Geständnisse oder: internalisierter Ableismus
Je älter ich werde, desto deutlicher wird mir, dass viele der Entscheidungen und Verhaltensweisen, die mein Handeln in den letzten Jahren geprägt haben, zu einem immensen Teil beeinflusst wurden von dem Motiv, zu verhindern, dass ich als Mensch mit Behinderung in die Sonderwelt abrutsche und infolgedessen dort verharren muss. In manchen Phasen meines Lebens war mein Handeln geradezu davon getrieben, diese Gefahr auszumerzen, vor diesem Damokles-Schwert zu fliehen. Der Gedanke, ich müsste meine Selbstbestimmtheit in dem Maße an den Nagel hängen, welches ich im Zuge von stationären Wohneinrichtungen und Werkstatt für Menschen mit Behinderung befürchte, hat mich rastlos gemacht. Doch ich glaube, hinter dieser Angst steckt noch etwas anderes. Mit ihr vergraben ist auch ein tief sitzender internalisierter Ableismus. Ich habe nicht nur Angst, vor der Fremdbestimmung, vor der strukturellen Gewalt, welche folgend auch Tür und Tor für personale direkte Gewalt öffnet. Ich habe nicht nur Angst um meine Privatsphäre, um meinen persönlichen Raum zur Weiterentwicklung und Entfaltung. Nein, ich hab auch Angst vor dem Stigma, welches mit diesen Institutionen für mich als Individuum einhergeht. Ich möchte nicht als Teil dieser Masse gesehen werden. Ich möchte nicht mit ihnen in einen Topf geschmissen werden. Trotz all meiner Auseinandersetzungen mit meiner eigenen internalisierten Behindertenfeindlichkeit bin ich immer noch an diesem Punkt. Ich möchte nicht von der Gesellschaft als diese Art behinderte Person gesehen werden. Als Mensch im Heim, in der Sonderwelt, die nichts mehr beizutragen hat und nichts mehr leisten kann, die keine Perspektive mehr hat und auch keine für andere mehr aufzeigen kann. Das ist natürlich Blödsinn. Ein Mensch ist nicht weniger wert, weil er woanders wohnt oder woanders arbeitet. Aber mein Herz versteht das nicht. Mein Herz denkt, solange ich meine gemütliche, stilvoll eingerichtete Wohnung habe, solange ich eine Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt habe, mit der ich mich profilieren kann, in der ich sogar ab und zu als Vorzeige-Behinderte missbraucht werde, habe ich mein Leben im Griff, bin ich nicht wirklich behindert. Also schon, aber nicht so, wie es tief in den Köpfen der Menschen als Abfälliges etwas verankert ist. So kann ich ihnen noch jeden Tag beweisen, dass sie mit ihrer klischeehaften stereotypen Vorstellung über Menschen mit Behinderung Unrecht haben. Dass ich eine erfolgreiche, kluge, hübsche, selbstbewusste junge Frau bin. Mit Behinderung. Wie inspirierend.
Manchmal frage ich mich, hab ich mich mit meiner Arbeit nicht jeden Tag über die erhebe, mit denen ich mich angeblich solidarisiere, für deren Rechte ich angeblich mitkämpfe. Ob ich nicht tief in mir denke, dass ich besser bin als sie. Der Gedanke macht mich traurig und er tut mir weh. Ich weiß, woher er kommt und wenn ich mir bewusst mache, warum er in mich eingepflanzt ist und so schwer herauszureißen, dann höre ich auf an ihm zu ruckeln und zu zerren, denn damit tue ich mir nur weh. Der Gedanke ist verwurzelt in der Angst. Und diese Angst ist menschlich, denn sie basiert auf dem Wunsch wertgeschätzt zu werden und angenommen zu sein. Das möchte ich wie jeder andere Mensch und die Gesellschaft hat mir beigebracht was ich tun muss, damit ich all das erfahre.
Jeden Tag versuche ich mir die Wertschätzung durch eine Arbeit zuverdienen, die nebenbei dafür sorgt, dass die Menschen, die ein bisschen weniger Ressourcen und dann bisschen weniger Glück hatten, als ich, auch irgendwann das Gefühl von Wertschätzung und angenommen sein erfahren können. Doch während ich das tue drehe ich mich weiter um mich selbst, an einem seidenen Faden der Wertschätzung in einer Leistungsgesellschaft, ich hangle mich an diesen Faden lang, denn er ist alles was ich habe, und drehe mich dabei immer weiter ein in einen Kokon. Ich bin wie in Watte gepackt, denn während ich darüber rede, wie es ist als Mensch mit Behinderung in dieser Gesellschaft Ablehnung zu erfahren, erfahre ich auf paradoxe Art und Weise immer mehr das Gegenteil. Ich weiß das ist nicht meine Schuld. Ich weiß, was ich mache ist trotzdem richtig. Ich weiß, es ist menschlich, von Angst getrieben zu sein und sich und der Welt etwas Gegenteiliges beweisen zu wollen. Aber ich gebe mir alle Mühe, mir ab und zu einzugestehen, dass ich nicht frei von der Abwertung von Menschen mit Behinderung bin, dass ich mich selbst in erster Linie immer vor dieser Abwertung schützen möchte, und mich dabei immer wieder auf unfaire und unsolidarische Weise von anderen Menschen mit Behinderung distanziere. Ich werde alles daran tun, mir dessen immer mehr bewusst zu sein und einen Weg aus dieser paradoxen Situation herauszufinden.