Die Gleichzeitigkeit des Skandals
He!
du dort
mach dich auf
wo immer du bist
wir müssen zusammenkommen
unter diesem Baum
der nicht mal
gepflanzt
ist
Im Gedicht der karibisch-amerikanische Dichterin June Jordan (1936 – 2002) aus dem Jahr 1989 wird der Skandal, der die Welt in zwei Bereiche gliedert, als Appell für Menschlichkeit ausgedrückt. Es ist ein Aufruf zur Solidarität und zur Gegenwarts- und Zukunftsfähigkeit des Menschseins. Und es ist der Optimismus, der sich gegen die skandalösen Wirklichkeiten in der Welt stellt: Eine bessere, gerechtere Eine Welt ist möglich! Denn der Skandal zeigt sich darin, dass die Schere zwischen den Menschen, die in Wohlstand leben und denen, die als Habenichtse vegetieren, immer weiter auseinander geht: Die Reichen werden reicher, und die Armen werden ärmer; und zwar lokal und global. Diese ungerechte und unmenschliche Entwicklung ist eine Verletzung der Menschenwürde, wie dieses oberste humanes Prinzip für Menschenrechte und der „globalen Ethik“ in der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ bezeichnet wird: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bilden die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“. In Artikel 25 der Menschenrechtsdeklaration wird dieses Recht spezifiziert: (1) Jedermann hat das Recht auf einen für die Gesundheit und das Wohlergehen von sich und seiner Familie angemessenen Lebensstandard, einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung, Wohnung, ärztlicher Versorgung und notwendiger sozialer Leistungen...“ [1]. Es ist nun nicht so, dass diese ungerechten Entwicklungen nicht immer wieder von Humanisten, Menschenrechtlern und Institutionen angeprangert wurden und werden. In der neueren Zeit sind es vor allem die Berichte an den Club of Rome [2], in denen die Grenzen des (wirtschaftlichen) Wachstums aufgezeigt werden, wie auch die Analysen und Bestandsaufnahmen der Konferenzen und Kommissionen der Vereinten Nationen, die davor warnen, dass wirtschaftliches Handeln nicht mehr nach dem Motto „business as usual“ und mit Wachstumskonzepten eines „throughput growth“ („Durchflusswachstum“) möglich sind, sondern als „sustainable development“ („tragfähige Entwicklung“) verwirklicht werden muss [3]. Dabei wird immer wieder ein Perspektivenwechsel im Denken und Handeln der Menschen gefordert: „Die Menschheit steht an einem entscheidenden Punkt ihrer Geschichte. Wir erleben eine zunehmende Ungleichheit zwischen Völkern und innerhalb von Völkern, eine immer größere Armut, immer mehr Hunger, Krankheit und Analphabetentum, sowie eine fortschreitende Schädigung der Ökosysteme, von denen unser Wohlergehen abhängt“ [4] – „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ [5]. Die Organisationen der Vereinten Nationen – UNCTAD: Konferenz für Handel und Entwicklung; UNDP: Entwicklungsprogramm; UNEP: Umweltprogramm; WFC: Welternährungsrat; WFP: Welternährungsprogramm; FAO: Ernähungs- und Landwirtschaftsorganisation [6] - unternehmen seit Jahrzehnten Anstrengungen, um den Skandal zu beseitigen, dass rund 1,2 Milliarden Menschen auf der Erde in absoluter Armut leben, Hunger leiden und an den Folgen von unzureichender und einseitiger Ernährung krank werden und sterben. Im September 2000 haben 189 Staaten der Erde, die den Vereinten Nationen angehören, die Millenniums-Entwicklungsziele ausgerufen. Zu den wichtigsten gehört dabei das Ziel, bis 2015 den Anteil der Menschen zu halbieren, die unter extremer Armut und Hunger leiden [7]. Die Bestandsaufnahmen zum Zieldatum jedoch zeigen in aller Deutlichkeit, dass diese Ziele nicht erreicht werden. Beobachter und Analysten vergleichen deshalb auch die Anstrengungen mit der „Echternacher Springprozession“: Zwei Schritte vor, einen zurück; andere variieren die Bewegungsrichtung sogar: Einen Schritt vor, einen zurück! [8].
Der hungrige Planet
Der Ökonom von der Universität in Oxford, Paul Collier, hat sich bereits mehrfach zur Situation über Armut, Umwelt und Krisen in der Welt zu Wort gemeldet („Die unterste Milliarde“, 2008, und „Gefährliche Wahl“, 2009). Mit dem Buch „Der hungrige Planet“ bezieht er eine ethische Position zu der Frage, wie es gelingen kann, dass wir Menschen, lokal und global, die ökonomischen und ökologischen Interessen in Einklang bringen können: Sein Vorschlag: „Nur, wenn wir die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen regulieren und uns technischen Innovationen nicht verschließen, werden die Länder der untersten Milliarde der Armut entkommen und auch in den Industrieländern Wohlstand und Umwelt für kommende Generationen bewahrt“. Er diskutiert das Problem im Spannungsfeld von Armut und Ausbeutung und zeigt das Dilemma auf, in dem sich der Mensch als Homo oeconomicus befindet. Mit der Frage: Ist Rohstoffreichtum für ein Land ein Segen oder ein Fluch? Die traditionelle volkswirtschaftliche Antwort darauf hat bisher unser ökonomisches Denken und Tun, zumindest in den so genannten Industrieländern gegeben. Der Autor unternimmt nun in seinen Forschungen eine Unterscheidung in agrarische und nichtagrarische Rohstoffe vor. Am Beispiel von Afrika zeigt er etwa auf, dass dabei differenziert werden muss zwischen kurz- und langfristigen Entwicklungen: Während für rohstoffexportierende Länder die globale Nachfrage nach Rohstoffen, etwa nach Öl, Metallen und seltenen Erden, zu wirtschaftlichem Wachstum und Erhöhung des Bruttoinlandsprodukts führt, zeigt sich bei den längerfristigen Prognosen, dass dieser aktuelle Rohstoffboom jedoch zum Nachteil für die ökonomische und politische Entwicklung der Gesellschaft und sogar zum Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung in der Bevölkerung wird. Woran liegt das? Der Autor analysiert dazu die jeweilige politische Situation in den Ländern und kommt zu dem Ergebnis: Es bestehen eindeutige positive und negative Relationen zwischen Ressourcenpolitik und -nutzung. Es ist also die Regierungsführung des jeweiligen Landes, die längerfristig dafür sorgen kann, ob es zu einem „Ressourcenfluch“ (als Schlüssel für schlechte Regierungsführung) bei der Rohstoffausbeutung, oder zu einem „Allmende“-Bewusstsein kommt: „Der Ressourcenfluch beschränkt sich ausschließlich auf nichtagrarische Rohstoffe. Agrarische Rohstoffe sind erneuerbar, während nichtagrarische sich erschöpfen“; was bedeutet, dass (auch) für Länder, die über natürliche Rohstoffe verfügen eine gute, demokratische Regierungsführung unabdingbar ist, um die Werte der Rohstoffe auch für die gesellschaftliche Entwicklung nutzen zu können. Mit einer „Ethik des Bewahrens“ [9]. wird damit ein Schlüssel angeboten, der zum Schloss einer „Ethik des Teilens“ [10] passen könnte. Obwohl in den zahlreichen, offiziellen, globalen Aktivitäten der Vereinten Nationen zur Verringerung des CO²-Ausstoßes und zur Reduzierung der Schäden, die zum Klimawandel führen, scheinbar wenig Fortschritte zu verzeichnen sind, bewirken Bewegungen wie „Commons“ [11] und „Divest!“ [12]eine zunehmende, lokale und globale Aufmerksamkeit.
Tragfähige Entwicklung = gesellschaftlicher Wandel
„Sustainable development“, tragfähigen Entwicklung, bedeutet ja nicht nur, dass dem ökonomischen Immer-mehr als immerwährendes, quantitatives Durchflusswachstum ein Stopp entgegengesetzt werden muss, sondern dass Entwicklung als qualitative Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen auf der Erde zu verstehen ist. Weil Entwicklung immer auch mit dem ökonomischen Fortschritt in Verbindung gebracht wird, bedarf es der Besinnung, was Fortschritt eigentlich bedeuten müsse, nämlich die Betrachtung, dass Fortschritt „eine Kombination von Bewegung und Richtung von einem Punkt zum anderen“ bedeutet [13]. Es gilt also nicht nur den Blick auf das ökonomische Wachstum zu richten, sondern gleichzeitig und gleichwertig darauf, wie es zu dem Perspektivenwechsel kommen kann, dass die ungerechte, lokale und globale Einkommens- und Vermögensverteilung hin zu einer gerechten Umverteilung möglich wird. Das würde bedeuten, dass die traditionellen Maßstäbe, wie sie nach wie vor als Bruttoinlandsprodukt und so genanntes freies Marktdenken und –handeln weltweit praktiziert werden, hin zu einer „Kultur der Kooperation und Partizipation unter dem Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung zu bewältigen“ [14]. Das hätte auch zur Folge, bisher eher unhinterfragte Prognosen und Konzepte, wie sie in den Wachstumsideologien der kapitalistischen und neoliberalen Systeme praktiziert und weitergetragen werden, radikal in Frage zu stellen [15]. Dabei müssen auch scheinbar „stimmige“, und in den Zeiten der Globalisierung als gültig propagierte Denk- und Handlungsweisen überprüft werden; auch der Vorschlag im Brundtland-Bericht von 1987, die Armut in der Welt durch eine weltweite, jährliche Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens um 3 Prozent zu reduzieren, gehört dazu. Eine Überprüfung dieses Ratschlags bedeutet, dass die zum Diskussionsprozess anlässlich der Weltkonferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro vorgelegten Argumentationen, bei den Zielsetzungen für eine „tragfähige Entwicklung“ die Wirkweisen von Entwicklung und Wirtschaftswachstum voneinander zu trennen. Der 3-Prozent-Vorschlag nämlich würde zur Folge haben, dass die anfangs jährlichen Pro-Kopf-Einkommenszuwächse statistisch für die Bevölkerung in den USA 633, für die Menschen in Äthiopien 3,60, für Bangladesh 5,40, für Nigeria 7,50, für China 10,80 und für Indien 10,50 Dollar betragen. Nach zehn Jahren würde dies bedeuten, dass das Pro-Kopf-Einkommen in Äthiopien um 41 Dollar, während es in den USA um 7.257 Dollar angewachsen wäre [16]. Dieses Beispiel zeigt auf, dass sowohl die Verfechter der „freien Marktwirtschaft“, als auch diejenigen, die zwar für „Marktwirtschaft“ plädieren, jedoch die „Marktgesellschaft“ ablehnen, umdenken müssen, hin zu einem anderen „Kapital“-Bewusstsein, das nicht allein auf Geld-, sondern vor allem auf Humankapital beruht [17].
Das ist prekär
Im Zusammenhang mit dem neuen, antikapitalistischen Denken wird ein Begriff eingeführt, der die Entwicklungen von Ausgegrenzt- und Abgehängtsein vom „guten Leben“ charakterisiert: Prekarität. Damit wird ausgedrückt, dass Arbeitslosigkeit, Erwerbslosigkeit und unzureichende Beschäftigungs- und Einkommensverhältnisse zu Perspektivlosigkeit, Armut, Passivität oder funktionalistischen Fehlverhalten führen. [18]. Diese globale, kapitalistische Entwicklung lässt sich am besten verdeutlichen, wenn wir einen Blick auf die kapitalistischen Unternehmensverhältnisse Hier und Heute richten. Im Wirtschaftsteil der Wochenzeitung DIE ZEIT wird eine Dokumentation darüber abgedruckt, unter welchen Bedingungen Menschen in einem deutschen DAX-Unternehmen beschäftigt sind. Es erinnere, so der Bericht, „eher an die Arbeitsbedingungen zur Frühzeit der Industrialisierung“. Es seien Bedingungen, bei denen Beschäftigte „wie Untertanen“ behandelt würden. In dem ZEIT-Bericht werden exemplarisch vier Menschen vorgestellt, die zwar bei adidas beschäftigt sind, jedoch von Leih-Firmen angeworben und „verwaltet“ werden:
Der Skandal des Reichtums
Das Grundrecht der Gleichheit, wie es als Menschenrecht in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, wie auch in den Verfassungen der demokratischen Staaten postuliert wird, bedeutet ja nicht, dass materiell jeder Mensch auf der Erde ein gleich hohes Kapitalkonto haben muss; es bedeutet aber, dass Chancengleichheit herrschen muss, damit jeder Mensch ein gutes, gelingendes Leben führen können muss. Eu zên, gut leben, ist nämlich eine anthropologische Voraussetzung dafür (Aristoteles). Wenn die Zahl der Ultrareichen stetig wächst, wie kürzlich im Wealth Report der Luxus-Marktforschungsfirma Wealth X zu lesen war, und die „Ultra high-net-worth-individuals“ in der Welt zusammen über ein Vermögen von etwa 28 Billionen US-Dollar verfügen, wovon knapp ein Viertel den insgesamt 2.170 Milliardären gehört [20], ist was faul in der Welt. Da ist angezeigt, nach den Wirklichkeiten in der Welt zu fragen und nachzufragen, ob die individualistischen und kapitalistischen Wirklichkeiten wirklich notwendig sind, oder ob es auch Alternativen dazu gibt [21]. Die Metapher „Lebe ich im falschen Leben?“ will ja zum Ausdruck bringen, dass sich im menschlichen Dasein etwas vollzieht, das nicht in meinem Denksystem, meinen Erwartungshaltungen und Erfahrungen vorhanden ist und überrascht, irritiert und verunsichert. Meist lässt sich das abtun mit der Auffassung: „Das bilde ich mir ja nur ein!“, oder: „Da wird mir etwas falsches vorgespielt!“. Kommt aber jemand, der fragt: „Könnte es nicht sein, dass die Welt, in der wir zu leben meinen, nichts anderes ist als eine einzige spekulative Fälschung?“, ist der Verstand gefordert. Diese Frage nämlich stellt der Psychiater, Psychotherapeut und Diplomtheologe Manfred Lütz, der in Köln das Alexianer-Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie leitet und bereits mehrere Bücher vorgelegt hat, in denen er gegen den Stachel von etablierten, akzeptierten und gängigen medizinischen und allgemeinen Meinungen und Auffassungen löckt, wie etwa mit seinem Buch „Irre! – Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen“ (2009). Er identifiziert unsere Lebensauffassungen, Einstellungen und Erwartungshaltungen als „Bluff!“, als einen gigantischen, gesteuerten und manipulierten Schwindel, einen Irrtum und die Vorspiegelung von Trugbildern und Scheinwelten. Als Psychiater ist er allerdings nicht der Meinung, dass die „Fälschung der Welt“ ein psychiatrisches Problem darstellt; vielmehr ist er der Auffassung, „dass wir alle unter machtvollen Einflüssen stehen, die uns daran hindern, die Welt so zu sehen, wie sie in Wirklichkeit ist, und dass diese Täuschung inzwischen gefährliche Ausmaße annimmt“. Damit nimmt er die Überzeugung auf, dass der Mensch ein zôon politikon, ein politisches Lebewesen ist, das, nach Aristoteles, in der Lage ist, vernunftgemäß zu denken und zu handeln und ein glückliches Leben nur in Verantwortung und Gemeinschaft mit den Mitmenschen zu führen [22].
Weltrisikogesellschaft [23]
Leben ist risikoreich! Die Auseinandersetzungen darüber, ob Risiken zum Leben gehören, oder eher Fehlschlüsse der Menschheitsgeschichte sind, ob sie naturgegeben oder menschengemacht sind, werden philosophisch, psychologisch, anthropologisch, politisch und soziologisch differenziert und kontrovers geführt [24]. Beim Versuch, Risiken zu erkennen, einschätzen und mit ihnen umgehen zu lernen, bietet sich dabei zum einen die wissenschaftliche Analyse an, mit der etwas festgestellt und bewertet wird, um die Diagnose in einem Gutachten, einem Regelwerk, einem Gesetz oder einer Handlungsanweisung umzusetzen; zum anderen sind es Versuche, das Wagnis einzugehen, sich ini einem gemeinsamen Entdeckungsprozess und Dialog auf die Suche nach der individuell und gesellschaftlich passenden und adäquaten Risikokompetenz zu begeben. Der Psychologe, Direktor des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung und des Harding-Zentrums für Risikokompetenz, Gerd Gigerenzer, macht er sich auf den Weg, anhand von einleuchtenden, eher alltäglich erscheinenden Beispielen und Erfahrungen aufzuzeigen, dass
- jeder den Umgang mit Risiko und Ungewissheit lernen kann (weil er in verständlicher Sprache deutlich und Mut macht, sich des eigenen Verstandes zu bedienen),
- Experten(meinungen) eher ein Teil des Problems als die Lösung sind (weil er verständlich macht, dass die Fähigkeit, Risiken zu verstehen, meist nicht mit Expertisen zu vermitteln ist),
- weniger mehr ist (weil er zu erklären vermag, dass Problemlösungen nur selten komplex und allumfassend möglich sind) [25].
Risikokompetent zu werden, nicht aus Angst oder Panikmache, sondern als eine menschliche Tugend, kann und muss also gelernt, erworben und erfahren werden. Dazu ist es notwendig zu erkennen, dass Risiko als lokaler und globaler Bestandteil des menschlichen, individuellen und gesellschaftlichen Daseins gilt und auf einer globalen Verantwortungsethik, einer transnationalen Gemeinsamkeitsethik und einer globalen Gewaltenteilung und Zusammenarbeit beruhen muss. Dies braucht Vertrauen in die Fähigkeit der Menschheit, ein gutes, gelingendes und gerechtes Leben aller Menschen zu ermöglichen [26].
Macht heute
Mächtigsein ist „ein Wirklichsein, das von der Möglichkeit her zu verstehen ist“. Diese einfache, aber auch missverständliche und interpretationsfähige Kennzeichnung darüber, dass jeder Mensch in irgend einer Form Herrschaft ausübt, als Herrschaft und Beherrschtheit über sich selbst bis hin zur Herrschaft über andere Menschen und Dinge. Als zôon politikon, als politisches Lebewesen, das von Natur aus mit Vernunft und dem Willen ausgestattet ist, in Gemeinschaft mit anderen Menschen zu leben und ein gutes Leben anzustreben, ist der Mensch Macht- und Moralwesen zugleich und es bedarf der Fähigkeit und Bereitschaft, Macht und Herrschaft im Sinne einer „Lebenskunst“ zu zähmen und allgemeinverträglich zu gestalten [27]. Eigentlich wäre es ganz einfach, legitime Machtausübung und Machtmissbrauch voneinander zu unterscheiden. Der Kantische Kategorische Imperativ, als allgemeinverständliche Anweisung lieferte dafür Anhaltspunkte genug: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg‘ auch keinem andern zu!“. Zu einer demokratischen Machtausübung gehören unabdingbar und unverzichtbar Verantwortung und Disziplin. Es ist die „Arroganz der Macht“, und es sind die machtpolitischen, ideologischen und materiellen Versuchungen und Verführungen, die Machtmissbrauch bewirken. Es sind „Formeln zur Macht“ (Wilhelm Fucks) und den Ruf nach einer geostrategischen, interkontinentalen und planetarischen Neubesinnung in der sich immer interdependenter, entgrenzender und globaler entwickelnden Welt immer lauter werden lassen. Der US-amerikanische Politologe Joseph Nye formuliert das Konzept einer intelligenten Machtstrategie, ,mit dem es gelingen könnte, eine neue Weltordnung zu schaffen, die Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit für alle Menschen bringt [28].
Aufforderung zur Dekolonisation des Denkens
Der Mensch ist ein evolutionäres, vom Bewusstsein seiner Geschichtlichkeit bestimmtes Lebewesen, der als zôon politikon (Aristoteles) ein homo historicus ist, wenn er sich seiner welthaften Existenz habhaft ist [29]. Bei der Frage, warum und wie der Kolonialismus entstanden ist und sich zu einer menschenrechtswidrigen Gewalttat in der Menschheitsgeschichte entwickelt hat, gibt es ganz unterschiedliche Auslegungen und Bewertungen. Wie der Diskurs um die Menschenrechte zeigt, wird längst nicht von allen Menschen und Mächten anerkannt, was in der Präambel der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte postuliert wird, dass nämlich „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“ [30]. Der Begriff „Postkolonialismus“ signalisiert ja verschiedene Annahmen: Da ist zum einen die Interpretation, dass die vergangene, imperiale und koloniale Dominanz von Ländern und Mächten über Individuen und Völker zwar vorbei ist, aber in anderen Formen wieder auflebt; und die andere, dass Machtstrukturen, die den Kolonialismus entstehen ließen, weiterhin bestehen und apodiktisch nach den gleichen Ideologien wie zu Zeiten des Kolonialismus wirken, als sich auch moralisch und human ummanteln. Die Aufforderung zur „Dekolonisation des Denkens“ [31] verbindet sich mit der Herausforderung, „Critical Whitness“ zu denken [32]. Die postkoloniale Kritik äußert sich dabei in zwei wesentlichen Ausprägungen: Die eine in dem Bemühen, die Entstehungsgeschichte(n) der imperialen und kolonialen Eroberungen und Besitznahmen objektiv und möglichst ideologiefrei aufzudecken, die andere mit dem geschärften, kritischen globalisierten Blick auf die kapitalistische Macht und Hegemonie Hier und Heute. Es ist die Auseinandersetzung mit den historisch-soziologischen, politischen, ökonomischen, kulturellen, individuellen und gesellschaftlichen Interdependenzen, Verflechtungen, Abhängigkeiten und Machtstrukturen, die durch den Kolonialismus entstanden sind, bis heute wirken und die Durchsetzung einer „globalen, allgemeingültigen globalen Ethik“ so erschweren [33].
Ein anderes Lebens- und Wirtschaftsmodell ist möglich
Sind Ökonomie und Ökologie die beiden verfeindeten Brüder in einem Ordnungssystem, das – human und anthropologisch – dazu beitragen soll, dass Menschen ein gutes Leben führen können? Wie kann es gelingen, bei den Menschen in der Welt ein Bewusstsein zu schaffen, dass der Mensch nicht für die Wirtschaft da ist, sondern die Wirtschaft für den Menschen? Was ist notwendig, um die Überzeugung zu vermitteln, dass die Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums auf der Erde erreicht sind? Was ist notwendig, um zu vermitteln, dass dem Immer-Weiter-Immer-Mehr-Denken des homo oeconomicus ein humanes, auf den Grundlagen einer „globalen Ethik“ beruhendes Denken und Handeln entgegengesetzt werden kann? Der Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, Mitglied der „Grünen“, Ralf Fücks, ruft mit seinem Buch „Intelligent wachsen“ zu einer „grünen Revolution“ auf. Dabei geht es ihm weder um eine ökologische Bußpredigt, noch um einen Verzicht-Appell; es ist vielmehr eine Sammlung von Argumenten gegen ein unverantwortliches „Weiter so“, und der Versuch, eine Synthese von Technik und Natur, von Mensch und Umwelt zu skizzieren, die Herkulesaufgabe anzugehen, die Natur nicht (weiter) auszubeuten, sondern sie in unsere Obhut zu nehmen und im Anthropozän geopolitisch und synergetisch Denken und Handeln zu lernen. Nur wenn es gelingt, dem „real existierenden kapitalistischen System“ eine „Politik der ökologischen Transformation“ entgegen zu setzen, bei der lokal und global sich ein Perspektivenwechsel hin zu einem „Green New Deal“ ausdrückt, kann es gelingen, eine bessere, gerechtere (Eine) Welt zu schaffen [34].
Hunger mehr als genug!
Wir nehmen zum Schluss dieser ausgewählten Literaturnachschau über den Diskurs um eine gerechtere und friedlichere Welt für alle Menschen auf der Erde, die anfangs thematisierten Argumentationen über den Skandal des Hungers und der Ungerechtigkeiten in der Welt auf, indem wir mit den Welt-Analysten und Warner, dem Schweizer Ökonomen, Globalisierungskritiker, langjährigen Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Menschenrecht auf Nahrung, Jean Ziegler [35], darauf verweisen, dass die Menschheit genug Möglichkeiten und Mittel hätte, Hunger in der Welt zu verhindern, dass ausreichend Nahrungsmittel zur Verfügung stünden, dass aber die kapitalistische Weltmarktpolitik, insbesondere die dominanten Mächte auf der Erde, Hunger schafften. Die Besichtigung der Welt zeigt, dass kapitalistisches, neoliberales, hegemoniales und neokoloniales Denken und Handeln in immer größerem Maße von lokal- und globalökonomischen und -politischen Strukturen und Strategien bestimmt wird [36]. Also machen wir uns auf! Denn, so Hans A Pestalozzi in seinem Buch „Nach uns die Zukunft“ (1979): Wwo kämen wir hin / wenn alle sagten / wo kämen wir hin / und niemand ginge / um einmal zu schauen / wohin man käme / wenn man ginge [37] Autor
Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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[1] Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte. Internationale Dokumente, Bonn 1981, S. 48ff
[2] Jos Schnurer, Der Club of Rome ist 40, 01.10.2008, in:
[3] World Commission on Environment and Development, Volker Hauff, Hrsg., Unsere Gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, Greven 19877, 421 S.
[4] Bundesumweltministerium, Agenda 21. Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro, Bonn, o. J. <1994>, S. 9
[5] Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt. Der Bericht der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ (1993 - 1995), 2., erweit. Ausgabe, Bonn 1997 (Kurzfassung), S. 18
[6] Klaus Hüfner, Die Vereinten Nationen und ihre Sonderorganisationen. Strukturen, Aufgaben, Dokumente, Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen / Deutsche UNESCO-Kommission, UN-Texte 35, Bonn 1986, 406 S.,
[7] https://de.wikipedia.org/Millenniums-Entwicklungsziele
[8] Asit Datta, Armutszeugnis. Warum heute mehr Menschen hungern als vor 20 Jahren, 2013,
[9] Paul Collier, Der hungrige Planet. Wie können wir Wohlstand mehren, ohne die Erde auszuplündern, 2011,
[10] Heinrich-Böll-Stiftung / Silke Helfrich, Hrsg., Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter, 2009, sowie: Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011,
[11] Silke Helfrich /Heinrich-Böll-Stiftung, Hrsg., Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, 2012,
[12] Felix Rohrbeck, Hold das Geld da raus! Wie lässt sich Klimawandel noch aufhalt en? Neue Bürgerinitiativen wollen Investoren zwingen, Kohle-, Öl- und Gaskonzernen das Kapital zu entziehen – und sie haben erste Erfolge damit, in: DIE ZEIT, Nr. 20 vom 13. Mai 2015, S. 21f
[13] André Brink, Doppelte Verantwortung, in: „Fortschritt für alle“, UNESCO-Kurier 12/1993, S-.29ff
[14] Harald Heinrichs / Katina Kuhn / Jens Newig, Hrsg., Nachhaltige Gesellschaft? Welche Rolle für Partizipation und Kooperation? 2011,
[15] David Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre, 2012,
[16] Robert Goodland / Hermann Daly / Salah El Serafy / Bernd von Droste, hrsg., Nach dem Brundtland-Bericht: Umweltverträgliche wirtschaftliche Entwicklung, Bonn 1992, S. 11f
[17] Louis Althusser, Das Kapital lesen, 2014,
[18] Thomas Lühr, Prekarisierung und ›Rechtspopulismus‹. Lohnarbeit und Klassensubjektivität in der Krise, 2011,
[19] Anne Kunze, Vier Menschen gegen drei Streifen. Wer für die Firma adidas in leuchtendem Trikot über den Fußballplatz läuft, kriegt dafür viel Geld. Doch Mitarbeiter in Niedersachsen werden behandelt wie Untertanen, DIE ZEIT, Nr. 21 vom 21. Mai 2015, S. 26f
[20] Heike Buchter, Ein Picasso, nur für mich, DIE ZEIT, a.a.o., S. 29
[21] Ulrich Duchrow, Gieriges Geld. Auswege aus der Kapitalismusfalle – Befreiungstheologische Perspektiven, 2013,
[22] Manfred Lütz, Bluff! Die Fälschung der Welt, 2012,
[23] Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, 2007,
[24] Herfried Münkler, Hrsg., Handeln unter Risiko. Gestaltungsansätze zwischen Wagnis und Vorsorge, 2010,
[25] Gerd Gigerenzer, Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, 2013,
[26] Markus Weingardt, Hrsg., Vertrauen in der Krise. Zugänge verschiedener Wissenschaften, 2011, ; vgl. auch: Martin Hartmann, Die Praxis des Vertrauens, 2011,
[27] Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 139ff; sowie: Martin Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 2009, S. 457
[28] Joseph Nye, Macht im 21. Jahrhundert. Politische Strategien für ein neues Zeitalter, 2011,
[29] Wolfgang Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, 2012,
[30] Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte. Internationale Dokumente, Bonn 1981, S. 48; vgl. dazu auch: Jan Eckel, Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern, 2014, ; sowie: Hans Joas, Sind die Menschenrechte westlich? 2015,
[31] Wolfgang Reinhard, Kleine Geschichte des Kolonialismus, 2008,
[32] Maureen Maisha Eggers / Grada Kilomba / Peggy Piesche / Susan Arndt (Hrsg.), Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, Münster 2005, 550 S.
[33] María do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, 2015,
[34] Ralf Fücks, Intelligent wachsen. Die grüne Revolution, 2013,
[35] Jean Ziegler, Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der dritten Welt, 2012,
[36] Stefano Liberti, Landraub. Reisen ins Reich des neuen Kolonialismus, 2012, ; sowie: Wilfried Bommert, Bodenrausch. Die globale Jagd nach den Äckern der Welt, 2012,
[37] vgl. dazu auch: Jos Schnurer, „Ist Geld die Quelle allen Übels – oder hat Geld immer recht?“ 22.11.2013, ; „Mauern sind keine Brücken“, 17.09.2013, ...168/php; „Die Zukunft hat begonnen“, 14.06.2013, .../157.php; sowie: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren‘“, 10.04.2015, https://www.sozial.de; „Deutschland ist ein Einwanderungsland“, 22.12.2014; „Rassistisch und fremdenfeindlich ist (nicht), was in der Gesellschaft normal ist“, 22.04.2014 (alle unter: Schnurers Beiträge)