„Ich heiße Hoffnung“

von Dr. Jos Schnurer
24.01.2011 | Schwerpunkte Kommentare (0)

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Der Mensch als werdendes, intelligentes und empathisches Lebewesen, so haben es über die Zeiten hinweg Philosophen, Anthropologen und Pädagogen immer wieder formuliert, ist ein Hoffender, der sich seines Verstandes zu bedienen vermag. Dadurch wird die Hoffnung unterschieden vom Phantasma, das sich als Trugbild und Sinnestäuschung darstellt und das Unwirkliche als wirklich vorgaukelt. Immanuel Kant hat die Denkfähigkeit und -anstrengung in der Frage danach, was der Mensch ist, mit den drei Fragen belegt: Was kann ich wissen ? – Was soll ich tun? – Was darf ich hoffen? [1] .

Hoffnung als Utopie und Wirklichkeit

Zur Hoffnung aber gehören Phantasie und Utopie: Die Einbildungskraft als die produktive und schöpferische Fähigkeit, sich jenseits des Bekannten, Gewohnten und Überlieferten neue Entwicklungen vorstellen zu können und zu wagen; nicht im Sinne eines unwägbaren Abenteuers, sondern als Vergegenwärtigung einer Anschauung, die in der Wirklichkeit noch nicht existiert und mit der Einstellung, die Albert Einstein für sein Leben und Forschen erkannt hat: „Phantasie ist wichtiger als Wissen“. Und utopisches Denken, als „Wegweiser für die Inspiration“ und einer Kraft, die „geeignet ist, die Realitäten der Welt zu beeinflussen, Zustände zu verändern, und dies immer mit dem Willen zum Besseren und ohne auch nur für einen Augenblick die Menschenwürde aus den Augen zu lassen“ [2]. Da schimmert durch, was sich als „befreiende, dynamische Kraft“ darstellt, wie sie von vielen Denken und Utopisten im Laufe der Menschheitsgeschichte gehofft und praktiziert wurde. Sie reicht von den antiken Vorstellungen eines „ou topós“, eines Nicht-Ortes, über Thomas Morus` „Utopia“, als ein Ort mit einer idealen und humanen Gesellschaftsordnung, bis hin zu den beständigen Hoffnungen, wie sie von Mahatma Gandhi in Indien, von Martin Luther King in den USA und von  Nelson Mandela in Südafrika vertreten wurden und sich auch heute als eine Kritik an der Gegenwart darstellen, um die Zukunft zu ändern. Doch Utopisten sind keine Phantasten, die die Wirklichkeiten, bewusst oder unbewusst ignorieren, sondern mit einem „relevanten Realismus“ ahnen: „Utopie ist das Erzittern im fernen Taktschlag des Kommenden“ [3].

Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Lebewesen

Wer in diesem Sinne utopisch denkt, benötigt die kreative Fähigkeit, seinen Verstand zu gebrauchen und quer zu denken. Dazu gehört nicht selten Mut und die Bereitschaft, an bestimmten Stellen „gegen den Strom zu schwimmen“. Das ist anstrengend, manchmal originell, immer aber verbunden mit Souveränitäts- und Freiheitsempfindungen; denn utopisches Denken ist lernbar [4], anstrengend und nicht selten von Enttäuschungen geprägt. Aber was wäre die Welt, würden die Menschen immer nur das tun, was sie schon immer getan haben, um sich dabei gewissermaßen auf die „sichere Seite“ zu schlagen? Die Menschheit wäre längst untergegangen, weil der Wandel, die Veränderung der Motor der Evolution ist.

Komplexes Denken

In einer Zeit, in der die Welt sich immer interdependenter, entgrenzender (und ungerechter) entwickelt [5], bedarf es eines Denkens in neuen Dimensionen; eines Denkens, das Trennendes zusammen denkt und –führt und was der französische Soziologe Edgar Morin „komplexes Denken“ bezeichnet [6]. Dabei handelt es sich nicht um das Gegenteil von vereinfachendem Denken, sondern verbindet Einfachheit mit Komplexität, wie dies Hegel formuliert hat. Demnach ist komplexes Denken nichts anderes als modernes Denken auf der Grundlage des Dialogs, wie dies Paulo Freire also ganzheitliches Denken zum Ausdruck brachte und in dem Zusammenschluss der Freireaner „Paulo Freire Kooperation in Europa e.V. [7] als „Pädagogik der Hoffnung“ in den theoretischen Diskurs um die Bildung des Menschen, sowie in die Praxis des Erziehens und Lernens gebracht wird. Die Konzepte für eine „dialogische Erziehung“ sind dabei die Grundlage einer „Anthropologie der Hoffnung“, die im Bildungs- und Erziehungsbereich auf der Freireschen Prämisse ausgeht, vom Menschen aus zu denken und zu handeln [8] und zur Wiederentdeckung der Bedeutung des Humanismus im Zeitalter der Globalisierung führt [9].

Die Befreiung des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit

Die entscheidende Idee der (europäischen) Aufklärung, die ihre Wurzeln in der Antike hat und in vielen, auch außereuropäischen Kulturen ebenfalls zu finden ist, lautet: Die Grundrechte und Grundfreiheiten des Menschen sind Grundlage seiner Würde und seines Menschseins. In der Charta der Vereinten Nationen werden diese ethischen Werte und Normen festgelegt, und in der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 wird postuliert, dass die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bilden [10]. Und bei Paulo Freire wird deutlich, dass Freiheit ohne Dialog nicht möglich ist: „Dialog kann aber auch nicht ohne Hoffnung existieren. Hoffnung wurzelt in der Unvollkommenheit des Menschen, aus der er sich in beständigem Suchen herausentwickelt – in einem Suchen, das nur in Gemeinschaft mit anderen vollzogen werden kann“ [11].

Die Würde des Gesichts

Bei der Suche nach den Fähigkeiten, wie ein humanes, inter- und transkulturelles Denken und Handeln in die Köpfe und Herzen der Menschen gebracht werden kann, wird daran erinnert, dass das Gesicht eines jeden Menschen seine unverwechselbare Individualität und gesellschaftliche Identität ausdrückt. Sympathie und Antipathie drücken sich, in der direkten Begegnung wie in der kulturellen Wahrnehmung meist dadurch aus, dass die Würde des Gesichts gewahrt oder missachtet wird. Empathie und Rassismus, beide Formen der menschlichen An- oder Ablehnung, wirken, indem dem Gegenüber, als Individuum oder als Volksgruppe, sein Gesicht gelassen oder genommen wird. Der Gesichtsausdruck gilt dabei als Identifikationsmuster, das Sympathie, Misstrauen, Neugier oder Furcht auslösen kann. Mit der Physiognomik haben Menschen versucht, anhand von einigen wenigen Standardbildern den Charakter eines Menschen oder eines Volkes zu bestimmen; mit den verheerenden Folgen, wie dies im Ethnozentrismus, den Höherwertigkeitsvorstellungen und im Rassismus zum Ausdruck kam. Die Erkenntnis, dass man „den anderen nur kennenlernen (kann), indem man ihn trifft, mit ihm spricht und Zeuge seiner Handlungen ist“  [12], und zwar direkt oder virtuell, spricht für das, was als Interkulturelles Lernen in der schulischen und außerschulischen Bildung, sowie in der Interkulturellen Pädagogik[13] als die allgemeinbildende Aufklärungsaufgabe angesehen wird.

Die Menschenrechte als „heilige“ Herausforderung

In den Auseinandersetzungen, darüber, ob die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 proklamierte Verpflichtung, sie als „das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal“ zu verwirklichen, allgemeingültig und unrelativierbar ist, bewegt die Menschen seitdem unentwegt. Die Einwände, dass die in der Menschenrechtsdeklaration gesetzten Rechte euro- und westlich-zentriert seien, dass Sitten und Gebräuche, wie etwa die Gleichberechtigung der Frau, Auffassungen von wirtschaftlicher und kultureller Entwicklung und andere demokratische Rechte, kulturspezifisch und historisch begründet werden müssten, hat dazu geführt, dass die Menschenrechte in speziellen Erklärungen, etwa mit der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker von 1986, oder der Arabischen Charta der Menschenrechte von 1994 relativiert wurden. Seitdem denken Experten und Menschenrechtsbefürworter intensiv darüber nach, wie diese Dilemmata bewältigt werden können, hin zu einer gemeinsam anerkannten und praktizierten Globalen Ethik. Der Erfurter Soziologe Hans Joas, der für seine Arbeiten zum Völkerrecht 2010 den Bielefelder Wissenschaftspreis erhalten hat, formuliert in seiner Anthropologie die Auffassung, dass uns der Mensch heilig sein müsse, und zwar in seinem individuellen und gesellschaftlichen, alltäglichen und interkulturellen Denken und Handeln. Und dass es gelingen sollte, die individuelle lokale und gemeinschaftliche globale Bedeutung der Menschenrechte nicht nur auf dem Papier abzudrucken, sondern in einer „kulturellen Transformation... subjektiv evident und gefühlsmäßig intensiv“ wirksam werden zu lassen [14].

Toleranz als eine globale Tugend

Der englische Philosoph Sir Bernard Arthur Owen Williams (1929 - 2003) setzt sich in seinem letzten Buch [15] damit auseinander, dass der Toleranzbegriff, wie er historisch entstanden ist und sich in der „Achtung des anderen in seinem Anderssein“ ausgeprägt hat, einer Erweiterung hin zu einer aktiven Wahrnehmung und Praktizierung bedürfe; denn „Toleranz ist letztlich nur dann erforderlich, wenn es sehr schwer ist, sie gegenüber anderen Menschen und ihren Lebensweisen an den Tag zu legen“; es sei also nur das Untolerierbare, das tolerantes Denken und Verhalten notwendig mache. Damit wendet er sich gegen die oft alltagsübliche, unverbindliche und folgenlose Einstellung: „Ich bin doch tolerant“, wenn damit eher das passive Akzeptieren, das Wegschauen und das Nichteinmischen gemeint ist, und er weist darauf hin, dass tolerantes Verhalten immer auch Verhaltensänderung bedeutet, oder das, was heute als Perspektivenwechsel bezeichnet wird: Lass mich Ich sein, damit Du du bleiben kannst und Wir wir werden können!

Hoffen ist schwer

Die Weltberichte „Zur Lage der Welt“ der beiden letzten Jahre, die im alljährlichen Abstand vom New Yorker Worldwatch Institute herausgegeben werden und in deutscher Sprache in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung und Germanwatch erschienen sind [16], zeigen auf, in welch bedrohlicher Lage sich die Menschheit auf der Erde befindet:. „Ein Planet vor der Überhitzung“ (2009), gelingt es nicht, die bedrohlichen, von Menschen gemachten  Klimaveränderungen zu stoppen; und den dringenden Appell, „Nachhaltigkeit als neuen Lebensstil“ (2010) zu praktizieren, lokal und global. Die Forderungen nach einer umweltverträglichen wirtschaftliche Entwicklung, wie sie bereits im Brundtland-Bericht von 1987 gefordert [17] und von den Berichten an den Club of Rome, den Prognosen und Weltberichten eindringlich der Weltgemeinschaft anempfohlen wurde, haben bisher nicht bewirkt, dass der Paradigmenwechsel vom „throughput growth“ (Durchflusswachstum) hin zu einer „sustainable development“ (tragfähige Entwicklung) gelingt [18]. Das hat nicht wenig damit zu tun, dass das kapitalistisch orientierte Denken und Handeln, das sich in einer Einstellung des „Immer-weiter-immer-schneller-immer-mehr“ darstellt, scheinbar keinen Raum für Alternativen lässt [19].

Hoffnung als gesellschaftliche und politische Aufgabe

Es bedarf einer aktiven und tätigen Hoffnung, die getragen ist und befördert wird von dem Bewusstsein der existentiellen Bedrohung der Menschheit, die nur wirksam werden kann, wenn es gelingt, „die Welt zur Heimat für alle Menschen zu machen“ (Friedrich Kümmel). Eine „Anthropologie der Hoffnung“ muss deshalb bauen auf einem globalen Humanismus, auf Gerechtigkeit, Friedfertigkeit und menschenrechtlichem Bewusstsein und der Fähigkeit, „eine offene Zukunft neu zu denken“ [20]. Weil der Mensch ein zôon politikon (Aristoteles), ein politisches, sprach- und vernunftbegabtes Lebewesen, das von Natur aus befähigt ist, ein gutes, gemeinschaftsbildendes Leben zu führen, bedarf es des politischen, gesellschaftsverändernden Aktes, der getragen ist von dem Willen, den einzelnen Menschen nicht nur als Mitglied der menschlichen Familie zu betrachten, sondern im Individuum die Menschheit zu erkennen. Dr. Jos Schnurer, Hildesheim

[1] Theologische Realenzyklopädie (TRE), 1993/2006, in: http://www.friedrich-kuemmel.de/doc/Hoffnung.pdf

[2] vgl. dazu: „Utopien“, Schwerpunktheft 2/1991, UNESCO-Kurier

[3] Matthias Politycki, Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft, Hamburg 2007, 253 S.

[4] Siegfried Preiser / Nicola Buchholz, Kreativität. Ein Trainingsprogramm für Alltag und Beruf, Asanger-Verlag, Kröning 2008, 241 S.

[5] siehe: Josef Nussbaumer / Andreas Exenberger / Stefan Neuner, Unser kleines Dorf. Eine Welt mit 100 Menschen, Kufstein 2010, 194 S.; sowie: Christoph Brsozies /  Henning Hahn (Hrsg.), Globale Gerechtigkeit. Schlüsseltexte zur Debatte zwischen Partikularismus und Kosmopolitismus, Frankfurt/M., 2010, 480 S.; Worldwatch Institute (Hrsg.), Zur Lage der Welt 2010. Einfach besser Leben. Nachhaltigkeit als neuer Lebensstil, München 2010, 316 S.

[6] Edgar Morin, Introduction á la pensé complexe, Paris 1990 (Einen neuen Anfang wagen. Überlegungen für das 21. Jahrhundert, Junius-Verlag, Hamburg 1992, 191 S.)

[7]http://freire.dabisch.de/

[8] Ronald Lutz, Von den Menschen ausgehen. Skizzen zur Anthropologie der Hoffnung; in: Dialogische Erziehung, 1-2/2010, S.  4 - 16

[9] Jörn Rüsen / Henner Laass (Hrsg.), Interkultureller Humanismus. Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen, Wochenschau-Verlag, Schwalbach 2009, 366 S.

[10] Jos Schnurer, Jeden Tag neu mit Mut und Entschlossenheit die Träume in die Realität umzusetzen. Zum 60. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, in: Joachim Dabisch (Hrsg.), Von der Erschöpfung zur Befreiung. Der Dialog bei Paulo Freire, Freire-Jahrbuch 11, Paulo Freire Verlag, Oldenburg 2009, S. 9 ff 

[11] Paulo Freire, Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit, roroto 6830, Oktober 1973, S. 75

[12] David Le Breton, Anthropologie du corps et modernité, Paris 2005, 280 S.

[13] Marianne Krüger-Potratz (Hrsg.), Bei Vielfalt Chancengleichheit. Interkulturelle Pädagogik und durchgängige Sprachbildung, Waxmann-Verlag , Münster/New York/Berlin/München 2010, 363 Seiten

[14] Hans Joas, Der Mensch muss uns heilig sein, in: DIE ZEIT, Nr. 52 von 22. 12. 2010, S. 49f

[15] Bernard Williams, Wahrheit und Wahrhaftigkeit, Frankfurt/M., 2003, 416 S.

[16] Worldwatch Institute (Hrsg.), Zur Lage der Welt 2009, Münster 2009, 318 S.; sowie: Worldwatch Institute (Hrsg.), Zur Lage der Welt 2010, München 2010, 300 S.

[17] WCED, Our Common Future (Unsere Gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, hrsg. von Volker Hauff, Greven 1987, 421 S.

[18] Robert Goodland u.a. (Hrsg.), Nach dem Brundtland-Bericht: Umweltverträgliche wirtschaftliche Entwicklung, Bonn 1992,102 S.

[19] Christian Stenner (Hg.), Kritik des Kapitalismus. Gespräche über die Krise, Promedia Verlag, Wien 2010, Christian Stenner (Hg.), Kritik des Kapitalismus. Gespräche über die Krise, Promedia Verlag, Wien 2010, Pb., 191 S.; und: John Holloway, Kapitalismus aufbrechen, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2010,  276 S.

[20] Ronald Lutz, a.a.o, S. 15