Forschungsprojekt zu mehr Gerechtigkeit nach sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend
Betroffene sexuellen Kindesmissbrauchs haben nicht nur Leid erlebt, sondern auch massives Unrecht. Dies auf persönlicher, gesellschaftlicher oder rechtlicher Ebene anzuerkennen, könnte für sie gerechtere Lebensverhältnisse schaffen. Ein Forschungsprojekt zeigt hierfür Vorschläge auf.
Ein von der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs gefördertes Forschungsprojekt ist der Frage nachgegangen, wie es für Betroffene nach der Gewalterfahrung mehr Gerechtigkeit geben kann. Heute wurde der Abschlussbericht der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Forschungsinstituts zu Geschlechterfragen Freiburg – SoFFI F. unter Leitung von Prof. Dr. Barbara Kavemann veröffentlicht. Er stellt konkrete Vorschläge vor, wie Schritte auf dem Weg zu etwas gerechteren Lebensverhältnissen aussehen könnten, auch wenn das Unrecht nicht ungeschehen gemacht werden kann.
„Für Betroffene gibt es nicht den einen Weg zu mehr Gerechtigkeit nach der erlebten Gewalt“, stellt Prof. Dr. Barbara Kavemann fest. „Worum es ihnen allen aber geht, ist die Anerkennung des Unrechts und seiner Auswirkungen. Gerechtigkeit herzustellen bedeutet darüber hinaus eine konkrete Verbesserung ihrer Lebenssituation, die bis in die Gegenwart von den Folgen der Gewalt in Kindheit und Jugend geprägt sein kann. Betroffene sollten nicht als Bittsteller angesehen werden. Stattdessen muss ihr Anspruch auf passende Hilfen und auf geeignete Möglichkeiten des Nachteilsausgleichs anerkannt werden. Die Entscheidung, welche Schritte zu mehr Gerechtigkeit für sie sinnvoll sind, müssen Betroffene dabei selbst treffen dürfen. Die Gesellschaft muss ihnen entsprechende Angebote machen. Im Forschungsprojekt wurden hierfür konkrete Vorschläge entwickelt“, so Kavemann.
Anerkennungsforum
Viele Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs werden nicht im Rahmen eines Strafverfahrens verhandelt, beispielsweise weil sie verjährt sind oder Betroffene sich der enormen Belastung eines solchen Verfahrens nicht aussetzen wollen oder können. Da zumeist auch andere Formen von Sanktionen der Täter und Täterinnen – durch Institutionen, Familien oder das soziale Umfeld – ausbleiben, wird weder das durch die Betroffenen erfahrene Unrecht anerkannt noch benannt, wer dafür die Verantwortung trägt. Das könnte stattdessen durch einen öffentlichen symbolischen Akt erreicht werden: ein Anerkennungsforum. Dieses bietet Betroffenen einen selbstbestimmten Raum, von ihren Erfahrungen zu berichten.
Gedenkort
Ein Gedenkort soll den Geschichten Betroffener einen Platz geben und die Gesellschaft an vergangenes Unrecht erinnern. Er darf an keine Institution gebunden sein, er muss unabhängig und für alle Tatkontexte offen sein. Es soll ein lebendiger Ort sein, der mehr ist als ein Denk- oder Mahnmal, das besucht werden kann und daher auch für Veranstaltungen und Projekte genutzt werden sowie ein Dokumentations- und Forschungszentrum zum Thema sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend umfassen. Dieser Ort soll ein Gefühl von Zugehörigkeit vermitteln, von „Du bist nicht allein“. Zudem soll er die Vielfalt der Betroffenen sichtbar machen und damit gegen Opferklischees, Tabuisierung und Stigmatisierung angehen.
Schriftliche Anerkennung
Diesem Vorschlag liegt die Idee zugrunde, eine Anerkennung durch ein Dokument zu erhalten, mit dem anderen Personen gegenüber belegt werden kann, dass die sexualisierte Gewalt in Kindheit oder Jugend stattgefunden hat. Das Dokument sollte eine Verbindlichkeit haben, die von Behörden akzeptiert wird; die es Betroffenen erspart, dort immer wieder die Gewalterlebnisse schildern zu müssen und ihnen die Bewilligung einer bedarfsgerechten und flexiblen Unterstützung ermöglicht.
Unterstützende Begleitung
Betroffene sind meist auf sich allein gestellt, wenn sie in das Tatgeschehen verwickelte Personen in Institutionen, besonders aber in der Familie, mit der sexuellen Gewalt und ihren Folgen konfrontieren. Für diese Situationen sollte es eine professionelle Begleitung durch dafür qualifizierte Fachkräfte geben. Diese sollen die Interessen der Betroffenen unterstützen, mit ihnen ihre Ziele auf Realisierbarkeit prüfen und möglichst eine für sie psychisch und physisch sichere Situation schaffen.
Sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend ist eine Menschenrechtsverletzung. Betroffene haben massives Unrecht erlebt und unter den gesundheitlichen und sozialen Auswirkungen gelitten. Nicht nur durch die Täter und Täterinnen, sondern auch durch Personen, die hätten helfen können, aber nicht zugehört, nicht geglaubt und nicht geschützt haben oder durch den Staat, der seiner Aufsichtsplicht nicht nachgekommen ist. Im Erwachsenenalter sind Betroffene häufig weiterhin Unrecht ausgesetzt, wenn sie abgewehrt, abgewertet und stigmatisiert werden bzw. das Unrecht bagatellisiert oder in Abrede gestellt wird. Das Forschungsprojekt will einen Beitrag dazu leisten, für Betroffene sexuellen Kindesmissbrauchs die Folgen des erfahrenen Unrechts zu mindern.
Hintergrundinformationen zum Forschungsprojekt
Das Forschungsprojekt „Wege zu mehr Gerechtigkeit nach sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend“ wurde von Wissenschaftler*innen am Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstitut zu Geschlechterfragen Freiburg – SoFFI F. durchgeführt: Prof. Dr. Barbara Kavemann, Bianca Nagel und Adrian Etzel. Das Projekt baute auf der Studie „Erwartungen Betroffener von sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend an gesellschaftliche Aufarbeitung“ auf. Das Projektteam wurde über den gesamten Projektverlauf von April 2020 bis Mai 2022 von einer festen Forschungsgruppe begleitet, deren Mitglieder selbst sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend in unterschiedlichen Kontexten erlebt haben. Die Forschungsgruppe traf sich regelmäßig, entwickelte die Forschungsfragen weiter und diskutierte Auswertungsschritte. Zusätzlich sind in das Forschungsprojekt Daten aus Gruppendiskussionen und Interviews mit weiteren Betroffenen sowie Expertinnen und Experten unterschiedlicher Fachrichtungen eingeflossen.
Quelle: Pressemitteilung der Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs vom 10.11.2022