Haftungsrisiko Kinderschutz – Blockade oder Motor?

von Kerstin Landua
27.11.2013 | Kinder-/Jugendhilfe | Nachrichten

Ein Tagungsbericht

Haftungsrisiko Kinderschutz liegt bundesweit in der Luft

Die Fachtagung „Haftungsrisiko Kinderschutz – Blockade oder Motor“ hat am 10./11. Oktober 2013 in Berlin stattgefunden und wurde von 200 Fachkräften der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe besucht. Im Mittelpunkt der Tagung stand die fachliche Weiterentwicklung der Kinderschutzarbeit. Prof. Dr. Christian Schrapper, Universität Koblenz-Landau, stellte eingangs fest: „Haftungsrisiko Kinderschutz liegt bundesweit in der Luft.“ und fügte erklärend hinzu, dass die drei Begriffe „Risiko“, „Haftung“ und „Kinderschutz“ derzeit in einer sehr spannungsgeladenen Verbindung zu stehen scheinen, die insbesondere auch daraus resultiert, ob man/frau das Gefühl habe, verantwortungsvoll mit dem Risiko umgehen zu können und die dafür erforderliche Ausstattung vorhanden sei.

Kinderschutzarbeit: Wer muss für welches Risiko haften? Statements im Trialog

Die Fragen, wie groß ist das Risiko im Kinderschutz wirklich, wer haftet wofür und das damit verbundene Thema „Angst“ (etwas zu übersehen, etwas zu unterlassen), wurden zu Beginn der Tagung erörtert. Gila Schindler, Rechtsanwältin, Bernzen Sonntag, Heidelberg, beleuchtete mit ihrem Statement die juristische Perspektive zu der Frage, ob es im Bereich des Kinderschutzes ein außergewöhnliches Haftungsrecht gibt. Sie stellte zuerst die Frage in den Raum, welche Vorstellung von Kinderschutz die Öffentlichkeit im Allgemeinen habe und zeichnete das Bild von der Kinder- und Jugendhilfe als allgegenwärtigen Schutzengel. In diesen Sphären bewegt sich die Kinder- und Jugendhilfe aber nicht und so werde immer, wenn etwas passiert, nach einem Schuldigen gesucht. Strafrechtlich gehe es hauptsächlich um den § 13 StGB – Begehen durch Unterlassen. In der Praxis sei es aber so, dass man strafrechtlich nie eindeutig sagen kann, man hätte dies oder jenes tun müssen, um ein Kind aus einer problematischen Familiensituation zu retten. Dabei komme der Einhaltung der gesetzlich geregelten Pflicht zur Wahrnehmung des Schutzauftrags eine besondere Bedeutung zu. Die Verletzung der Garantenpflicht sei einer „Nagelprobe“ zu unterziehen: „Dabei geht es nicht um eine Ex-Post-Sicht, das heißt, wenn ich hinterher weiß, das Kind ist gestorben, also muss jemand schuld gewesen sein. Ich darf nicht vom Ergebnis aus denken, sondern maßgeblich ist, wie sich der Hilfefall für die Fachkraft zum Zeitpunkt, in dem eine notwendige Handlung ausgeblieben ist, dargestellt hat bzw. hätte darstellen müssen.“. Dafür seien folgende Fragen wichtig: „Lagen der Fachkraft vor dem Ereignis ausreichende Informationen über eine Gefährdung vor? Falls nein, hätte die Pflicht bestanden, mehr Informationen einzuholen?“. Ein konkretes Unterlassen müsste festgestellt werden, um einen strafrechtlichen Vorwurf zu rechtfertigen. Das strafrechtliche Haftungsrisiko sei abzutrennen von der moralischen und ethischen Verantwortung, die jede/r Mitarbeiter/in, insbesondere im ASD, in der Arbeit mit gefährdeten Kindern, mit problembelasteten Familien trage und der Sorge darüber, dass etwas passieren könnte. Das sei eine schwerwiegende Last, aber nicht gleichzusetzen mit einem realen, strafrechtlichen Risiko. Prof. Dr. Michael Böwer, Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen, verwies in seinen Ausführungen darauf, dass sich die Frage des Haftrisikos fachlich gesehen anders darstelle: Es gehe nicht um den rechtlichen Schaden, sondern um die „fachliche Kunst“ im Hinblick auf Professionalität und organisationspädagogisches Können im Fallverstehen. In der Gemengelage zwischen Recht und Organisationsstrukturen könne das Risiko eines Fehlers durch professionelles Handeln „halbwegs“ begrenzt und sein möglicher Eintritt bewältigt werden. Aus organisatorischer Perspektive referierte Carolin Krause, Leiterin des Jugendamtes Köln, und warf in ihrem Statement drei Fragen auf.
  1. Was ist zu organisieren, bevor etwas passiert, damit möglichst wenig passiert?
  2. Was ist zu organisieren, wenn doch etwas passiert ist?
  3. Was ist zu organisieren, wenn der Alltag im Jugendamt oder beim Träger weitergeht?
Zur ersten Frage nannte Frau Krause folgende Stichpunkte: eine ausreichende Personaldecke, klare Strukturen, eine saubere Aktenführung, sichtbare Entscheidungsprozesse, bekannte und klare Informationsketten, eine Leitung, die für Reflexion zur Verfügung steht. Aus ihrer Sicht sei zu unterscheiden zwischen dem echten und dem gefühlten Haftungsrisiko. Ihre Wahrnehmung sei, dass es eher um ein Ächtungsrisiko als um ein Haftungsrisiko gehe. Nicht nur die Presse, auch Polizei und Gerichte geben schnell Verantwortung an das Jugendamt ab. Dies müsse man lernen auszuhalten, und stark im Alltag zu sein. Im Ernstfall werde in Köln im Team eine Pressemitteilung erarbeitet und an die gesamte Hierarchie der Stadtverwaltung verschickt, die alle datenschutzrechtlich vertretbaren Informationen enthält. Diese Pressemitteilung ist dann die Grundlage für alle Pressegespräche: „Wir alle gehen mit derselben Botschaft an die Öffentlichkeit.“ Betroffene Mitarbeiter/innen werden bei Bedarf begleitet, beraten, gecoacht oder aber auch (vorübergehend) aus der „Schusslinie“ genommen. Das Allerwichtigste sei eine schnelle, zuverlässige und abgestimmte Vorgehensweise. Es sei wichtig, auch aus Fällen, von denen man selbst nicht betroffen ist, für die Zukunft zu lernen. In Köln werde versucht, auch aus den eigenen Fällen dahingehend zu lernen. Aber es falle leichter, einen Fall aus einem anderen Jugendamt zu analysieren und daraus Schlüsse für die eigene Arbeit zu ziehen. Aus den eigenen Fehlern zu lernen, sei immer noch am schwierigsten.

Was passiert, wenn’s passiert (ist)? Die Foren - Eine Premiere der anderen Art

Herzstück dieser Fachtagung waren fünf Foren, in denen die Kinderschutzarbeit an den Fällen „Lea-Sophie“ in Schwerin, „Laura-Jane“ in Osnabrück, „Lara-Mia“ in Hamburg, „Kevin“ in Bremen und „Zoe“ in Berlin-Pankow vorgestellt wurde. Es ging dabei nicht darum, die jeweiligen Fälle zu analysieren oder gar die Schuldfrage zu diskutieren. Es ging um eine Verständigung darüber, wie die betroffenen Kolleg/innen dieses tragische Ereignis, dass ein kleines Kind in ihrem Verantwortungsbereich zu Tode gekommen ist, erlebt und verarbeitet haben, womit sie konfrontiert wurden, wie sie damit umgegangen sind, was sich im Amt verändert hat, was sie anderen Kolleg/innen in ähnlicher Situation empfehlen würden. Prof. Schrapper betonte die Besonderheit, dass sich Kolleginnen und Kollegen aus fünf Jugendämtern in einer fachöffentlichen Debatte über ihre persönlichen Erfahrungen äußern, „wie es ist, wenn es einem passiert“. Es waren sehr emotionale Stunden, viele dieser Schilderungen haben tief bewegt und gezeigt, wie belastend es persönlich für die einzelne Fachkraft ist, wenn ein Kind zu Schaden kommt und was für schwierige Situationen diese Kolleg/innen durchgestanden haben, die zum Teil bis heute nachwirken. Bei der Nachlese im Plenum wurde darüber diskutiert, ob das Wagnis gelungen ist, mit Fachkolleg/innen über ihre Erfahrungen mit schwierigen, problematischen, gescheiterten Fallverläufen produktiv und offen, aber nicht verletzend, zu sprechen.
„Durch die Gespräche über diese Fälle findet eine Enttabuisierung dieses Themas statt. Die Angst ist immer gegenwärtig, aber man guckt sich solche Fälle oft lieber nicht genauer an. Hier empfinde ich es so, als hätten wir uns der Angst direkt gestellt und hätten das Thema aus der Tabuzone geholt. Man konnte es sehr gut nachvollziehen, was berichtet wurde, und man konnte sich darüber austauschen. Dadurch ist ein ganz anderer Umgang mit dem Thema für die einzelnen Personen möglich geworden. Das halte ich für sehr wichtig.“ (Teilnehmerin)
„Ich habe mich – ähnlich wie die Kollegin aus Hamburg – sehr wohl und gut angenommen gefühlt in meinem Forum und hatte keine Probleme, über den Fall zu sprechen. Mir kam es so vor, als sei es auch ein Stück Verarbeitung für mich. Ich habe mich auch bei dem Forum bedankt, weil es wirklich angenehm war, wie die Kolleg/innen mitgegangen sind.“ (Referent)

Den Risikobegriff neu denken?

Anschließend stand die Frage im Raum, ob sich mit solchen Debatten der Blick auf den Umgang mit dem Risiko zu verändern beginnt. Risiken müssen eingegangen werden und es lohnt das Nachdenken über eine andere Auffassung von Risiko im Kinderschutz, nämlich nicht nur im Sinne von Gefahrenabwehr. Es kommt darauf an, Eltern in die Lage zu versetzen, für ihre Kinder zu sorgen. Das ist letztendlich das Risiko, das es zu wagen gilt und diese Verantwortung zu tragen, ist vielleicht schwieriger als das Haftungsrisiko. In diesem Sinne war die öffentliche Fachdebatte auf dieser Tagung sehr hilfreich, weil sie für die Beteiligten und Fachkräfte wichtige Einblicke, Reflexionen und auch Verarbeitung ermöglicht(e).

Alles Risiko?

Zum Katastrophenpotenzial des Kinderschutzes und seinen Folgen

Den zweiten Arbeitstag eröffnete Prof. Dr. Kay Biesel, Professor für Kinder- und Jugendhilfe mit dem Schwerpunkt Kinderschutz, Hochschule für Soziale Arbeit, Institut Kinder- und Jugendhilfe, Basel, mit einem Fachreferat zur oben genannten Thematik und versprach alle im Plenum mitzunehmen auf eine Reise durch viele Fragen. Zurzeit dominiere Angst die Praxis und doch gebe es Hoffnung auf einen Aufbruch in das Unversicherbare. Kinderschutz und seine Abhängigkeit von gesellschaftlichen Konjunkturen und Themenwellen unterliege sogenannten „Normalisierungsparametern“. Folgende nannte Prof. Dr. Biesel:
  • Kinder dürfen nicht sterben. Fachkräfte werden dafür moralisch und ethisch in Haftung genommen.
  • Risikoreiche Entwicklungsorte in Familien können durch verstärkte Übernahme öffentlicher Verantwortung „aufgelöst“ werden.
  • Im Gefährdungsfall haben Kinderrechte Vorrang vor den Rechten der Eltern.
Insgesamt sehe er die Gefahr, dass sich Grenzen verwischen, weil plötzlich alle die Kompetenz haben (sollen), Gefährdungen einzuschätzen. Der Fall „Kevin“ leitete eine Zeitenwende im Kinderschutz ein, mit neuen Gesetzen und Verfahrensregeln. Es gebe einen großen (öffentlichen) Erwartungsdruck, dass „so etwas“ nicht noch einmal passieren darf: „Nicht noch einmal, nicht wir, nicht hier.“ Dieser Erwartungsdruck werde so in Verfolgungsdruck transformiert, verbunden mit (mehr) Unsicherheit vor den Risiken und möglichen Fehlern. Die Hauptthesen von Prof. Biesel waren:
  • Im Kinderschutz … ist nicht alles Haftungsrisiko,
  • … stehen die Fachkräfte nicht immer ‚mit einem Bein im Gefängnis’,
  • … können Kindeswohlgefährdungen nicht immer verhütet und Kindesmisshandlungen nicht immer verhindert werden,
  • … ist es überzogen, zu glauben, dass Soziale Arbeit jedes in seiner Entwicklung bedrohte Kind vor Misshandlungen und Gefährdungen schützen kann.
Fälle wie „Kevin“ haben eine ganze Profession in Verruf gebracht. Daran anschließend ließe sich fragen, ob „wir“ überhaupt die Herrschaft über die Praxis des Kinderschutzes in der Hand haben? Aber es gebe auch positive Folgen: Die Profession muss sich mit ihrem Auftrag auseinandersetzen und Klarheit darüber erlangen, warum man was wie tut. Einen fachlichen Beitrag dazu habe das Projekt „Aus Fehlern lernen. Qualitätsmanagement im Kinderschutz“ geleistet. Kinderschutz benötige Organisationen Sozialer Arbeit, die zuverlässig, achtsam und fehleroffen sind, kind-fokussiert, familienzentriert sowie forschungsbasiert arbeiten. Er plädiere für eine dialogisch-systemische Arbeitsweise. Das Modell der Praxis seien transdisziplinäre Kinderschutzteams, ausgestattet mit Selbstvertrauen, Wissen, Kompetenz und der notwendigen Zeit. Dann komme es auch nicht dazu, dass „man“ die „digitalen Kinder“ verteufelt, die man erzeugt hat und beim „echten Leben“ nicht mehr dabei ist. Natürlich wollten wir auf dieser Tagung auch über die gute Praxis in der Kinderschutzarbeit sprechen und wie diese konkret aussieht. Dafür waren Fachvertreter/innen aus der kommunalen Praxis eingeladen, um die Fragen zu beantworten: Welche „Ausrüstung“ brauche ich als Sozialarbeiter/in für die Arbeit in einem schwierigen „Terrain“ und was gehört zum professionellen Umgang mit dem Risiko? Die Teilnehmer/innen konnten zwischen folgenden Arbeitsgruppen wählen:
  • Leiten im Risiko. Wie viel Leitung braucht der Kinderschutz?
  • Reduzierung des Risikos. Durch fachliche Konzepte und gute Organisation
  • Arbeiten mit dem Risiko. Geeignete Instrumente, Verfahren und Methoden
  • Kooperation im Risiko. Netzwerke lebendig und wirksam gestalten
  • Partizipation im Risiko. Kinder und Eltern einbeziehen
  • Lernen am Risiko. Gute Arbeit im Kinderschutz.
Auch hier fanden viele intensive Diskussionen und ein gelungener fachlicher Austausch statt. Die Inhalte dieser Arbeitsgruppen, aber auch alle anderen Referate und Beiträge auf dieser Tagung können Sie in der Dokumentation zu dieser Tagung nachlesen, die im 1. Quartal 2014 in der Schriftenreihe „Aktuelle Beiträge zur Kinder- und Jugendhilfe“ erscheinen wird.

Und zum Schluss? Risiko mal (ganz) anders betrachtet

Über den gesellschaftlichen Umgang mit Sicherheit, Entscheidungen unter Unsicherheit und begrenzter Zeit, Risikokompetenz und Risikokommunikation sprach Dr. rer. nat. Nicolai Bodemer, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin. Leitende Forschungsfragen zu diesem Thema in seiner Einrichtung seien u.a. „Wie entscheiden wir eigentlich unter Unsicherheit? Wie können wir herauszufinden, wie wir unsere Gesellschaft risikokompetenter machen? Und schließlich: Wie können wir dafür sorgen, dass wir entspannter mit Risiken umgehen? Hierzu stellte Herr Dr. Bodemer eine Reihe statistischer Betrachtungen und ihre möglichen Interpretationen vor. Es gehe darum, den Blick für diese Interpretationen zu schärfen und zu lernen, Risiken so zu kommunizieren, dass jeder sie verstehe und darauf basierend eine informierte Entscheidung treffen kann. Er wies aber auch – basierend auf Forschungsergebnissen – darauf hin, dass „Intuition“ besser als ihr Ruf sei, gerade, wenn man unter Zeitdruck wichtige Entscheidungen treffen muss, da diese oft „erfahrungsgeleitet“ seien. Es folgte also mit einem Schmunzeln der Hinweis darauf, Statistik ist wichtig, wenn man sie versteht zu interpretieren, aber das „Bauchgefühl“ und der Glaube an sich selbst und die damit verbundenen Entscheidungen hätten durchaus auch ihre Berechtigung. Ein Fazit? Es war wichtig und hilfreich, eine offene, angstfreie und produktive Auseinandersetzung über tragisch verlaufene Kinderschutzfälle im Rahmen einer öffentlichen Tagung zu führen. Und um mit den Worten von Prof. Christian Schrapper zu enden: „Mindestens das sind wir den zu Schaden gekommenen, den gestorbenen Kindern schuldig.“. Autorin
Kerstin Landua
Leiterin der Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe
im Deutschen Institut für Urbanistik

landua@difu.de