Eigentum verpflichtet!

von Dr. Jos Schnurer
18.02.2021

"Leiste was, dann hast du was" - Dieser alte Leitsatz scheint nicht mehr zu gelten. Dr. Jos Schnurer erklärt, weshalb dies zu einem Problem für Demokratie und Zusammenhalt werden kann. Aus seiner Sicht muss auch darüber nachgedacht werden, wie in Zukunft Erbschaften neu reguliert werden.

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Der Begriff „Eigentum“[i] kann als ein Phänomen verstanden werden, das in der Menschheitsgeschichte eine ähnliche, grundlegende Bedeutung einnimmt, wie der Begriff „Individuum“: Ich bin, wenn ich mich und Habe habe! Oder, wenn wir auf das antike, aristotelische Denken schauen, als oikeion, eigentümlich, „zur eigenen Person Gehörige“ gemeint ist[ii]. Logisch, und gleichzeitig zwangsläufig, erhält das Eigene (Materielle) im rechts- und sozialphilosophischen und politischen Denken existentielle wie ideologische Bedeutung. Es sind die Auffassungen von „Mein“ und „Dein“, wie sie in der Vernunftphilosophie von Immanuel Kant deutlich werden[iii]. Wie sie mit den Begriffen „Allgemeinnutz“, „Allmende“[iv] und „Commons“[v] zum Ausdruck kommen. Und wie sie als Kapitalismus- und Gesellschaftskritik artikuliert wird[vi]. Es sind die Auseinandersetzungen um individuelle und kollektive, lokale und globale Gerechtigkeit[vii]. Und es sind Fragen nach den demokratischen Verfasstheiten und Ordnungssystemen in der sich immer interdependenter und globaler entwickelnden (Einen?) Welt[viii].

Eigentum ist Menschenrecht

In der „globalen Ethik“, der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten, allgemeinverbindlichen und nicht relativierbaren „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“, heißt es in Artikel 17: „Jedermann hat das Recht, allein oder in Gemeinschaft mit anderen Eigentum zu haben“. Und das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland weist in Artikel 14 die Bedeutung des Eigentums aus: „(1) Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet… (2) Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“.  Damit sind wir bei einem strittigen, kontroversen Punkt im gesellschaftlichen Diskurs angelangt. Die Journalistin der Wochenzeitung DIE ZEIT und Autorin Elisabeth von Thadden wirft einen kritischen Blick auf Anspruch und Wirklichkeit des gesellschaftlichen Verständnisses eines gleichberechtigten, demokratischen Miteinanders. Sie verweist auf die lokal und global zunehmenden, egoistischen Entwicklungen und auf das Verschwinden von Empathie und Solidarität[ix]. Mit dem Beitrag „Das teure Nest“ macht sie darauf aufmerksam, dass die Eigentumsfrage in unserer Gesellschaft sich immer ungerechter entwickelt und sich in unserem Gemeinwesen ein immer größer werdendes Gefühl von Ohnmacht ausbreitet[x].

Die Autorin bezieht sich auf eine wissenschaftliche Studie der Leipziger Beratungs- und Forschungsfirma Empirica zur Wohn- und Eigentumsentwicklung in Deutschland. Demnach nehmen die Möglichkeiten von jüngeren Menschen rapide ab, durch selbst erbrachte Leistungen Eigentum erwerben zu können. Die explodierende (Boden- und Immobilien-)Preisentwicklung, vor allem in den urbanen Gebieten, machen es nahezu unmöglich, an Wohneigentum aus eigener Kraft heranzukommen: „Egal wie man rackert und spart, das Geld reicht nicht, um in einer der begehrten städtischen Wohnanlagen, von wo es nicht weit zu guter Arbeit und guten Schulen ist, mit denjenigen konkurrieren zu können, die geerbt haben oder das nötige Eigenkapital von einem freundlichen Großonkel geschenkt bekommen“.

Da tun sich Fragen nach dem vielbeschworenen Leistungsprinzip in der Gesellschaft auf. Das Sprichwort – „Leiste was, dann hast du was!“ – deutet sich um in: „Erbe was, dann hast du was!“. Das Recht auf Eigentum wird zum Generationenspiel, und zum ungerechten Verteilungsschlüssel! Schauen wir auf die Statistik: „Zwei Drittel des privaten Vermögens in Deutschland sind in der Hand von zehn Prozent der Bevölkerung“. Was bedeutet, dass in neun von zehn eigenen Haushalten die Wohlhabenden leben, während im unteren Drittel der Bevölkerung nur fünf Prozent eigene vier Wände haben. 20 bis 30 Prozent der Menschen in Deutschland verfügen weder über ein eigenes Vermögen, noch über eine Alterssicherung; sie haben auch nichts zu vererben. Das von der Deutschen Bank 1997 gegründete Institut für Altersvorsorge weist aus, dass in den Jahren 2015 bis 2024 rund drei Billionen Werte in Immobilien, Geldguthaben und Wertpapieren vererbt werden. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in den anderen kapitalistischen Ländern auf der Erde verändert sich das humane Verständnis von Gleichheit:  Die sowieso schon Wohlhabenden und Besitzenden werden immer reicher, und die Habenichtse und Besitzlosen ärmer. Der US-amerikanische  Philosoph Michael Sandel sieht in der kapitalistischen Entwicklung das Ende des Gemeinwohls gekommen. Er zeigt auf, dass es Lebensziele und Perspektiven gibt, die mit Geld nicht zu kaufen sind[xi].

Wer nichts hat, hat nichts zu entscheiden

 Mit der im Grundgesetz ausgewiesenen Sozialpflichtigkeit des Eigentums wird bewusst gemacht, dass materieller Besitz Gebrauchsgegenstand und Verantwortungsanspruch ist. Der Psychoanalytiker  Erich Fromm (1900 – 1980) hat einen Paradigmenwechsel weg vom „Haben“, hin zum Sein“ gefordert: „Die neue Gesellschaft und der neue Mensch werden nur Wirklichkeit werden, wenn die alten Motivationen – Profit und Macht – durch neue ersetzt werden: Sein, Teilen, Verstehen“[xii].  Diese vor fast einem halben Jahrhundert formulierten hoffnungsvollen und visionären Analysen haben heute nichts von ihrer Aussagekraft eingebüßt; ja, man wird sagen müssen: In den Zeiten des lokalen und globalen ego-, ethnozentrierten, nationalistischen, rassistischen und populistischen Denkens und Handelns sind diese Visionen notwendiger denn je!

Die Forderungen, dass sich die Menschen auf ihre Conditio Humana, auf Gerechtigkeit, Empathie, Nächsten-, Fernstenliebe und Altruismus besinnen müssten, verweisen auf Erwartungshaltungen, die es aktiv zu erfüllen gilt[xiii]. Der Soziologe von der Universität Köln, Jens Beckert, fordert in seiner Soziologie des Erbrechts: „Wir sollten Erbschaften infrage stellen“[xiv]. Nicht abschaffen, sondern die durch Nachlassenschaften entstehenden sozialen Ungleichheiten abmildern: Es sei schwer zu vermitteln, dass Einkommen aus der Arbeitsleistung höher besteuert wird als Einkommen, das aus Erbschaften kommt. Der vom britischen Ökonomen John Stuart Mill (1806 – 1873) geäußerte Verdacht, dass erben faul , inaktiv und unmoralisch macht, wird im existenzphilosophischen Diskurs sowohl als Argument für die Sozialpflichtigkeit von Erbschaften benutzt, wie auch als Beleg für deren Abschaffung angeführt. „Wenn Menschen erben, arbeiten sie weniger“ – das ermittelte der Regensburger Ökonom Fabian Kindermann in einer Studie; korrigierend dazu die Forschungsergebnisse der Ökonomen Karina Doorley und Nico Pestel, die herausfanden, dass männliche Erben nach der Gabe genau so viel arbeiteten wie vorher, aber Frauen weniger[xv].

Die nach wie vor lokal- und globalgesellschaftlich ungelöste Situation hat einige Aus- und Umwege aus dem Erbschaftsdilemma bewirkt; z. B., dass größere Vermögen nicht (direkt) an Erben vermacht werden, sondern in Stiftungen mit gemeinnützigen Zielen fließen; freilich nicht immer mit erhofften, solidarischen Ergebnissen, sondern als getarnte Einfluss- und Machtausübung und Tricks der Steuereinsparung auf Umwegen wirken[xvi]. Oder die als so genannte Kettenschenkungen „mit warmer Hand“ – von der Oma zum steuerfreien Teil an den Enkel und als steuerfreies Splitting an die Tochter, die den Betrag wiederum unverzüglich an den Enkel weiterreicht – so dass der Erbe eine eigentlich steuerpflichtige Schenkung ohne Abgaben einheimsen kann.

Fazit

Besitz ohne Verstand und Herz ist ein unnütz‘ Ding! Diese sprichwörtliche Lebensweisheit wird von Menschen seit Jahrtausenden formuliert – und missachtet[xvii]. Wohlhabenheit ist ein Menschenziel; aber nur dann, wenn der Wohlstand nicht ungerecht verteilt ist[xviii] .



[i] https://de.wikipedia.org/wiki/Eigentum

[ii] Ch. Pietsch, in: Otfried Höffe, Hrsg., Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 386ff

[iii] Karl Kehrbach, Hrsg., Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kant. Text der Ausgabe 1781/1787, Leipzig/Halle 1878, 703 S.; sowie: Oskar Negt, Politische Philosophie des Gemeinsinns, Bd. 2: Moral und Gesellschaft – Immanuel Kant, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27114.php   

[iv] Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter.2011, www.socialnet.de/rezensionen/11224.php

[v] Silke Helfrich / David Bollier, frei, fair und lebendig. Die Macht der Commons, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25797.php

[vi] Thomas Piketty, Kapital und Ideologie, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/26783.php; sowie: John Lanchester, Kapital. Roman, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14459.php

[vii] David Goeßmann / Fabian Scheidler, Hg., Der Kampf um globale Gerechtigkeit, 2019, www.socialnet.de/26334.php

[viii] Michael Hardt / Antonio Negri, Assembly. Die neue demokratische Ordnung, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/24249.php

[ix] Elisabeth von Thadden, Die berührungslose Gesellschaft, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/26783.php 

[x] Elisabeth von Thadden, Das teure Nest, DIE ZEIT, Nr. 6 vom 4. 2. 2021, S. 17           

[xi] Michael J. Sandel, Vom Ende des Gemeinsinns. Wie die Leistungsgesellschaft unsere Demokratien zerreißt, 2020; siehe auch: ders., Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/4242.php   

[xii] Erich Fromm, Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, Stuttgart 1976; siehe dazu auch: Jos Schnurer, 31. 1. 2019, https://www.sozial.de/geben-ist-besser-als-nehmen-die-welt-als-gemeingut.html  

[xiii] William MacAskill, Gutes besser tun. Wie wir mit effektivem Altruismus die Welt verändern können, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/20648.php

[xiv] DIE ZEIT, Nr. 6 vom 4. 2. 2021, S. 19; siehe dazu auch: „Unverdientes Vermögen“, Campus-Verlag 2004, 424 S. 

[xv] a.a.o., Roman Pletter / Kolja Rudzio: „Der 400-Milliarden-Euiro-Jackpot, S. 18

[xvi] a.a.o., Marcus Rohwetter / Marc Widmann, Mit warmer Hand gegeben, S. 18

[xvii] Christian Neuhäuser, Reichtum als moralisches Problem, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/24726.php

[xviii] Heide Gerstenberger, Markt und Gewalt. Die Funktionsweise des historischen Kapitalismus, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22315.php