Ich wäre auch ein Kinderschutzfall gewesen
Nach einer Woche am Meer ging es mir schon viel besser. Der Einstieg in den Arbeitsalltag begann mit vier Tagen Kinderschutzfortbildung und das wollte ich nicht versäumen. Der Kurs ist in mehrere Module aufgeteilt, die alle ziemlich interessant beschrieben sind. Es geht um die historische Entwicklung zum Thema Kindeswohl, gesetzliche Grundlagen, Sucht, psychische Erkrankung, sexualisierte Gewalt, institutioneller Kinderschutz. Alle Veranstaltungen sind verpflichtend, nur die Teilnahme am ersten Tag des aktuellen Moduls war freiwillig. Da ging es um die bisherigen Erfahrungen der Fachkräfte im Zusammenhang mit Kindeswohlgefährdung, und zwar nicht nur die beruflichen, sondern auch die privaten. Die Dozentin sagte, es sei ein Probedurchgang, es werde geprüft, ob das Modul zur biografischen Kompetenz als fester Bestandteil aufgenommen wird und ob dann der gesamte Kurs erweitert oder ein anderes Thema verkürzt wird. Ich finde, dass diese Biografiearbeit in jeden Abschnitt integriert werden könnte.
In einer Übung sollten wir uns in unsere Kindheit zurückbegeben. Das Alter konnten wir uns aussuchen. Ich entschied mich für den Schulbeginn. Dann sollten wir die aktuellen Fragebögen und Checklisten für uns selbst ausfüllen. Jede für sich. Und naja, was soll ich sagen? Bei mir kam heraus, dass ich auch ein Kinderschutzfall gewesen wäre, wenn man die heutigen Kriterien anlegt: Vater und Mutter im Dauerkonflikt, beim Spielen sich selbst überlassen, keine Kita, kaum Kontakte mit Gleichaltrigen, und dann als einziges sichtbares Merkmal im Bereich körperliche Gesundheit: der Zustand meiner Zähne. Die waren kaputt, ich erinnere mich genau an die Zettel vom Schulzahnarzt. Okay, meine Eltern sind dann mit mir zur Behandlung gegangen. Also sie haben die akute Gefährdung abgewendet.
Aber der Grund wurde nicht abgestellt. Meine Oma fütterte mich weiterhin mit Schokolade und Keksen. Sie legte mir jeden Abend ein Betthupferl auf das Kopfkissen, der Zucker legte sich über den Zahnschmelz und Karius und Baktus ließen es sich gut gehen, in meinem Kindergebiss.
Meine Mutter sagt heute, sie habe sich deswegen oft mit ihrer Schwiegermutter gestritten, sich aber nicht durchsetzen können. An dieses Streiten kann ich mich erinnern und dass es mir damit gar nicht gut ging, weil ich nicht wusste, wer es wirklich gut mit mir meint. Meine Oma meinte nämlich, dass meine Mutter zu streng ist, und das fand ich auch. Heute denke ich, wenn meine Mutter sich durchgesetzt hätte, wären mir so einige Zahnarztbesuche erspart geblieben. Ich glaube, mein Vater hat sich immer herausgehalten oder sich an die Seite seiner Mutter gestellt. Also heute würde ich eine Familientherapie empfehlen, wenn ich in einem solchen Fall nach meiner Einschätzung gefragt werden würde.
Ich weiß noch genau, dass ich mir immer wünschte, es käme jemand, der meinen Eltern sagt, dass sie anders mit mir umgehen sollen, dass jemand ihnen sagt, wie unglücklich ich war. Aber da war niemand. Alle hielten sich raus. Vielleicht bin ich deshalb Familienhelferin geworden. Damit ich mich einmischen darf in fremde Familien und mich an die Seite der Kinder stellen kann.
Ihre Katja Änderlich