Immer schneller! Immer weiter! Immer besser? KSFH veranstaltet erfolgreiche Fachtagung zum Thema Verdichtung und Beschleunigung im Arbeitsalltag
Fachtagung in Kooperation mit der GGFP an der KSFH Benediktbeuern
Aktuelle Gesellschaftsdiagnosen zeigen auf, dass wir durch technische Entwicklungen und globale Anforderungen von einem rasanten Tempo bestimmt werden und sich dadurch unser Alltag und unser Leben immer stärker verdichtet. Wir müssen die Dinge nicht nur schneller erledigen, sondern auch immer mehr in der gleichen Zeit. Eine Entwicklung, unter der viele Menschen bereits leiden und die mit einer Zunahme von Burn-out und Depressionen einhergeht. Aber auch den Fachkräften in psychosozialen Arbeitsfeldern fehlt häufig die Zeit, sich intensiv mit den Betroffenen auseinanderzusetzen. Stattdessen stellt sich verstärkt die Frage, wie mit dem Zeit- und Effizienzdruck umgegangen werden kann. In Kooperation mit der Gesellschaft für Gemeindepsychologische Forschung und Praxis e.V. (GGFP) veranstaltete die KSFH in Benediktbeuern am 24. Oktober 2014 eine Fachtagung, die sich – aus gemeindepsychologischer Perspektive – vor allem auf Gestaltungsprozesse konzentrierte. Benediktbeuern, 30.10.2014 – „Fälle von Burn-out und Depressionen nehmen in unserer Gesellschaft eindeutig zu; nach aktuellen Schätzungen der World Health Organization wird Depression im Jahr 2020 die Volkskrankheit Nummer eins sein. In der Praxis bedeutet das zum einen, dass die psychosozialen Kosten zunehmen, da immer mehr Menschen, die ausbrennen oder aus dem Arbeitsmarkt gedrängt werden, medizinische und psychosoziale Hilfe suchen. Anderseits führen solche Verdichtungserscheinungen aber auch zu Zeit-, Fallzahlen-, Effektivitäts- und Effizienzdruck unter den Fachkräften“, erklärte Prof. Dr. Luise Behringer, Professorin für Psychologie an der KSFH am vergangenen Freitag. Gemeinsam mit einer Gruppe Studierender verantwortete die Professorin die Organisation der Fachtagung, in deren Rahmen über die fachliche Weiterentwicklung einer (gemeinde-)psychologischen Praxis diskutiert wurde, die sich – trotz steigender Anforderungen – nicht auf Überlebensstrategien beschränkt, sondern Potenziale für Gestaltungsprozesse aufdeckt. Mit knapp 90 Teilnehmern war die Tagung sehr gut besucht und fand gleichermaßen Anklang bei Vertretern aus Hochschule, Wissenschaft und Praxis. Das Tagungsprogramm gestaltete sich aus einführenden Vorträgen zur Veränderung im Verständnis und Empfinden von Zeit über die letzten Jahrhunderte (Referent: Andreas Lange, Hochschule Ravensburg-Weingarten) sowie den psychosozialen Kosten einer Speedgesellschaft (Referent: Heiner Keupp, LMU München); aus Arbeitsgruppen zu Gestaltungsspielräumen und Zeiten für Reflexion und Innehalten, die wir trotz eines temporeichen und verdichteten Arbeitsalltags schaffen können und aus dem abschließenden Vortrag zur Frage, wie junge Menschen unter den Bedingungen lernen können, die Chancen zur Verwirklichung ihrer Fähigkeiten wahrzunehmen. Prof. Dr. Andreas Lange (Soziologe) von der Hochschule Ravensburg-Weingarten führte in seinem Vortrag "Ende der Moderne - Ende der Zeit(-en)?" aus, dass die Zeit eine Konstruktion der Menschen ist und dass ihre Fähigkeit, mental Zeitreisen unternehmen zu können, es ihnen ermöglicht, Pläne zu schmieden. In einem kurzen historischen Abriss zeigte er, dass die allgemein geteilte gesellschaftliche Zukunftsperspektive, die auch Handeln vorbereitet, eine relativ junge Errungenschaft der frühen Neuzeit ist und mit immer mehr Aktivitäten und Vorhaben gefüllt wird. So kommt es auch zu einer Verdichtung und Beschleunigung im Alltag, was sich bereits an überfüllten Terminkalendern ablesen lässt, die ein Zeichen für Fleiß und gesellschaftliche Bedeutung sind: „Lassen Sie nie ihren Terminkalender mit einer leeren Seite offen liegen, sonst gelten Sie als faul“, so die (ironischen) Worte von Lange in seinem Vortrag. An mehreren Untersuchungen aus beruflichen Handlungsfeldern belegte er, dass es heute zunehmend zu pathologischen Entwicklungen im Bereich der alltäglichen Zeiten gekommen ist und die Individuen mehr oder weniger unter Zeitnot leiden. Er zitierte den Jenaer Zeitforscher Hartmut Rosa, der diese Zeitnot als „temporale Insolvenz“ bezeichnet, auf die Entschleunigung allein keine Antwort darstellt, denn das Problem ist vielschichtiger. Die „temporalen Irritationen der späten Moderne“ bedürfen eines „differenzierten Umgangs auf verschiedenen Ebenen." Prof. Dr. Heiner Keupp (Sozial- und Gemeindepsychologe, LMU München) machte in seinem Vortrag „Die Speedgesellschaft und ihre psychosozialen Kosten“ auf die Kosten der Beschleunigung für die Menschen aufmerksam. Auch er verwies darauf, dass die Geschichte der Menschheit auch eine Geschichte der Beschleunigung ist, die aber immer in das Normalitätsverständnis der Menschen integriert werden konnte (Fahrrad, Bahn, Auto). Doch die aktuelle Beschleunigung von Arbeits- und Lebensabläufen im globalisierten Kapitalismus fordert ihren Tribut. Dabei wies er auf ein Phänomen der Verdichtung hin, das in der so genannten Multioptionsgesellschaft liegt: In einer Gesellschaft, in der nicht nur alles schneller geht, sondern auch alles möglich ist, ist jeder Einzelne für sein Glück verantwortlich. „Es liegt in der Hand jedes Einzelnen, aus der Fülle der Möglichkeiten das eigene „gelingende“ Leben zu stricken“, sagte er. Dabei merkte er an, dass er es immer auch hätte anders machen können und dass es „anders hätte kommen können, wenn er nur die richtige Wahl getroffen hätte“. Unter der Last dieser Verantwortung kann seines Erachtens das „malträtierte Ich“ nur noch zusammenbrechen (mit Verweis auf Alain Ehrenberg). Das wiederum belegten die dramatisch steigenden Zahlen von Burn-out und Depression sowie Erschöpfungszuständen von Menschen, so dass man heute von einer erschöpften Gesellschaft sprechen könne. Depression, so auch die Überzeugung des Redners Heiner Keupp, sei die Volkskrankheit im 21. Jahrhundert. Da immer mehr Menschen die Anforderungen der modernen Arbeits- und Alltagswelt als Belastungen erleben, die ihre Bewältigungsmöglichkeiten überschreiten, fordert er anstelle der individualisierten Diagnostik des Einzelnen eine „Gesellschaftsdiagnostik der Beschleunigungsgesellschaft“. „Die Beschleunigungsgesellschaft ist in ihren Konsequenzen in allen Lebensbereichen erfahrbar – nicht zuletzt auch bei Heranwachsenden“, sagte er im Rahmen der Fachtagung am vergangenen Freitag, auch in dieser Lebensphase sehen wir eine Verdichtung und Beschleunigung, z. B. im Bildungssystem, die schon sehr früh, im Grunde genommen bald nach der Geburt beginnt. Wer hier alle Chancen ergreifen und mithalten will, muss sich fit halten, um sich den ständig wechselnden Anforderungen flexibel anpassen zu können, wer das nicht schafft, ist der „Schmutz“ der postmodernen Reinheit (nach einem Zitat von Zygmund Bauman). Um die Anforderungen nicht immer weiter hochzuschrauben, forderte Keupp eine Auseinandersetzung mit den vorherrschenden Menschenbildannahmen, die auch Muße und Faulheit wieder zulassen und anerkennen. Das Thema Beschleunigung griffen zum Abschluss Reinhard Rudeck (SOS Kinderdorf) und Dr. Florian Straus (Institut für Praxisforschung und Projektberatung) in ihrem Vortrag „Verwirklichungschancen wahrnehmen – trotz unsicherer Lebensperspektiven“ auf, der am Beispiel von Kindern und Jugendlichen, die in SOS Kinderdorf-Familien leben, deutlich machte, wie wenig Zeit bleibt, um erwachsen zu werden. Während sich die Jugendphase immer mehr ausdehnt („25 ist das neue 18“), müssten diese mit 18 Jahren ausziehen und selbständig leben. Die zentrale Frage des Vortrages war demnach, was benachteiligte Jugendliche befähigt, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Die Antworten lassen sich auf alle Jugendlichen übertragen: sie bezogen sich auf den Capability Approach (Verwirklichungschancenansatz, Befähigungsansatz) des Ökonomen und Nobelpreisträgers Amartya Sen, der jedem Menschen Fähigkeiten zuspricht, dabei aber kritisch betont, dass die Chancen, die Fähigkeiten zu verwirklichen gesellschaftlich sehr ungleich verteilt sind. Rudeck und Straus fragten danach, was junge Menschen benötigten, um ihre gegebenen Optionen auch nutzen zu können. Ihre Antwort darauf lautete „Handlungsbefähigung“, eine Fähigkeit, die Ressourcen, die sie haben, zu aktivieren und moderieren. Damit sie handlungsfähig sind, müssten sie in ihrer Entwicklung die Erfahrung machen, selbst etwas bewirken zu können, an Entscheidungen beteiligt zu sein, auszuhandeln und Entscheidungen auch umzusetzen. Bestes Lernumfeld hierfür seien die Familie (oder Kinderdorffamilie), zu der sie sich zugehörig fühlten und wo sie Anerkennung erfahren. Nur so könnten sie lernen, was für alle Menschen in einer temporeichen Gesellschaft gilt, die Zentrifugalkräfte in alle Richtungen entfaltet: „den Kurs jeweils neu zu bestimmen und trotzdem die Richtung zu halten.“ Katholische Stiftungsfachhochschule München (KSFH) Die Katholische Stiftungsfachhochschule München ist eine national und international hoch angesehene Hochschule für Sozial-, Pflege- und pädagogische Berufe in kirchlicher Trägerschaft. Sie bietet ihren etwa 2300 Studentinnen und Studenten an den beiden Standorten Benediktbeuern und München eine intensive und professionelle Betreuung. Neben den Bachelorstudiengängen Soziale Arbeit, Pflegemanagement, Pflegepädagogik, Pflege dual, Bildung & Erziehung im Kindesalter und Religionspädagogik und kirchliche Bildungsarbeit (auch im Doppelstudium mit der Sozialen Arbeit) bietet die Katholische Stiftungsfachhochschule München auch Masterstudiengänge und vielfältige Fortbildungsveranstaltungen an. Ein wissenschaftliches und zugleich praxisorientiertes Studium sowie das christliche Menschenbild begründen den besonderen Auftrag der Hochschule.Quelle: Pressemitteilung der Katholischen Stiftungsfachhochschule München vom 30.10.2014