Gutachten zum möglichen Paradigmenwechsel in der Pflege vorgestellt
Die aktuelle Pflegeversicherung trägt nur einen Teil der Kosten. Mehr als jeder dritte Pflegebedürftige ist auf Sozialhilfe angewiesen. Zudem unterscheiden sich die Leistungen der Pflegeversicherung danach, ob jemand ambulant oder stationär versorgt wird. Beide Defizite sind lösbar, wie der Bremer Gesundheitsexperte Prof. Dr. Heinz Rothgang in seinem „Gutachten zur alternativen Ausgestaltung der Pflegeversicherung" zeigt. Die Reformvorschläge, die er im Auftrag der Initiative Pro-Pflegereform untersucht hat, wurden vergangene Woche auf dem Tag der Pflegereform einem breiten Fachpublikum vorgestellt.
Wer eine echte Verbesserung für Pflegebedürftige und Pflegende will, muss die Pflegeversicherung strukturell so verändern, dass die pflegebedingten Kosten für alle Menschen finanzierbar sind, unabhängig davon, ob sie zu Hause, im Betreuten Wohnen oder in einem Pflegeheim leben. Mit diesem Appell an die Politik riefen Ende 2016 mehrere Altenhilfträger in Deutschland die Initiative Pro-Pflegereform ins Leben. Ziel der Initiative ist es, die Pflegeversicherung so zu reformieren, dass die Sektorengrenzen zwischen ambulant und stationär abgebaut und das echte Teilkaskoprinzip umgesetzt wird: Die Pflegeversicherung übernimmt alle pflegebedingten Kosten und berechnet dem Versicherten einen festzulegenden Eigenanteil: „So können die Geburtsfehler des Blümschen Modells endlich ausgeräumt werden und gute Pflege wird für alle bezahlbar", sagt Bernhard Schneider. Der Hauptgeschäftsführer der Evangelischen Heimstiftung und Vorstandsvorsitzende des Deutschen Evangelischen Verbands für Altenarbeit und Pflege (DEVAP) hat die Initiative gemeinsam mit weiteren Kollegen gegründet. Etwa 100 Organisationen und Verbände mit über 800 Einrichtungen unterstützen nach eigenen Angaben bereits die Initiative. Prof. Dr. Heinz Rothgang zeigt in seinem nun vorgelegten Gutachten, dass der von der Initiative geforderte Paradigmenwechsel in der Pflegeversicherung möglich ist. Er kombiniert die Frage der Sektorengrenzen und die des Leistungsrecht und untersucht die sich daraus ergebenden drei Szenarien einer alternativen Ausgestaltung der Pflegeversicherung:
- In Szenario 1b wird aufgezeigt, wie die „sektorale Fragmentierung" überwunden werden kann, also die leistungsrechtlichen, leistungserbringungsrechtlichen und ordnungsrechtlichen Unterschiede zwischen ambulanter und stationärer Versorgung. Er beschreibt auch, wie durch die Verlagerung der Behandlungspflege 2,6 Milliarden Euro für die Pflegeversicherung frei werden und wie mit einer Zuwahllogik „die Heime abgeschafft" werden können. Damit kann die Trennung der Sektoren aufgehoben und die „Innovationsbremse" für moderne Versorgungsformen überwunden werden.
- In Szenario 2 widmet sich Rothgang dem Verhältnis von Versicherungsleistung und Eigenfinanzierung, das er von der „Spitze auf den Sockel" stellt. Er arbeitet pragmatische, versicherungstechnische Vorschläge aus, wie die Eigenbeteiligung der Versicherten an den pflegebedingeten Kosten der Höhe und der Dauer nach begrenzt werden können. Damit ist bewiesen, dass die Reform finanzierbar ist. Dadurch zeigt das Gutachten auch erstmal einen Weg, wie das individuelle Pflegerisiko versichert werden kann. Selbst eine Vollversicherung der pflegebedingten Kosten ist mit einer Erhöhung von 0,7 Prozentpunkten Beitragssatz möglich.
- Szenario 3 kombiniert 1b und 2 und untersucht die Aufhebung der sektoralen Fragmentierung bei individuellen Versicherungsleistungen und einem begrenzten Eigenanteilssockel. Eindeutig bringt die Kombination beider Reformvorschläge die umfangreichsten Verbesserungen mit sich. Sie erfordert jenoch ein konkretes Konzept, wie der damit verbundene „moral hazard", also die unbegrenzte Leistungsausweitung, sinnvoll begrenzt werden kann.
Das Gutachten wurde mit den pflegepolitischen Sprechern der Bundestagsparteien diskutiert. Heike Baehrens (SPD) begrüßte das Engagement der Initiative und stellte klar: „Mit Pflegeschlüsseln aus den 1990-er Jahren ist keine Altenhilfe von heute möglich". Elisabeth Scharfenberg (Bündnis 90 / Die Grüne) lobte die Reformvorschläge als richtigen Weg, aus bestehenden Deutungsmustern auszubrechen. Diese Meinung teilte auch Pia Zimmermann (Die Linke): „Wir sind uns alle einig, dass eine Reform der Pflegeversicherung dringend notwendig ist". Und auch Erich Irlsdorfer (CSU) versicherte: „Wir wollen, dass Menschen, die in der Pflege arbeiten, ordentlich bezahlt werden und dass Menschen, die Pflege brauchen, ordentliche Pflege bekommen".
Die Unterstützer der Initiative sind sich einig, dass der Abbau der Sektorengrenzen und die Umsetzung des Teilkaskoprinzips die nächsten dringend notwendigen Reformschritte sein müssen. „Ich erwarte von der Politik, dass sie ein in sich schlüssiges und durchdachtes System auf die Beine bringt“, stellte Patrick Weiß, Geschäftsführer des privaten Altenhilfeträgers avendi klar, „und dafür ist dieses Gutachten das Beste, was ich in den letzten 20 Jahren gesehen habe“. Ingrid Hastedt, Vorstandsvorsitzende des Wohlfahrtswerks Baden-Württemberg betonte, dass eine solche Reform die Verantwortung für eine funktionierende Pflegeinfrastruktur bei den Pflegekassen legt, „nämlich da, wo sie auch hingehört“. Einig war man sich auch darin, dass das Gutachten in der nächsten Legislaturperiode politisches Gehör finden muss, wie auch Hanno Heil, Vorstandsvorsitzender des Verbands katholischer Altenhilfe in Deutschland (VKAD) sagte.Bernhard Schneider weist darauf hin, dass Rothgangs Gutachten nicht nur Szenarien und Alternativen die nicht nur deutliche Verbesserungen mit sich bringen, zeigem sondern auch finanzierbar sind.
Das Gutachten sowie alle Unterlagen zum Tag der Pflegereform sind unter www.pro-pflegereform.de/tag-der-pflegereform/ verfügbar.
Quelle: Presseinformation der Initiative Pro-Pflegereform vom 22. Mai 2017