Bunte Fäden
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Einfädeln

01.02.2023 | Kinder-/Jugendhilfe

Ich habe das Gefühl, dass mir ein Stück Zeit verloren gegangen ist. Irgendwie fehlt etwas. Der Februar beginnt, und ich hänge noch im Januar fest oder sogar im Dezember.
Normalerweise nehme ich mir Zeit für Übergänge, ich mag dieses innere und äußere Aufräumen, das Aussortieren am Ende eines Jahres und das Platz schaffen für Neues. Zwischen Weihnachten und Neujahr führe ich lange Telefonate, halte den Kontakt mit Menschen, die ich nur selten sehe, freue mich über Weihnachtspost, beantworte Briefe und nehme mir Zeit. Spätestens in der ersten Januarwoche bin ich am Träumen, stelle mir vor, das neue Jahr ist eine Landschaft, die ich bereise oder Gärten, die ich bepflanze.

In diesem Jahr sind wir nicht im Gleichklang, die Zeit und ich. Ich bin nicht im Takt und hinke der Zeit hinterher. Ich denke „einfädeln“, im Sinne von meinen Platz finden und Halt suchen im Lauf der Zeit. Was ist wirklich wichtig und wer ist mir wichtig? Schon lange habe ich mir keine To-Do-Liste mehr gemacht, jetzt hängt eine an meinem Kühlschrank, mit Namen von Menschen, die ich unbedingt noch anrufen möchte. Um Anja mache ich mir richtig Sorgen, weil sie auf meine letzte E-Mail nicht geantwortet hat. Ob sie noch krank ist? Oder ob sie sich von mir distanziert? Ob da noch ein kleiner Konflikt zwischen uns hängt, der geklärt werden sollte?

Auf meiner Stirn haben sich tiefe Sorgenfalten eingegraben. Sie blicken mir jeden Morgen im Badezimmer und tagsüber, wenn ich zufällig an einem Spiegel vorbeikomme, entgegen. Sogar im Schlaf scheinen sich meine Augenbrauen zusammenzuziehen, denn wenn ich aufwache, fühle ich Anspannung, denke: „und lösen“, als ob eine freundliche Physiotherapeutin aus meinem Körper heraus mit mir spricht. Mich positiv auf einen neuen Tag einzustimmen ist gar nicht so leicht, wenn ich die Abendnachrichten noch im Ohr habe. Die Bilder der Zerstörung durch Kriege und Maßlosigkeit sitzen fest in meinem Kopf und ich fühle mich hilflos, wenn politisch Verantwortliche die Zerstörung vorantreiben und die Falschen kriminalisiert werden. Aber was kann ich tun, und wo ist Platz?
Um nicht zu versinken, schalte ich um, betrete meine kleine Welt, und lebe meinen Alltag, kaufe immer noch wiederbefüllbare Pfandflaschen aus Glas und trenne den Hausmüll und kaufe erst dann etwas Neues, wenn ich etwas Gebrauchtes abgegeben habe. Ich kann halt nicht anders.

Und wenn ich dann einen Hausbesuch mache, bin ich ganz in meinem Job. Ich fühle mich wirksam, wenn ich hilfreich sein kann, wenn ich die emotionalen Ressourcen einer Familie erkenne und ich sie gegenüber Eltern und Kindern auch deutlich benennen kann. Denn Wertschätzung fördert das Wachstum. Ich freue mich wenn Eltern ihre Haltung ändern, wie zum Beispiel Herr Hemel, der beim letzten Termin sagte: „Ella ist Ella, und sie ist in Ordnung so wie sie ist. Wir haben entschieden, den Druck der Schule nicht weiterzugeben. Wir werden uns jetzt mehr Zeit füreinander nehmen, und ich will verstehen, wie es meiner Tochter wirklich geht“.

Ich ziehe Kraft aus meiner Arbeit, wenn sie erfolgreich ist und wenn ich zufrieden bin. Mehr als zufrieden war ich auch mit meiner ersten Prüfungsleistung als angehende IseF, als Fachberaterin im Kinderschutz. Die Erzieherin, die zu mir in die Beratung kam, war ganz beseelt, weil sie sich nach dem Gespräch mit mir wieder handlungsfähig und handlungssicher fühlte, und mit einem guten Plan in das anstehende Elterngespräch gehen konnte.

Mein Diensthandy blinkt- Terminabsage, weil die Kinder von Familie B krank geworden sind. Ich nehme es als Zeitgeschenk. Immerhin 4 Stunden mit Wegezeit. Ich rufe Anja an. Es geht ihr gut, nur ein Stück Zeit scheint ihr zu fehlen, weil sie recht lange mit Corona zu tun hatte und als es ihr dann endlich besser ging, hatte sie einen Fahrradunfall und brach sich zu allem Überfluss auch noch den Arm. „Wir sollten mal wieder ans Meer fahren“, sagt sie, „Durchatmen. Aufatmen. Windbaden“. Ich habe noch Zeit und suche nach einer passenden Bahnverbindung.

Ihre Katja Änderlich