Gerecht ist, was gut ist
Diese allgemeine Aussage muss erklärt, begründet und bedacht werden-. Der anthrôpos, das mit Vernunft begabte, zur Bildung von Allgemeinurteilen befähigte und zwischen Gut und Böse unterscheidungsfähige Lebewesen, strebt ein gutes, glückliches, gelingendes Leben an, und zwar individuell und kollektiv.
In der Präambel der „globalen Ethik“, der allgemeingültigen, nicht relativierbaren Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, kommt zum Ausdruck, dass die „Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“[i]. Bereits in der antiken griechischen, anthropologischen Philosophie kommt der „dikaiosynê“ (δικαιοσύνη), der Gerechtigkeit, die höchste, humane Bedeutung und Haltung zu[ii]. Individuelle und gesellschaftliche soziale Gerechtigkeit ist Grundlage jeder demokratischen Verfassung. Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit sind Grundprinzipien jedes menschlichen Daseins. „Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind nur insoweit der Gerechtigkeit zuträglich, als sich aus ihnen Vorteile für jedermann ergeben, insbesondere für die schwächsten Mitglieder einer Gesellschaft“[iii].
Gerechtigkeit in ungerechten Zeiten
„Denn die einen sind im Dunkeln / Und die andern sind im Licht. / Und man siehet die im Lichte / Die im Dunkeln sieht man nicht“. In der „Moritat von Mackie Messer“ drückt Bertolt Brecht in der „Dreigroschenoper“ (1928) das Unbehagen aus. Immer wieder - ethisch, moralisch, politisch und sozial – werden die Forderungen nach lokaler und globaler Gerechtigkeit zum Ausdruck gebracht[iv]. Es sind die Hoffnungen und Fürsprachen, dass es (eines Tages!) gelingen möge, Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit in die Welt zu bringen, und es sind die Sorgen und Mahnungen, dass die Menschen endlich den Mut und die Kraft finden, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Der Hamburger Philosoph Herbert Schnädelbach hat 2012 einen philosophischen Ratgeber mit dem Titel veröffentlicht: „Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann“. Darin bezeichnet er „ Philosophie als Kultur der Nachdenklichkeit“ und als „Lebenslehre“[v]. Den Münchner Philosophen Julian Nida-Rümelin treibt die Sorge um, dass in den Zeiten des Momentanismus, der Kakophonie, des Ego, Ethnozentrismus und Populismus, das Gesellschafts- und Lebenssystem der Demokratie durch die Feinde der Demokratie Schaden zugefügt wird. Er plädiert für Klarheit im Kopf, damit die Lebenspraxis Orientierung findet. Es sind die individuellen und kollektiven Autonomiegedanken, die sich in Grundsätzen der Menschenwürde und des Gemeinwohls im demokratischen Denken und Handeln artikulieren. Er plädiert für einen „demokratischen Realismus“, bei dem Meinungsverschiedenheiten dialogisch ausgetragen werden. Zum einen mit dem „Erkenntnisparadigma“, das sich an der platonischen Erkenntnis orientiert, Ordnungen und Lebensverhältnisse zu schaffen, „dass in der Demokratie sachgerecht entschieden wird“; zum zweiten mit dem „Kooperationsparadigma“, das mit Rückgriff auf das aristotelische Denken den Bürger als „Citoyen“ wahrnimmt; zum dritten mit dem „Repräsentationsparadigma“, der gleichberechtigten, politischen Teilhabe; viertens mit dem „Partizipationsparadigma“ der demokratischen Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechte; und fünftens mit dem „Deliberationsparadigma“ als Auseinandersetzung um das Gute, Wahre und Humane in der Conditio Humana[vi].
Kapitalismuskritik
„Sozialer Kapitalismus“ – das ist für die einen eine Lösung, um aus dem menschenverachtenden, ungerechten, neoliberalen, lokalen und globalen Strukturen des „Immer-Mehr-für-die-Einen“ und des „Immer-weniger-für-die-Anderen“ herauszukommen. Die andere Perspektive ist der radikale Systemwechsel, weg vom kapitalistischen und hin zum sozialen Denken und Handeln. Beide Positionen sind unversöhnlich; es kann also kein Ein-wenig-Mehr von dem einen und Etwas-Weniger von dem anderen geben[vii]. Weil der Kapitalismus kein Natur- und auch kein Passgesetz, sondern menschengemacht ist, muss ein Perspektivenwechsel einsetzen, um das mittlerweile weltumspannende kapitalistische Wirtschafts- und Konsumsystem abzuschaffen. Argumente, Anlässe und Alternativen gibt es genug: „Was mehr wird, wenn wir teilen“, die gemeingutbestimmte Theorie (Elenor Ostrom), die marktkritischen Konzepte (Heide Gerstenberger) und viele andere, bemerkens-, bedenkens- und beachtenswerte Vorschläge. Der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty zeigt die Zusammenhänge zwischen Kapital und Ideologie auf, wenn er dazu mahnt und auffordert: „Jede menschliche Gesellschaft muss ihre Ungleichheiten rechtfertigen“[viii].
Global Health
Nicht erst die aktuelle globale Corona-Pandemie gibt Anlass, aufmerksam zu machen auf „das Recht auf einen für die Gesundheit und das Wohlergehen von sich und seiner Familie angemessenen Lebensstandard“ Anspruch zu haben, wie dies in Artikel 25 der Menschenrechtsdeklaration postuliert wird. Die 1947 als Sonderorganisation der Vereinten Nationen gegründete World Health Organisation (WHO) setzt sich zum Ziel, „einen möglichst guten Gesundheitszustand für alle Menschen ohne Unterschied der Rasse, der Religion, der politischen Anschauung und der wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Stellung zu erreichen“. Sie versteht „Gesundheit“ nicht nur als Freisein von Krankheit oder Gebrechen, sondern als einen Zustand des völligen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens. In allen Bestandsaufnahmen zur Lage der Welt, angefangen von den Berichten an den Club of Rome, bis hin zu den Millennium Development Goals von 2000 / 2011 / 2015, wird die existentielle, globale Bedeutung der Werte Menschenwürde, Freiheit und Gerechtigkeit mit den gesellschaftlichen und staatlichen Aufgaben einer Gesundheitspolitik verbunden. „Es geht nicht mehr nur um einzelne prioritäre Gesundheitsprobleme, sondern es gilt, in allen Ländern der Welt universell zugängliche Gesundheitssysteme aufzubauen“. Durch die sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnde (Eine?) Welt erhält die Bedeutung von Public Health als bevölkerungs- und wohlstandsbezogene Aufgabe mit Global Health eine neue Dimension. Sie stellt sich als internationale Perspektive und Herausforderung nicht nur für Professionen in den Gesundheits- und Sozialdiensten dar, richtet sich nicht nur an in globalen Entwicklungszusammenhängen Tätige, sondern fordert Aufmerksamkeit von allen, denen die Schaffung einer gerechten, sozialen und humanen Weltzivilisation ein Anliegen ist[ix].
Fazit
Der Perspektivenwechsel ist gefragt, individuell und kollektiv. In den Zeiten von Fake News und Fake Followern, von ego-, ethnozentristischen, nationalistischen, rassistischen, fundamentalistischen und populistischen Entwicklungen, von Wahrheits- und Realitätsleugnern und antidemokratischen Stimmungen kommt es darauf an, die humanen Werte zu verwirklichen und zu verteidigen, wie sie sich um die Ethik der Gerechtigkeit bilden. Da darf es keinen „Ohne-Mich-Standpunkt“ geben, kein verzagtes „Da-kann-ich-als-kleines-Licht-sowieso-nichts-machen“ gelten; vielmehr kommt es darauf an, selbst zu denken und nicht andere für sich denken zu lassen (Karl-Heinz Bohrer), und das in solidarischer Gemeinschaft.
[i] Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte, Bonn 1981, S. 48
[ii] Otfried Höffe, Hrsg., Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 130ff
[iii] Martin Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 2009, S. 291.
[iv] David Goeßmann / Fabian Scheidler, Hg., Der Kampf um globale Gerechtigkeit, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26334.php
[v] www.socialnet.de/rezensionen/13290.php
[vi] Julian Nida-Rümelin, Die gefährdete Rationalität der Demokratie, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/26507.php
[vii] Klaus Dörre / Christine Schickert, Hrsg., Neosozialismus- Solidaität, Demokratie und Ökologie vs. Kapitalismus, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26358.php
[viii] Thomas Picketty, Kapital und Ideologie, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/26783.php
[ix] Oliver Razum, u.a., Hrsg., Global Health. Gesundheit und Gerechtigkeit, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/18229.php