Charlotte Zach

Die große Freiheit! – Coming of Age mit Behinderung

Die große Freiheit. Das ist, was die meisten jungen Menschen suchen. Die Konfettijahre. Ich hatte sie. Und sie waren so wichtig für mich und meine Entwicklung. Wichtig, weil sie für jeden jungen Menschen wichtig sind. Aber auch wichtig für mich als Teenager mit Behinderung. Sie waren wichtig für mein Selbstbild und für mein Selbstvertrauen. Durch sie wurde ich konfrontiert mit dem Dilemma der Selbstständigkeit, die rein physisch, rein praktisch für viele Menschen mit Behinderung keine sein kann, und doch irgendwie eine werden muss. Durch sie wurde ich konfrontiert mit meiner Verletzlichkeit, die durch meine körperliche Abhängigkeit sichtbar wurde. Aber auf eine bitter-süße Art und Weise. Es durfte meine Abhängigkeit feststellen auf dem Festival, mit Tetrapack-Wein in der Hand und beim leisen Gespräch nachts am Meer. Zwischen Festivals, tanzenden Nächten und Reisen in die großen Städte unserer Zeit, hatte ich Zeit, um zu verstehen, dass diesen Schmerz alle Menschen erfahren. Früher oder später. Aber der Reihe nach.

Mit 16 Jahren wechselte ich zur Oberstufe endlich die Schule. Bis dahin hatte ich dazu keine Möglichkeit, weil es im ganzen Landkreis nur ein barrierefreies Gymnasium gab. Und das besuchte ich. Doch das Oberstufengebäude einer anderen Schule hatte auch einen Fahrstuhl. Also wechselte ich. Das war eine gute Entscheidung; denn es folgte eine Zeit voller Menschen, voller Tanzen und Euphorie, voller Waghalsigkeit und Naivität. Es war ein Wendepunkt in meinem Leben.

Bis dahin war ich mehr Zuschauerin. Ich habe anderen Menschen dabei zugeschaut, wie sie gemeinsam Dinge erlebten, denn ich gehörte oft nicht dazu. Und weil man sich leicht daran gewöhnt, hatte ich über die Jahre meiner frühen Jugend eine Mauer um mich herum aufgebaut. Unabsichtlich. Sie dachten, ich sei anders? Ich dachte, ich sei anders.

 

Foto der Autorin Charlotte Zach im Nachtleben
Foto: Charlotte Zach

 

Aber dann kam die neue Chance. Die andere Zeit. Und auf einmal explodierte mein Leben. Auf einmal flogen die Klischees der Jugendjahre auf uns zu, sie prasselten auf mich ein, wie warmer Regen. Und ich warf den Kopf in den Nacken und streckte die Zunge raus. Alles war möglich. Erfahrbar. Erlebbar. Und dieser Regen legte sich wie ein dünner Schutzschild über mich, federte die nächste Einschnürung ab, die mir allmählich bewusst wurde.
Der erste große Knoten in mir war geplatzt. Es folgte bald ein neuer. Der Auszug-Unabhängigkeitsdruck-Knoten. Aber dieser erste gelöste Knoten war Voraussetzung für all jene danach.

Als junger Mensch mit Pflege- und Assistenzbedarf von zuhause auszuziehen ist eine Mammut-Aufgabe. Und ich war kein Mammut, sondern ein Ochs vorm Berg. Obwohl ich das Prinzip der Assistenz von der Schulbegleitung und später von der Uni-Assistenz schon kannte, konnte ich mir nur schwer vorstellen, mich jeden Tag von fremden Menschen pflegen zu lassen und bei dem Gedanken an gestresste, ausgelaugte, engstirnige und ruppige Pflegefachkräfte, die mich in 45 Minuten abwickeln wollen und mir um 18:00 h den Schlafanzug anziehen, weil es nicht anders in ihre Tour passt, schnürte sich mir die Kehle zu!

Die Alternative, die dazu im Raum stand, war das Persönliche Budget. Das bedeutet, Du bekommst nicht einen ambulanten Fachdienst, wie zum Beispiel einen Pflegedienst bezahlt, sondern wirst selber Arbeitgeberin. Du suchst dir die Personen aus, die dir im Alltag helfen sollen, stellst sie selber an und koordinierst, wann wer für welchen Zeitraum kommt. Das Persönliche Budget bedeutet für Menschen mit Assistenzbedarf maximale Selbstbestimmung und Kontrolle. Es bedeutet aber auch: Maximale Verantwortung, sehr viel bürokratische Arbeit und oft kein zweiter Boden. Wenn etwas in der Planung schief geht, gibt es keine größere Organisation im Hintergrund, die einen Ersatz schicken kann.

Viele Menschen sagten mir, ich solle zum Auszug aus meinem Elternhaus das Persönliche Budget beantragen. Gleichzeitig erzählten mir aber auch viele Menschen, wie schwer es ist, ein trägerübergreifendes Budget gegenüber dem Kostenträger durchzusetzen. Auch, wenn es offiziell gar keinen Unterschied machen darf, ob Du eine Teilhabeleistung als Sachleistung (also durch externe Professionelle) oder als Budgetleistung beantragst. Um von zuhause ausziehen zu können, musste ich 4 verschiedene Leistungen beantragen: Pflegesachleistungen der Pflegeversicherung, Hilfe zur Pflege beim Kostenträger der Kommune, Teilhabe an Bildung in Form von Eingliederungshilfe und soziale Teilhabe, also Freizeitassistenz. Später kam noch Arbeitsassistenz dazu. All diese Dinge musste ich beantragen, so oder so. Ganz schön viel für einen jungen Mensch, der grad mal ausziehen möchte. Kurz zuvor hatte ich bezüglich meiner Uniassistenz schon die Erfahrung gemacht, was für fiese Fragen einem als Antragstellerin gestellt werden und auf was für perfide Weise der eigene Bedarf in Frage gestellt wird: So wurde mir zum Beispiel die Frage gestellt, warum ich denn überhaupt in Präsenz zur Uni gehen wolle, das sei ja viel zu anstrengend und ich solle mich doch lieber an einer Online-Uni einschreiben. Wie exkludierend, anmaßend und destruktiv solche Vorschläge vom Kostenträger sind, können wir heute nach 2 Jahren Pandemie, Online-Uni und entsprechend katastrophalen Zahlen in der psychischen Gesundheit von Studierenden besser einschätzen, als je zuvor.

Solche Erfahrungen des Infragestellen der eigenen Existenzgrundlage machen richtig Angst. Angst in einer Zeit, in der ohnehin schon große Unsicherheit besteht, in der man nervös ist und mutig sein muss. Auch schon ohne Behinderung.

Ich war 19 Jahre und fragte mich: Wer hilft mir, mich anzuziehen? Mich zu duschen? Mir Essen zu machen? Existenzielle Fragen. Existenzielle Ängste. Und die große Angst zu versagen. Oder gar keine Wahl zu haben. Für immer eine Belastung zu sein.

Über allem hing wie ein Damoklesschwert das Szenario „Leben im Heim". Das Gegenteil von Selbstbestimmung. Das Gegenteil von Teilhabe. Das Gegenteil von Inklusion. Das Gegenteil von Normalität. Ich wusste schon damals, dass diese Szenarien traurige Wirklichkeit sind, dass es Menschen gibt, die jahrelang gegen ihren Willen in stationären Einrichtungen für Menschen mit Behinderung leben. Auf welchen Ebenen das alles problematisch ist, erzähle ich in einem anderen Text. Auf jeden Fall war es alles, was ich nicht war. Was ich nicht bin. Was ich nicht wollte. Ich wollte Studierendenleben. WG-Leben. Partys und Küchenpsychologie mit Rotweinglas in der Hand. Ich wollte Kunst und laute Musik. Und ich hätte mich nie getraut, darauf zu bestehen, das als realistisch zu betrachten, wenn ich nicht schon einen großen Probierhappen der großen Freiheit gekostet hätte.

Ich habe mich nicht für das persönliche Budget entschieden. Aber auch nicht für den überlasteten Pflegedienst. Ich habe mein eigenes Modell entworfen, in dem ich mir selbst junge Menschen suche, die als Assistenz für mich arbeiten können, oft als Nebenjob. Diese werden aber bei einem Leistungserbringer für mich angestellt. So gut die Idee des Persönlichen Budgets in der Theorie ist, in der aktuellen Praxis finde ich die Wahl, vor die man junge Menschen stellt, eine Frechheit: Entweder Dein Leben ist fremdbestimmt, voller Zwänge und Grenzüberschreitungen oder Du darfst ein selbstbestimmtes Leben führen, aber dann trägst Du zusätzlich zu der enormen bürokratischen Last mit Anfang 20 auch noch die volle Verantwortung einer Unternehmerin, nur damit Du in Deiner eigenen Wohnung wohnen kannst.

Mit Inklusion hat das für mich wenig zu tun. Ambulante Anbieter müssen einfach mehr nach dem Assistenzprinzip arbeiten und ihre Angebote individualisieren, wenn sie sich Inklusion auf die Fahne schreiben wollen.

Als Mensch mit Assistenzbedarf aus dem Elternhaus ausziehen ist ein langer Weg. Eine riesige Aufgabe. Neben den emotionalen und organisatorischen Herausforderungen, die es für jeden jungen Menschen bedeutet, ist man als Mensch mit Behinderung mit einer Vielzahl bürokratischer Hürden, institutioneller Diskriminierung, existenzieller Ängste und emotional tiefgreifender Fragen des Selbstbildes konfrontiert.

Aber es ist möglich. Und es lohnt sich. Es ist ein so wichtiger Schritt hin zu einem selbstbestimmten Leben als Erwachsener mit Behinderung. Heute gibt es dafür Beratungsstellen. Zum Beispiel die EUTBs. Und ich bin mir sicher: Es ist so wichtig, früh die Erfahrung von Freiheit zu machen. Von einem Hauch Unbesiegbarkeit. Nur so konnte ich mir selbst die Möglichkeit einräumen, ein selbstbestimmtes Leben als realistisch anzusehen.

Und selbst wenn ich an Scheißtagen noch die Einschnürungen längst gelöster Knoten spüre, weiß ich, keiner von ihnen hätte sich gelöst, ohne diesen ersten Happen Freiheit!

 

Weiterführende Infos:

Was ist Assistenz?

Was ist Assistenz?NITSA e.V. (nitsa-ev.de)