Gegen Verdrängen, Verschweigen und Tabuisieren - Opfer der NS-Euthanasie ins Gedächtnis holen
Zum siebten Mal veranstalteten die 14 Verbände des Kontaktgespräches Psychiatrie in Berlin die Veranstaltung "Gegen das Vergessen – Aus der Geschichte lernen", zum ersten Mal standen die Familienangehörigen im Zentrum.
Beinahe unbemerkt blieb zunächst die unscheinbare Pressemitteilung des Bundesarchivs vom 30. August 2018. Überschrift: "Bundesarchiv erleichtert Recherche nach Opfern der NS - 'Euthanasieverbrechen' ". Ab sofort sei eine personenbezogene Suche nach Patientenakten auch online möglich, so hieß es weiter. Die Nachricht aus dem Bundesarchiv bildete dann zufällig den Hintergrund für die Veranstaltung "Die Situation der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen in der NS-Zeit" einen Tag später in den Räumen der Stiftung Topographie des Terrors in Berlin. Veranstalter war das "Kontaktgespräch Psychiatrie". In ihm sind 14 Verbände zusammengeschlossen, unter anderem auch solche, die die Interessen von Psychiatrieerfahrenen und ihren Angehörigen vertreten.
Regelmäßig lädt "Kontaktgespräch Psychiatrie" zu Vorträgen unter dem Obertitel "Gegen das Vergessen, aus der Geschichte lernen" ein. Die Veranstaltung 2018 war erstmals den Angehörigen der in der Nazi-Zeit ermordeten Psychiatrie-Opfer gewidmet, also den Familienmitgliedern von seelisch und geistig behinderten Menschen, die als lebensunwert in den Gaskammern erstickten, zu Tode gehungert oder mit Medikamenten vergiftet wurden.
Petition zeigte endlich erfolgreiche Wirkung
Seit 10 bis 15 Jahren, so die Veranstalter, gebe es eine wachsende Bewegung zum Familiengedächtnis Ermordeter, vorrangig initiiert durch Sigrid Falkenstein. Sie war Mitinitiatorin des Aufrufs und einer Petition gewesen: Den "Euthanasie"-Opfern ihre Namen zurückgeben! Unterstützung einer Petition an den Deutschen Bundestag, in der es darum geht, sich im Interesse der Opfer der NS-„Euthanasie" und deren Persönlichkeitsrechte für die Aktualisierung, Modernisierung und Humanisierung des Bundesarchivgesetzes § 5, Abs.6 BArchG einzusetzen.Nach vielen Jahren zeigte die Beharrlichkeit von Sigrid Falkenstein und ihren Mitstreitern endlich Wirkung. Die Namensarchive der Opfer sind allgemein zugänglich.
Gegen Verdrängung und Verschweigen auch durch die Angehörigen wenden sich immer häufiger die Autorinnen und Autoren aus der zweiten, dritten oder vierten Generation, die sich um das Gedenken an ihre ermordeten Verwandten verdient machen.
Die Berlinerin Sigrid Falkenstein beispielsweise ist Autorin eines Erinnerungsbuches "Annas Spuren - Schweigen, Vergessen und Erinnern in Annas Familie". Dessen Entstehungsgeschichte trug sie am Samstag vor rund 100 Gästen und Veranstaltungsteilnehmern vor. Anna Lehnkering, (2. August 1915 in Sterkrade – 7. März 1940 in Grafeneck), deren kurzes Leben Falkenstein nachzeichnete, war eine deutsche Frau, die vom NS-Regime im Zuge der Aktion T4 in einer Gaskammer ermordet wurde. (In der Berliner Tiergartenstraße 4, ungefähr auf dem Grundstück der heutigen Philharmonie, war die Einsatzzentrale der Tötungskampagne gegen geistig behinderte und seelisch kranke Menschen unter dem Vorzeichen von "Euthanasie" und "Gnadentod").
Nach intensiven Gesprächen mit Zeitzeugen und Familienangehörigen, die teilweise aus zweiter oder dritter Hand von Anna zu berichten wussten, und nach Recherchen in Behörden und Archiven bringt Sigrid Falkenstein heute die Erinnerung an ihre Verwandte ins Familiengedächtnis zurück. Nach einigen Jahren der Zurückhaltung, sogar der Ablehnung, gehöre die Erinnerung an Anna heute zum Familiengedächtnis, sagte die Autorin.
Psychisch Kranke und Behinderte, die in den Spezialeinrichtungen der Nationalsozialisten ermordet wurden, ließen ihr Leben auf doppelte Weise. Nachdem sie Ärzte, Pfleger und Personal umbrachten, wurden sie in ihren Familien zusätzlich buchstäblich totgeschwiegen, ihre Erinnerung tabuisiert. An "Verschweigen, Vertuschung, Verleugnung" in den Familien erinnerte Sigrid Falkenstein. Nach dem Krieg habe sich eine Schlussstrichmentalität auch innerhalb der Familien breit gemacht, wenn es um die Erinnerung an Verwandte ging, die systematisch ermordet wurden.
„Heute erlebt Anna Wertschätzung, die sie zu Lebzeiten nie gehabt hat."
Ihre Biografie über das Leben und Sterben der psychisch erkrankten Verwandten half der Autorin Sigrid Falkenstein, zumindest die Fachöffentlichkeit aufzurütteln - bis hin zu einer Lesung vor dem Deutschen Bundestag im vergangenen Jahr. Heute ist Anna ein Stolperstein vor dem Geburtshaus in Mülheim an der Ruhr gewidmet. Sie erfährt heute, wie der Spiegel schrieb, eine Wertschätzung, die sie zu Lebzeiten nie gehabt habe.
Anna, die ökonomisch für unbrauchbar erklärt worden war, kam als Insassin der Heil- und Pflegeanstalt Bedburg-Hau mit mehr als 450 weiteren Männern und Frauen in die Tötungsanstalt Grafeneck, wo sie am 7. März 1940 vergast wurde.
Rund ein Jahr später, am 8. Mai 1941, wurde Karoline Franz in der Tötungsanstalt Hadamar Westerwald vergast. Das Leben und Sterben der jungen Frau, die am 20. November 1917 geboren wurde, hat ihre Großnichte Renate Michel sorgfältig, mühsam und liebevoll nachgezeichnet, nachdem sie eher zufällig auf die Existenz dieser Großtante aufmerksam geworden war. In einer Familienrunde, quasi beiläufig und eher leise, wenn nicht sogar schamhaft, war erwähnt worden, was die Neugier von Renate Michel weckte. Karoline Franz, so zeigte sich, "war eine stille Frau, die im Laufe ihres Lebens immer depressiver wurde und die wiederholt versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, bis sie in einer Pflegeanstalt landete und später als lebensunwert in die Tötungsmaschinerie Hadamar deportiert wurde". Ihre Familie erhielt eine gefälschte Todesurkunde, unterschrieben vom berüchtigten Vergasungsarzt "Dr. Fleck" alias Günther Henneke.
Biografin Renate Michel nahm jedes Fest in ihrer Familie - Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen - zum Anlass, Gespräche zu führen und Erinnerungen aufzuzeichnen. Sie recherchierte in Archiven und Behördenkellern. Auch in ihrer eigenen Familie gab es zunächst nur zurückhaltendes Wohlwollen, manchmal sogar Abwehr, wann immer sie nach Erinnerungen fragte und in Fotoalben blätterte. Aber ihre freundliche Beharrlichkeit sorgte schließlich dafür, dass auch Großtante Karoline Franz schließlich einen ehrenvollen Platz im Familiengedächtnis fand.
Am 8. Mai 1994, dem 53. Todestag der Karoline Franz, besuchten 17 Familienangehörigen die Gedenkstätte Hadamar, um dort ihrer ermordeten Tante und Großtante zu gedenken.
Recherchen rütteln die Familien auf und „rehabilitieren" die Opfer
Wie andere Autorinnen und Autoren auch, die sich auf die Lebens- und Todesspuren ihrer Verwandten begeben, musste Renate Michel einen doppelten Effekt konstatieren. Erst durch die Recherchen im Familienkreis wurde die lange tabuisierte Erinnerung an die Angehörige wieder geweckt. Sie wurde gewissermaßen "rehabilitiert". Vorausgegangen waren Jahrzehnte der Verdrängung, der Schamhaftigkeit, auch der Angst vor eigener Verfolgung und Sippenhaft. "Was hätten wir denn tun sollen?", diese rhetorische Frage sei immer wieder zu hören gewesen, erinnert sich Renate Michel. "Es war doch besser so, sie hätte vom Leben doch weiter nichts gehabt", oder "Da hätte doch längst was gemacht werden müssen" - auch das seien Kommentare, die ihr im Umfeld der Familie überliefert worden seien, so Renate Michel.
Zu Beginn der Veranstaltung hatte Friedrich Leidinger, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Beisitzer im Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen (BApK), die Situation der Familien psychisch Erkrankter vor, während und nach den nationalsozialistischen Tötungskampagnen historisch und sozialwissenschaftlich eingeordnet. Die genaue Zahl der in der NS-Euthanasie ermordeten Menschen sei nicht bekannt, so Leidinger. Nach seriösen Schätzungen liege sie bei ungefähr 250.000 in Deutschland, darunter seien die über 70.000 mit Kohlenmonoxidgasen in Tötungsanstalten der Organisation T4 Vergifteten.
Vermutlich aufgrund von Protesten in der Bevölkerung, darunter den berühmten Münsteraner Predigten des Kardinals von Galen, habe Hitler zwar am 24. August 1941 den Abbruch der Aktion angeordnet. Leidinger: "Es wurden aber weiterhin Zehntausende durch systematischen Entzug von Nahrung und Fürsorge absichtlich getötet oder sie erhielten Medikamente in tödlicher Dosierung". Hinzuzuzählen seien Zehntausende, die in den von deutschen Soldaten besetzten Ländern Mittel- und Osteuropas erschossen, mit Vergasungswagen und in Gaskammern vergiftet oder einfach erschlagen wurden. Ein bis zwei Millionen Menschen hätten auf diese Weise ein Mitglied ihrer erweiterten Familie, die als lebensunwert oder als unnütz erklärt wurden, verloren.
"Zu den besonders belastenden Problemen der Angehörigen gehört auch der Umgang mit der Psychiatrie".
Selten fühlten sie sich von den psychiatrischen Profis in ihren Betroffenheiten ernst genommen. Oft fühlten sie sich in der Rolle von Schuldigen, lästigen Störern und Bittstellern. "Psychiatrische Institutionen verfügen nach wie vor über ein ganzes Arsenal von Abwehrmechanismen", beklagte der renommierte Psychiater Leidinger, "um Angehörige aus der Einrichtung und aus den Beratungsgesprächen herauszuhalten."
So durchziehe die Geschichte der Psychiatrie ein Klima der Tabuisierung, Scham, Schuldzuweisung und Bedrohung der Familien, das der Tötungsindustrie durch die Nazis den Boden bereiten konnte. Die perversen Sichtweisen von Eugenik und Sozialdarwinismus hätten bis in die 70er-Jahre des vorangegangenen Jahrhunderts Wirkung gezeigt - zumal in den Familien, die geistig behinderte oder seelisch kranke Verwandte in den Pflegeeinrichtungen und Tötungsanstalten verloren. Die Ermordung eines Angehörigen in der Anstalt wurde nicht selten sogar als ein Kriegsopfer angesehen, das sie den anderen Kriegsopfern gleich stellten, zum Beispiel gefallenen Angehörigen.
Erbgesundheitsgesetz der Nazis wurde erst rund 80 Jahre später geächtet
Das Klima des "Irgendwas wird schon dran gewesen sein" zeigt die Geschichte des nationalsozialistischen Erbgesundheitsgesetzes, das am 1. Januar 1934 in Kraft trat. Etwa 350.000 Frauen und Männer seien aufgrund dieses Gesetzes zwangsweise unfruchtbar gemacht worden. "Mindestens 5.000 sind unmittelbar an dem Eingriff oder danach umgekommen", so Friedrich Leidinger.
Aber: "Die politischen Entscheidungsträger in Nachkriegsdeutschland haben lange Zeit das Erbgesundheitsgesetz nicht als ein verbrecherisches Gesetz anzuerkennen vermocht". Leidinger: "Die Gesellschaft hatte nach dem Gerichtsverfahren der ersten Nachkriegsjahre schon kein Interesse mehr an den Verbrechen, deren Opfer vor und nach dem Dritten Reich krasse Außenseiter gewesen haben". So sei verständlich, dass in der 1968er-Zeit dann zwar die NS-Verstrickung vieler Täter und auch das Andenken vieler Verfolgte wieder in die Öffentlichkeit gerückt, an die Opfer der Nazi-Psychiatrie dagegen kaum erinnert worden sei.
Nach der Psychiatriereform der 1970-er Jahre habe es noch 15 Jahre gedauert, bis mit der Gründung des Bundesverbandes der Angehörigen psychisch kranker Menschen 1985 erstmalig eine institutionalisierte Interessensvertretung der Angehörigen auftauchte. "Diese wichtige Veränderung im Koordinatensystem der psychiatrischen Öffentlichkeit und der Psychiatriepolitik hat maßgeblich dazu beigetragen, dass Hinterbliebene von Opfern der NS-Psychiatrie meist aus der der zweiten oder dritten Generation das Tabu beiseitegeschoben und die Schicksale von Mitgliedern der Familie aufgedeckt haben, die längst vergessen schien", sagte Friedrich Leidinger abschließend.
Mitglieder des Kontaktgesprächs Psychiatrie sind: Bundesverband Angehöriger Psychisch Kranker, Bundesverband Psychiatrie-Erfahrene, Bundesverband evangelische Behindertenhilfe, Der Paritätische Wohlfahrtsverband, Dachverband Gemeindepsychiatrie, Aktion Psychisch Kranke, Arbeiterwohlfahrt Bundesverband, Gemeindepsychiatrischer Verbünde, Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie, Fachbeirat Psychiatrie im CBP, Bundesweites Netzwerk Sozialpsychiatrische Dienste, Deutsches Rotes Kreuz, Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie, Diakonie Deutschland
Buchtipp
Sigrid Falkenstein, Frank Schneider: "Annas Spuren. Ein Opfer der NS-'Euthanasie'", Herbig, München 2012, 192 Seiten
Mehr Informationen zum Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen (BapK): www.bapk.de