Hunger in den Zeiten des Überflusses

von Dr. Jos Schnurer
02.10.2021

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Die Überschrift verdeutlicht, dass im Lebensraum der Menschen, in der (Einen?) Welt, etwas nicht in Ordnung ist. Wenn auf der Erde gelten soll, dass, wie es als Menschenrecht in der „globalen Ethik“, der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechtei zum Ausdruck kommt, dass jeder Mensch das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person hat (Art. 3), und wie es im anthropologischen, humanen Bewusstsein als Grundlage des Menschseins eingegraben ist, dass jeder Mensch Anspruch nach euzôiaii, nach einem guten, gelingenden Leben hat, muss die Menschheit endlich einen Perspektivenwechsel vollziehen, wie er immer wieder als Gegenwarts- und Zukunftsdiagnose gefordert wird: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“iii.

Die Ungerechtigkeiten in der Welt beseitigen

Es ist noch kein Jahrzehnt her, dass die Vereinten Nationen mit dem Programm der Nachhaltigkeitsziele auch den Hunger in der Welt abschaffen wollten: Bis 2030 soll es weltweit keinen Hunger mehr gebeniv. Die Aussichten, dass das gelingen könne, sind nicht rosig; denn seit 2015 steigen die Zahlen der Hungernden in der Welt. Jeder zehnte Mensch auf der Erde leidet an Hunger. Das sind, nach der Zählung der Vereinten Nationen, rund 811 Millionen Menschen. Die Gründe dafür sind bekannt: Zum einen sind es die Folgen des Klimawandels, die durch Dürrekatastrophen, Überflutungen, Stürme und Brände Anbaugebiete für Lebensmittel vernichten. Zum zweiten sind es Kriege und Konflikte, die Menschen zwingen, ihre traditionellen Gebiete zu verlassen. Zum dritten sind es Epidemien, die Anbau und Vermarktung von Gütern verhindern. Unumstritten ist, dass auf der Erde genug Lebensmittel vorhanden sind, um jeden Menschen zu ermöglichen, seine Grundbedürfnisse zu erfüllen. Es ist also ein Verteilungsproblem, und es ist der Skandal, dass die Wohlhabenden immer reicher und satter, während die Habenichtse immer mehr hungern und ärmer werden. Der Schweizer Menschenrechtler und UN-Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf Nahrung, Jean Ziegler, spricht vom „Imperium der Schande“, wenn er z. B. aufzeigt, dass die 500 mächtigsten, transnationalen, kapitalistischen Privatgesellschaften der Welt mehr als die Hälfte des Weltsozialprodukts kontrollieren; und er kennzeichnet die real existierende, ökonomische Situation auf der Erde als „kannibalische Weltordnung“ (2005).Er spricht von der „Massenvernichtung in der dritten Welt“, indem er auf die ungerechte Entwicklung in den Ländern des Südens verweistv. Der Ökonom von der Universität in Oxford, Paul Collier ruft zu einer „Ethik des Bewahrens“ auf, bei der es darum geht, was wir, die Menschen in den wohlhabenden Industrieländern, dazu beitragen können, dass wir nicht ärmer und gleichzeitig die Armen wohlhabender werden. Er wendet sich dabei gegen radikale und revolutionäre System- und Gesellschaftsveränderungen; vielmehr vertraut er auf einer ökonomischen Aufklärungvi, wie dies auch die britische Ökonomin und Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom mit dem Konzept, „Was mehr wird, wenn wir teilen“ vorschlägtvii. Der argentinische Schriftsteller und Gerechtigkeitssucher Martin Caparrós ist fünf Jahre in der Welt herumgereist, um herauszufinden, was Hunger ist und wie er sich existentiell, ethisch und moralisch ansieht und auswirkt. Dabei wollte er nicht den Zeigefinger heben, sondern darüber nachdenken, „wie eine Welt aussehen könnte, die uns nicht mit Scham, Schuldgefühlen oder Mutlosigkeit erfüllt… und nach Möglichkeiten zu suchen, wie man das erreichen kann“. Er findet eine Reihe von Beispielen und Projekten, bei denen dies gelingt. Sein zorniges Kontra – „Wie zum Teufel können wir weiterleben, obwohl wir wissen, dass diese Dinge geschehen?“ – kann den notwendigen, individuellen und globalen Perspektivenwechsel einleitenviii. Bei der Frage, was jeder Einzelne tun kann, um Hunger und Armut in der Welt ausmerzen, zumindest aber verringern zu helfen, lassen sich zwei grundlegende, komparative und symbiotische Erklärungsmuster erkennen. Da sind zum einen altruistische Wertvorstellungen, die sich in dem Imperativ verdeutlichen: „Handle so, dass die Folgen deiner Handlung bzw. Handlungsregeln für das Wohlergehen aller Betroffenen optimal sind“ix. Zum anderen sind es institutionelle, lokale und globale Anforderungen, die sich in dem demokratischen und freiheitlichen Anspruch von „Good Governance“ zeigen und sich verbinden mit der Zielsetzung, eine „Gesellschaft der Gleichen“ zu schaffenx. Der UN-Generalsekretär António Guterres hat zum 23. September 2021 zu einer digitalen Weltkonferenz zusammengerufen, um über Hunger, Welternährung und Gesundheit in der Welt zu beratenxi. Mit dem Motto: „Saving Lives – Changing Lives“ soll es gelingen, den Hunger global zu beseitigenxii

Wem gehört die Welt?

Immer wieder wird den Nationalismen, Egoismen und Machtansprüchen von Einzelnen und Systemen die Vision entgegen gesetzt: Die Menschheit ist in ihrer Vielfalt Eins! Die Auslegung, wie (Welt-)Macht entsteht, wird historisch, machtpolitisch, kulturell und sogar ethnisch und rassisch erklärtxiii. Der britische Historiker und Archäologe Jan Morris geht mit seinem Versuch, einen Gang durch die menschliche Geschichte zu unternehmen, davon aus, „dass uns die Gesetzmäßigkeiten eine recht gute Vorstellung davon vermitteln, was als Nächstes geschehen wird“xiv. Anders geht der Volkswirt und Wirtschaftsjournalist Hans-Jürgen Jakobs vor. Er identifiziert die Machtverhältnisse in der Welt mit einer Kapitalismuskritik, indem er die Gier nach Geld, Reichtum, Besitz und Einfluss als Motor für die kapitalistische und neoliberale Ordnung auf der Erde betrachtet. Er fordert eine politische Kehrtwende bei der kapitalistischen Vorstellung von „Markt“: „Eine neue Kultur der Bescheidenheit ist unvermeidlich. Die Organisation des Finanzkapitalismus hat überhöhte Betriebstemperatur“xv. Eine humane Existenz und das Überleben der Menschen darf nicht davon abhängen, wie machtbestimmt und –gemacht der Mensch lebt und wie er sich im Leben individuell und kollektiv, ökonomisch und politisch durchzusetzen vermag. Grundlage muss vielmehr sein, eine globale Ethik zu leben, in der die allgemeinverbindliche und nicht relativierbare Menschenwürde im Lebensmittelpunkt stehtxvi. Bei diesem Bewusstsein angelangt, ist der Weg hin zu „Global Citizenship“ vorgegebenxvii.

In der interdependenten und entgrenzten Welt

Wir leben in einer globalisierten (Einen?) Welt. Die Vor- und Nachteile der Globalisierungxviii werden lokal- und globalgesellschaftlich, politisch und ideologisch im Konsens und Dissens diskutiertxix. Die hehren Forderungen nach Gleichheit und Gerechtigkeit in der Welt stehen angesichts der real existierenden Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten auf dem Prüfstand des gesellschafts- und politikwissenschaftlichen Diskursesxx. Das Nachdenken über eine neue Weltordnung wird befördert durch die Mahnungen, dass es der Menschheit endlich gelingen müsse, von einer Kultur des Krieges zu einer Kultur des Friedens (Federico Mayor) zu kommenxxi. Auf der Tagesordnung sollten dabei weder Kassandrarufe noch Fatalismen stehen, sondern die (zweifelsohne herausfordernden wie vertrackten) Anforderungen, bei der Balance zwischen Anpassung und Widerstand ein „eigensinniges“, gesellschaftliches und politisches Agieren zu ermöglichenxxii. Es gilt Widerstand zu leisten gegen eine „Dämonisierung der Anderen“xxiii, ob bei Migrationsprozessen oder im inter- und transkulturellen Umgang. Es ist die Überzeugung, dass es gemeinsame, allgemeingültige inter- und transkulturelle Werte, Normen und Logiken gibt, die ein friedliches und gerechtes Zusammenleben der Menschen bewirken könnenxxiv. Ob diejenigen, die dafür arbeiten als „Weltverbesserer“ genannt, als „Gut-Menschen“ bezeichnet werden, oder sich als „Querdenker“ verstehen, ist nicht wesentlich; dass sie aber als „Changemaker“ tätig sind, weist sie als Vorbilder beim Kampf und eine gerechtere, friedlichere und solidarische Welt ausxxv.

Das Recht auf ein gutes Leben

In den Zeiten des scheinbar „alles Machbaren“, eines „Ich-will-alles-und-das-sofort-Denkens“ kommt es darauf an, die individuellen und lokal- und globalgesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen untereinander zu bedenken. Es braucht den Paradigmenwechsel weg von der Habenmentalität und hin zum Seinsmodus (Erich Fromm), wie ihn der ecuadoriranische Sozialwissenschaftler und Politiker Alberto Acosta mit seiner Aktivität realisiert, das Recht auf ein gutes, gelingendes Leben in die Verfassung seines Landes einzubringen und damit ein globales Verantwortungsbewusstsein zu erzeugenxxvi. Dafür ist nicht mehr und nicht weniger als eine lokale und globale Sozialrevolution erforderlich, die internationale Kommunikations- und Kooperationsprozesse umfasstxxvii.

Fazit

Die in der ausgewählten Literaturbetrachtung überwiegend nur angedeuteten Aspekte zum direkten und indirekten Zusammenhang der Frage nach der Ernährungs(un)sicherheit in der Welt sollen Anstöße ermöglichen, sich mit dem Skandalon „Hunger in der Welt“ auseinander zu setzen. Denn eine humane Lösung dieser unmenschlichen Situation, dass eine Minderheit von Wohlhabenden und Besitzenden immer reicher und eine Mehrheit der Habenichtse immer ärmer wird, ist für eine humane Gegenwarts- und Zukunftsbewältigung der Menschheit existentiell notwendigxxviii. Es kommt darauf an, individuell und kollektiv, lokal und global existentielle und soziale Wirklichkeiten zu erfassen: Human leben lernen!

 


i Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte. Internationale Dokumente, Bonn 1981, S. 49

ii F. Ricken, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 224f

iii Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt. Bericht der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ (1995), 2., erweit. Ausgabe, Bonn 1997, S. 18

iv https://www.17goalsmagazin.de

v Jean Ziegler, Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der dritten Welt, 2012, https://www.socialnet.de/rezensionen/14063.php

vi Paul Collier, Der hungrige Planet. Wie können wir Wohlstand mehren, ohne die Erde auszuplündern, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/13125.php

vii Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/11224.php

viii Martin Caparrós, Der Hunger, 2015, https://www.socialnet.de/rezensionen/20252.php

ix William MacAskill, Gutes besser machen. Wie wir mit effektivem Altruismus die Welt verändern können, 2015, https://www.socialnet.de/rezensionen/20648.php; sowie: Peter Singer, Effektiver Altruismus. Eine Anleitung zum ethischen Leben, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/20649.php

x Pierre Rosanvallon, Die gute Regierung, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/20955.php; Valentin Beck, Eine Theorie der globalen Verantwortung. Was wir Menschen in extremer Armut schulden, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/21228.php

xi Christiane Grefe, Es bleiben neun Ernten Zeit. Trotz aller politischer Versprechen: Die Zahl der Hungernden steigt wieder, in: DIE ZEIT, Nr. 38 vom 16. 9. 2021, S. 39

xii https://de.wfp.org/strategie

xiii https://www.sozial.de/wie-wird-man-zum-rechtsradikalen.html, 24. 11. 2015

xiv Ian Morris, Wer regiert die Welt? Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/12186.php

xv Hans-Jürgen Jakobs, Wem gehört die Welt? Die Machtverhältnisse im globalen Kapitalismus, 2016, http://www.scialnet.de/rezensionen/22284.php

xvi Ben Sherwood, Wer überlebt? Warum manche Menschen in Grenzsituationen überleben, andere nicht, 2009, https://www.socialnet.de/rezensionen/8908.php

xvii Roland Bernecker / Ronald Grätz, Hg., Global Citizenship. Perspektiven einer Weltgemeinschaft, 2017, https://www.socialnet.de/rezensionen/23073.php; siehe auch: Silvio Vietta, Die Weltgesellschaft. Wie die abendländische Rationalität die Welt erobert und verändert hat, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/21880.php

xviii Peter Mattmann-Allamand, Deglobalisierung. Ein ökologisch-demokratischer Ausweg aus der Krise, 2021, www.socialnet.de/rezensionen/28677.php; Paul Collier / John Kay, Das Ende der Gier. Wie der Individualismus unsere Gesellschaft zerreißt und warum die Politik wieder dem Zusammenhalt dienen muss, 2021, www.socialnet.de/rezensionen/28719.php

xix Eva Hartmann / Caren Kunze, Ulrich Brand, Hrsg., Globalisierung. Macht und Hegemonie. Perspektiven einer kritischen Internationalen Oekonomie, 2009, https://www.socialnet.de/rezensionen/7881.php; Nicola Liebert / Barbara Bauer, die Globalisierungsmacher. Konzerne, Netzwerker, Abgehängte, 2007, https://www.socialnet.de/rezensionen/8775.php; Loretta Napoleoni, Die Zuhälter der Globalisierung. Über Oligarchen, Hedge Fonds, Ndragheta, Drogenkartelle und andere parasitäre Systeme, 2008, https://www.socialnet.de/rezensionen/8975.php

xx Ulrich Beck, Die Neuvermessung der Ungleichheit unter den Menschen, 2008, https://www.socialnet.de/rezensionen/7197.php

xxi Ulrich Menzel, Die Ordnung der Welt. Imperium oder Hegemonie in der Hierarchie der Staatenwelt, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/18967.php

xxii Dana Dülcke, u.a., Hrsg., Grenzen von Ordnung. Eigensinnige Akteur_innen zwischen (Un)Sicherheit und Freiheit, 2016, https://www.socialnet.de/22264.php

xxiii Maria do Mar Castro Varela / Paul Mecheril, Hg., Die Dämonisierung der Anderen. Rassismuskritik der Gegenwart, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/21724.php

xxiv Hans Lenk / Gregor Paul, Transkulturelle Logik. Universalität in der Vielfalt, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/22702.php

xxv Bettina von Clausewitz, Wer, wenn nicht wir! Weltverbesserer und Querdenker im Gespräch, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/20951.php; John Izzo, Die fünf Geheimnisse, die Sie entdecken sollten, bevor Sie sterben, 2008, https://www.socialnet.de/rezensionen/8910.php

xxvi Alberto Acosta, Buen Vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben, 2015, https://www.socialnet.de/rezensionen/20598.php

xxvii Börries Hornemann / Armin Steuernagel, Hg., Sozialrevolution!, 2017, https://www.socialnet.de/rezensionen/22517.php

xxviii Andreas Hartmann / Olivia Murawska, Hg., Representing the Future. Zur kulturellen Logik der Zukunft, 2015, https://www.socialnet.de/rezensionen/18833.php