bielefeld 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12558.php). Dabei wird ehemals Fremdes zu Vertrautem und Vertrautes führt zu Irritationen (Sylke Bartmann / Oliver Immel, Hrsg., Das Vertraute und das Fremde. Differenzerfahrung und Fremdverstehen im Interkulturalitätsdiskurs, www.socialnet.de/rezensionen/12833.php). Die Erkenntnis, dass der Mensch grundsätzlich und existentiell ein wandelbares Lebewesen ist, durchzieht die Menschheitsgeschichte von Anbeginn an; aber die Versuche, Selbstbestimmung und Selbstwertigkeit ideologisch, machtpolitisch oder anthropo-orientiert zu interpretieren und festzulegen, sind gleichzeitig als Markierungen in die Entwicklungsgeschichte der Menschen eingelassen (Bernhard Rathmayr, Selbstzwang und Selbstverwirklichung. Bausteine zu einer historischen Anthropologie der abendländischen Menschen, Bielefeld 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11820.php). Die sich dabei ergebenden Festlegungen wie Irritationen zeigen sich in allen Bereichen menschlichen Daseins und Wirkens (Philip Thelen, Vergleich in der Weltgesellschaft. Zur Funktion nationaler Grenzen für die Globalisierung von Wissenschaft und Politik, Bielefeld 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12557.php); und sie stellen sich nicht zuletzt als soziokulturelle Dimensionen des Erinnerns dar (Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, Stuttgart 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12634.php). Auf den Gebieten des kulturellen Gedächtnisses hat die UNESCO, die Erziehungs-, Wissenschafts- und Kulturorganisation der Vereinten Nationen, hat 1972 die „Internationale Konvention zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt“ begründet und mit der „Magna Charta der internationalen Kulturpolitik“, dem Übereinkommen über Schutz und Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen im Jahr 2005 ergänzt, um, auf der Grundlage der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948), die Grundsätze der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, der Souveränität, der gleichen Würde und der Achtung aller Kulturen, der internationalen Solidarität und Zusammenarbeit, der nachhaltigen Entwicklung und des gleichberechtigten Zugangs für alle Menschen auf der Erde festzulegen. Mit der „Deklaration von Yamoussoukro“ hat die UNESCO 1989 ebenfalls die Bedeutung des friedlichen Zusammenlebens aller Menschen auf der Erde mit der Neubestimmung des Begriffs „Frieden im Denken der Menschen“ formuliert: Frieden heißt Ehrfurcht vor dem Leben,- ist das kostbarste Gut der Menschheit,
- ist mehr als das Ende bewaffneter Auseinandersetzung,
- ist eine ganz menschliche Verhaltensweise,
- verkörpert eine tiefverwurzelte Bildung an die Prinzipien der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität zwischen allen Menschen,
- bedeutet auch eine harmonische Partnerschaft von Mensch und Umwelt.
Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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