Erhebliche Belastungen für chronisch kranke Menschen zu befürchten
Organisationen der Sozialen Arbeit im Gesundheitswesen kritisieren Empfehlungen zur Vermeidung des Anstiegs der Krankengeldausgaben
Die Vorschläge des neuen Sondergutachtens des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen zur Neuregelung der Mitwirkungspflichten nach § 51 SGB V sind nach Einschätzung der Deutschen Vereinigung für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen (DVSG) und der Arbeitsgemeinschaft Soziale Arbeit in der Onkologie (ASO) in ihren sozialen Auswirkungen problematisch und führen zur einseitigen Belastung der betroffenen Menschen. Obwohl der Sachverständigenrat in seiner Analyse zum Wachstum der Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung für Krankengeld zur Einschätzung kommt, dass es sich dabei um keine dramatische budgetäre Entwicklung handele empfiehlt das Expertengremium dem Gesetzgeber zur Einsparung von Krankengeldzahlungen weitergehende Einschränkungen der bisherigen Rechte verschiedener Gruppen von Leistungsbeziehern. Die Umsetzung dieser Empfehlungen würde für chronisch kranke Menschen und besonders vulnerable Patientengruppen, wie etwa Krebspatienten, psychisch er-krankte Menschen oder Patienten mit fortschreitenden neurologischen Erkrankungen, eine erhebliche Zunahme ihrer wirtschaftlichen, sozialen und psychischen Belastungen bedeuten. Bereits heute sind die Versicherten, deren Erwerbsfähigkeit nach ärztlichem Gutachten erheblich gefährdet oder gemindert ist, gesetzlich verpflichtet, bei ihrem zuständigen Rentenversicherungsträger innerhalb einer Frist von zehn Wochen einen Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation und zur Teilhabe am Arbeitsleben zu stellen. Kommen sie dieser Mitwirkungspflicht nicht nach, entfällt der Anspruch auf Krankengeld. Die Anwendung der bisherigen gesetzlichen Vorschrift führt also jetzt schon zu einer deutlichen Einschränkung des Entscheidungsspielraums von Versicherten. Nach Aufforderung zur Reha-Antragstellung durch die Krankenkasse hat der Patient keine freie Wahl mehr über seine zukünftig zu beanspruchende Entgeltersatzleistung. Die Vorschläge des Sachverständigenrates zielen auf eine Verschärfung der bestehenden Mitwirkungspflichten, insbesondere auf eine Verkürzung der Reha-Antragsfrist auf vier Wochen. Dies ist aus der Sicht von DVSG und ASO nicht notwendig. Erfahrungen aus der sozialen Beratung onkologischer und chronisch kranker Patienten zeigen, dass Krankenkassen bereits jetzt schon sehr früh während einer noch laufenden Akutbehandlung zur Reha-Antragstellung auffordern. Oft kann in dieser Phase noch keine treffende Aussage über die Erwerbsprognose gestellt werden. Der Druck auf die Patienten so frühzeitig eine Rehabilitationsmaßnahme zu beantragen, kollidiert ohnehin mit Vorschriften aus dem Rentenversicherungsrecht, nach der Rehabilitationsleistungen durch die Renten-versicherungsträger während einer noch nicht abgeschlossenen Akutbehandlung nicht übernommen werden können. Dass dennoch in diesen Phasen Aufforderungen zur Beantragung einer Rehabilitationsmaßnahme ergehen, entspricht eher der Kostenträgerlogik als der angemessenen medizinischen Würdigung des Einzelfalles und dient in erster Linie der frühzeitigen Sicherung möglicher Erstattungsansprüche durch die Krankenkasse gegenüber dem Rentenversicherungsträger. Das Argument, dass die Verkürzung der Frist eine schnellere Einleitung des Rehabilitationsverfahrens ermöglicht, trägt in der Praxis nicht. Insbesondere in der Onkologie sind Sozialdienste regelmäßig damit beschäftigt, Rehabilitationsverfahren, die nach Aufforderung von Kostenträgern zu früh eingeleitet wurden, zu verschieben, weil die Patienten noch einer Akutbehandlung bedürfen. Menschen, die sich aufgrund einer schweren oder chronischen Erkrankung an der Schnittstelle zwischen Krankengeld und Erwerbsminderungsrente befinden, sind in der Regel extrem belasteten Lebenssituationen und zeitweise existentiellen Krisen ausgesetzt. Die Grundannahme des Sachverständigenrates, dass Versicherte in dieser Situation dazu neigen, sich aufgrund von Fehlanreizen des Systems für die wirtschaftlich attraktivste Leistung zu entscheiden, entspricht nicht den Erfahrungen aus der sozialen Beratungspraxis. In einer akuten Krankheitssituation stehen der Erhalt oder die Wiederherstellung der Gesundheit, also Prozesse der Krankheitsbewältigung und der Verarbeitung, der mit einer Krankheit verbundenen hohen Belastungen, im Vordergrund. Patienten sind selten mit den Besonderheiten des sozialen Sicherungssystems und dem Nebeneinander von konkurrierenden Entgeltersatzleistungen vertraut. Aktive Entscheidungen auf der Grundlage hinreichender Informationen über das Sozialrecht sind die Ausnahme. Betroffene benötigen häufig sämtliche persönlichen und sozialen Ressourcen, um die Anpassungsleistungen an eine akute oder dauerhaft chronische Belastungssituation zu bewältigen. Schwer erkrankten Patienten fehlen in belastenden Krankheits- und Therapiephasen häufig die Kompetenz und Energie, sich für die Verwirklichung ihrer sozialrechtlichen Ansprüche in der Auseinandersetzung mit Leistungsträgern in angemessener Form einzusetzen. Gleichzeitig erfahren chronisch und schwer kranke Menschen sehr deutlich, dass durch eine langfristige Erkrankung die Risiken einer Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz gestiegen sind. Überlegungen, wie in diesen Belastungsphasen der individuelle Lebensstandard gesichert und eine finanzielle Notlage vermieden werden kann, sind legitim. Sozialdienste weisen schon länger darauf hin, dass für längerfristig erkrankte Menschen die Armutsgefahr sehr hoch ist. Diese ist beispielsweise auch auf sozialpolitische Fehlentwicklungen, wie der seit 2001 deutlich verringerten Erwerbsminderungsrenten, zurückzuführen. Download der Stellungnahme zum Sondergutachten 2015 unter http://dvsg.org/hauptnavigation-links/publikationen/stellungnahmenpositionen/Quelle: Pressemitteilung der Deutschen Vereinigung für Soziale Arbeit im Gesundheitswesen e.V. (DVSG) vom 18.12.2015