Forschungsbericht zur Rechtlichen Betreuung in Deutschland: Gutes Niveau mit strukturellen Defiziten
Wie gut ist in Deutschland die rechtliche Betreuung für Menschen, die aufgrund von Krankheit oder Behinderung ihre rechtlichen Angelegenheiten nicht alleine regeln können? Dieser Frage ist das Forschungsvorhaben „Qualität in der rechtlichen Betreuung" nachgegangen. Für die Studie wurden über 5.000 berufliche und ehrenamtliche Betreuerinnen und Betreuer, Gerichte, Verwaltungen und Betreuungsvereine befragt. Hinzu kamen Fallstudien und Experteninterviews. Darüber informiert die TK Köln:
Das Projekt des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik Köln (ISG) in Kooperation mit Prof. Dr. Dagmar Brosey und einem Team der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der TH Köln wurde vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz in Auftrag gegeben. Grundlage der Forschungen ist ein Qualitätskonzept für die rechtliche Betreuung, das die Forscherinnen und Forscher auf Basis der einschlägigen rechtlichen Regelungen des Betreuungsrechts und der UN-Behindertenkonvention definiert haben. „Dabei bildet die sogenannte ‚unterstützte Entscheidungsfindung' einen wichtigen Schwerpunkt: Die gerichtlich bestellten Vertreter sollen die betroffenen Menschen zu einem selbstbestimmten Leben nach eigenen Wünschen und Vorstellungen unterstützen. Ein Handeln ohne oder gegen den Willen muss eine sehr gut begründete Ausnahme sein", erläutert Prof. Dr. Dagmar Brosey vom Institut für Soziales Recht der TH Köln.
Struktur: Nebeneinander von ehrenamtlicher und beruflicher Betreuung
Die Zahl der bestehenden rechtlichen Betreuungen in Deutschland wird statistisch nicht erfasst. 2015 wurden schätzungsweise rund 1,25 Millionen Menschen betreut – größtenteils von Angehörigen oder Berufsbetreuenden. So unterstützen etwa 537.000 ehrenamtliche Betreuende jeweils einen Angehörigen. Rund 16.000 Berufsbetreuende sind für insgesamt rund 587.000 Menschen tätig. Zudem kümmern sich ehrenamtliche Fremdbetreuer um Betroffene.
Die Studie des ISG und der TH Köln zeigt, dass die Berufsbetreuenden hoch qualifiziert sind: 73 Prozent haben eine akademische Ausbildung, zwei Drittel langjährige Berufserfahrung und zwei Drittel zudem Vorerfahrungen aus Praktika oder ehrenamtlichem Engagement. Ihre Kenntnisse im Kernbereich des Betreuungsrechts schätzen 90 Prozent der Berufsbetreuenden als gut ein. Viele Ehrenamtliche berichten hingegen von unzureichenden Informationen und Kenntnissen: Fast zwei Drittel der Angehörigen gab an, zumindest manchmal das Gefühl zu haben, in bestimmten Bereichen über zu wenig Fachwissen zu verfügen.
Ein anderes Bild zeichnet die Frage nach einer ausreichenden Anzahl von qualifizierten Berufsbetreuenden: Ein Viertel (25 Prozent) der Betreuungsbehörden und 37 Prozent der Betreuungsgerichte geben an, dass es in ihrem Zuständigkeitsbereich nicht ausreichend viele qualifizierte Berufsbetreuende gibt.
Qualität: Auf den Kontakt kommt es an
Die Qualität des Betreuungsprozesses hängt ganz wesentlich von der Häufigkeit und der Qualität des persönlichen Kontakts ab. Mehr als die Hälfte (57 Prozent) der Berufsbetreuenden geben an, so gut wie alle ihre Betreuten im letzten Quartal getroffen zu haben; allerdings sagen auch 15 Prozent, dass sie weniger als 60 Prozent ihrer Klienten in diesem Zeitraum gesehen haben. In der ehrenamtlichen Betreuung werden der Umfrage zufolge deutlich häufiger persönliche Kontakte gepflegt: Mehr als 90 Prozent der Angehörigen sehen ihre Betreuten mindestens monatlich, auch wenn sie nicht im gleichen Haushalt leben.
Die unterstützte Entscheidungsfindung, bei der die Eigenverantwortung gefördert wird, wird von mehr als der Hälfte) 57 Prozent der Berufsbetreuenden im Alltag oft oder sehr oft umgesetzt, von weiteren 35 Prozent manchmal. Wenn diese Vorgehensweise nicht möglich ist, dann häufig, weil die Betreuten wollen, dass für sie entschieden wird (45 Prozent), oder weil die Zeit fehlt (40 Prozent). Letzteres ist insofern wichtig, weil eine ebenfalls durchgeführte Zeitbudgeterhebung zum Ergebnis gekommen ist, dass Berufsbetreuerinnen und Berufsbetreuer im Durchschnitt 24 Prozent mehr Zeit für die Betreuungsführung aufwenden als sie vergütet bekommen.
„Insgesamt bleibt festzuhalten, dass vielen Betreuenden, ob beruflich oder ehrenamtlich, der hohe Stellenwert der Autonomie und Selbstbestimmung durchaus bewusst ist. Ob dies aber immer auch gelebt wird, konnten wir nicht sicher feststellen", sagt der wissenschaftliche Mitarbeiter Alexander Engel vom Institut für Soziales Recht.
Die Fallstudien zeigen, dass viele Betroffene ihre rechtliche Betreuung als Verbesserung ihrer Lebensumstände wahrnehmen. „Die Auswertung aus rechtlicher, sozialarbeiterischer und psychologischer Perspektive macht aber auch deutlich, dass Konzepte und Methoden zur Unterstützung der Entscheidungsfindung weiterentwickelt und angewendet werden müssen. Dadurch kann die Kommunikation mit den Betroffenen sicher verbessert werden", erläutert Dr. Renate Kosuch, Professorin für Psychologie an der TH Köln.
54 Handlungsempfehlungen
Auf Grundlage ihrer empirischen Erkenntnisse leiten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler insgesamt 54 Handlungsempfehlungen ab, um die Qualität in der rechtlichen Betreuung in Deutschland dauerhaft zu sichern und zu verbessern. So führt der Forschungsbericht auf, dass es zurzeit keine bundeseinheitlichen und klar überprüfbaren Qualifikationsanforderungen an die Berufsbetreuenden gibt. Das Forschungsteam vermutet jedoch, dass die Einführung von gesetzlich definierten Kriterien, verbunden mit einem Zulassungsverfahren, die Güte der professionellen Betreuung langfristig verbessern würde.
„Als Teil unserer Studie wurden Zeitbudgets der Berufsbetreuenden erhoben und festgestellt, dass die durchschnittliche tatsächliche Arbeitszeit (4,1 Stunden pro Betreuung) erheblich über den gesetzlichen Stundenansätzen (3,3 Stunden pro Betreuung) liegt und damit sehr viel unvergütete Arbeit geleistet wird. Hier besteht dringender Handlungsbedarf, andernfalls droht eine Abwanderung qualifizierter beruflicher Betreuer", sagt Brosey. Überdies muss gewährleistet sein, dass das Vergütungssystem ausreichende zeitliche Ressourcen für unterstützte Entscheidungsfindung bereitstellt.
Bei den ehrenamtlichen Betreuenden sollen die fachliche Qualifikation und Unterstützung durch die bundesweit über 800 Betreuungsvereinen sichergestellt werden. „Die Arbeit dieser Vereine ist entscheidend für eine gute ehrenamtliche Betreuung. Daher muss eine angemessene Finanzierung dauerhaft sichergestellt sein", betont Engel. Die Studie zeige hier erhebliche Mängel auf. Darauf aufbauend sei zu erreichen, dass die Ehrenamtlichen die wichtigsten rechtlichen und psychosozialen Kenntnisse für die Betreuung rasch erwerben, in regelmäßigen Abständen auffrischen und bei ihrer Tätigkeit fachlich begleitet werden.
Studiendesign
Aus dem für die Studie entwickelten Qualitätskonzept leiteten nach eigenen Informationen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler insgesamt 134 Indikatoren ab, die sie empirisch überprüften. Die dafür erstellten Fragebögen beantworteten insgesamt 2.460 Berufs- und 1.324 ehrenamtliche Betreuende sowie über 1.300 Betreuungsvereine, Verwaltungen von Amtsgerichten, Richterinnen und Richter, Betreuungsbehörden sowie Rechtspflegerinnen und -pfleger. An der Zeitbudgeterhebung beteiligten sich 215 Berufsbetreuende, die den Zeitaufwand ihrer Fälle dokumentierten. In 68 Fallstudien wurden sowohl die bzw. der Betreute als auch die jeweiligen Betreuenden befragt. Zudem wurden zehn Experteninterviews geführt.
„Dieser Methodenmix war notwendig, weil wir es im Feld der rechtlichen Betreuung mit einer großen Vielzahl sehr unterschiedlicher Akteure zu tun haben. Zudem ist jeder Fall individuell, was die Komplexität der Forschungen noch einmal erhöht", erläutert Brosey und ergänzt: „Besonders wichtig war uns, über die Fallstudien auch die Perspektive der Betreuten selbst einzubeziehen und ihnen damit eine Stimme zu geben."
Der gesamte Forschungsbericht sowie ein Kurzbericht sind zu finden auf www.bmjv.de/DE/Service/Fachpublikationen/Fachpublikationen_node.html
Quelle: Presseinformation der TH Köln vom 22. Mai 2018