1. öffentliches Hearing „Kindesmissbrauch im familiären Kontext“
Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hörte vor wenigen Tagen Betroffene, Angehörige, Expertinnen und Experten zum Schwerpunkt Kindesmissbrauch in der Familie im Rahmen eines Hearings in Berlin öffentlich an. Das Hearing war eine medienöffentliche Fachveranstaltung. Es sprachen Betroffene, Angehörige, Expertinnen und Experten über Kindesmissbrauch in der Familie. Es sollte auf das Tabuthema Kindesmissbrauch aufmerksam machen und den Dialog zwischen Betroffenen, Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie der Gesellschaft fördern.
Die Kommission ist international die erste Kommission, die sexuellen Kindesmissbrauch auch innerhalb der Familie und nicht nur in institutionellen Einrichtungen in den Blick nimmt. Ihre Vorsitzende, Prof. Dr. Sabine Andresen, sagte im Vorfeld des Hearings: "Die Erkenntnisse aus den Gesprächen mit Betroffenen führen uns vor Augen: sexuelle Gewalt in Familien geht uns alle an. Die Familie ist ein wichtiger Teil unseres gesellschaftlichen Lebens. Dass Mädchen und Jungen gerade dort sexuelle Gewalt erleben, wo sie Liebe und Fürsorge erwarten und benötigen, ist keine „Privatsache". Dies hat die Kommission dazu motiviert, im ersten Jahr ihrer Arbeit mit Aufarbeitung im familiären Kontext zu beginnen. Betroffenen Kindern und Jugendlichen wird es schwer gemacht, Hilfe zu bekommen. Wenn sie über den Missbrauch sprechen, stoßen sie oft auf Unverständnis in ihrer Familie und auch im gesellschaftlichen Umfeld. Durch den Prozess der Aufarbeitung wollen wir zur Anerkennung erlittenen Unrechts beitragen und ein gesellschaftliches Bewusstsein für das Ausmaß von sexuellem Kindesmissbrauch und für die gesellschaftliche Verantwortung schaffen.
Sexueller Kindesmissbrauch findet vor allem im familiären Umfeld statt, das spiegeln auch die Anmeldungen für vertrauliche Anhörungen bei der Kommission, so Andresen. Von den rund 590 Anmeldungen für vertrauliche Anhörungen betreffen 370 Anmeldungen den familiären Kontext und das soziale Umfeld. Des Weiteren liegen rund 100 schriftliche Berichte von Betroffenen vor, die zu zwei Dritteln ebenfalls den familiären Kontext betreffen: In der Mehrzahl der Fälle findet der Missbrauch durch den Vater statt, doch auch andere männliche Familienmitglieder werden als Täter genannt. In einigen Berichten geben Betroffene die Mutter als (Mit-)Täterin an. Viele Betroffene berichten außerdem davon, dass sie Missbrauchserfahrungen in verschiedenen Kontexten und durch verschiedene Täter und Täterinnen erfahren haben.
Um dieses Phänomen zu verstehen, ist es wichtig zu hinterfragen, was den Sozialraum Familie von anderen Institutionen wie Schulen, Heimen und Kirchen unterscheidet, aber auch wo Parallelen bestehen. Warum wird Kindern und Jugendlichen von Angehörigen wie von Außenstehenden oft nicht geglaubt? Wie können Fachberatungsstellen, Familiengerichte und Jugendämter sie besser schützen? Warum wird die Gewalt verschwiegen und verdrängt? Wie kann sich ein gesellschaftlicher Wandel entwickeln, der den so wichtigen Lebensbereich „Familie" für Kinder und Jugendliche sicherer macht? Diese und andere Fragen standen zur Debatte.
Aus den bisher durchgeführten vertraulichen Anhörungen hat die Kommission einen intensiven und persönlichen Eindruck hinsichtlich der Folgen des Missbrauchs für Betroffene sowie der Bedürfnisse von Betroffenen gewonnen. Die Kommission hat viele Betroffene erlebt, die aufgrund der schweren Folgen, die sie durch den Missbrauch erlitten haben, in prekären Verhältnissen leben. Für sie ist eine schnelle, möglichst unbürokratische Hilfe wichtig. Dazu gehören finanzielle Entschädigungen, aber auch medizinische und therapeutische Versorgung sowie juristische Beratung. Das bisherige Entschädigungsverfahren im Rahmen des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) ist sehr komplex und langwierig. Es wird von den Betroffenen häufig als erneute Rechtfertigung, Belastung und Stigmatisierung empfunden.
Johannes-Wilhelm Röhrig, Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs und Ständiger Gast der Kommission, appelliert an die nächste Bundesregierung, die wichtige Arbeit der Kommission auch über März 2019 zu gewährleisten und hierfür die finanziellen und zeitlichen Rahmenbedingungen zu schaffen. Aufarbeitung sei ein langer Prozess, es brauche Zeit, bis Betroffene Vertrauen fassten und eine Gesellschaft aus ihren Versäumnissen und Fehlern lerne.
Betroffene und andere Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die an einer vertraulichen Anhörung teilnehmen oder einen schriftlichen Bericht einreichen möchten, können sich telefonisch (0800 4030040 – anonym und kostenfrei), per E-Mail oder Brief bei der Kommission melden (Kontakt unter www.aufarbeitungskommission.de)
Quelle: Pressemitteilung derUnabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs vom 31. Januar 2017