Inklusion als Gesundheitsförderung – demokratischer Umbau des Schulsystems als gesundheitliche Verhältnisprävention
Inklusion kann auf verschiedenste Art und Weise zur Gesundheitsförderung von Schülerinnen und Schülern beitragen, dazu sind aber aus Sicht des Autors Änderungen in den schulischen Strukturen sowie der Kultur in den Schulen vonnöten.
Einleitung
Unter Gesundheitsförderung bzw. -bildung in der Schule wird in der Regel in die Anleitung der Schülerinnen und Schüler zu hygienischen Maßnahmen, gesunder Ernährung, Sport und Bewegung sowie Verzicht auf Drogen verstanden. Diese auf der Ebene der Verhaltensprävention liegenden Konzepte und Vorgehensweisen sind sicherlich notwendig und sinnvoll, sollten aber durch eine Verhältnisprävention ergänzt werden, die in den schulischen Strukturen liegende pathogene Faktoren eliminiert. Hierzu kann Inklusion in doppelter Weise beitragen: durch den Abbau diskriminierender Strukturen und eine Pädagogik, die Anerkennung und Respekt fördert.
1. (Einkommens-)Ungleichheit und Statushierarchien als Ursachen für erhöhtes Gesundheitsrisiko und verkürzte Lebenserwartung
Gesundheitliche Probleme sind in einkommensgleicheren Gesellschaften geringer und die Lebenserwartung ist höher. Japan als das Industrieland mit der größten Einkommensgleichheit hat zugleich die höchste Lebenserwartung der Bevölkerung, während sich die USA und Portugal am anderen Ende des Spektrums befinden (s. Grafik). Dieses Ergebnis kommt nicht nur dadurch zustande, dass Menschen aus ärmeren Schichten früher sterben. Auch die Lebenserwartung der oberen 20% ist kürzer als in einkommensgleicheren Ländern.
Die Hauptursache für größeres Krankheitsrisiko und geringere Lebenserwartung in ungleicheren Ländern ist in den dort stärker ausgeprägten Statushierarchien zu sehen. Je höher der soziale Status ist, desto höher ist auch die Lebenserwartung und desto geringer das Krankheitsrisiko. Dies wurde unter anderem in einer Langzeitstudie an englischen Beamten nachgewiesen. Diese Unterschiede lassen sich nur zum geringeren Teil (etwa ein Drittel) auf Resultate einer ungesünderen Lebensweise wie Rauchen oder Fettleibigkeit zurückführen (Wilkinson & Pickett 2010, 94).
Soziale Ungleichheit bewirkt starken psychischen Stress, der das Hormon-und Nervensystem sowie das Immunsystem beeinflusst. Dies wurde auch in Untersuchungen bei Primaten nachgewiesen. Bei Schimpansen konnten je nach ihrem Rang deutliche physiologische Unterschiede nachgewiesen werden. Individuen in höherer Position wiesen eine höhere Konzentration von HDL auf, das gegen Herzerkrankungen schützt als Individuen auf niedrigeren Rangstufen.
Wenn bei Makaken sich durch eine Änderung der Gruppenzusammensetzung die Hierarchie verändert, führt dies bei vorher dominanten Individuen, die ihren Status verloren haben, zu fünfmal mehr Belag an den Herzkranzgefäßen.
Bei Menschen wurden Statuseffekte beim Stresshormon Cortisol nachgewiesen. Angst vor sozialer Abwertung bewirkt eine viel höhere Cortisolausschüttung als andere Stressfaktoren.
2. Der heimliche Lehrplan des deutschen Schulsystems
Statushierarchien gibt es nicht nur im Beamtenapparat oder in privaten Unternehmen. Auch das deutsche Schulwesen ist hierarchisch aufgebaut: an der Spitze steht das Gymnasium, gefolgt von Real-und Hauptschule. Am unteren Ende befinden sich die Sonder- bzw. Förderschulen für Kinder mit eingeschränkten Lernfähigkeiten. Auch wenn sich durch Zusammenlegung von Real-und Hauptschulen zu Gesamt- oder Gemeinschaftsschulen die Zahl der Hierarchiestufen reduziert, bleibt die Hierarchie in veränderter Form durch unterschiedliche Leistungskurse meist prinzipiell erhalten.
Schon bei der Einschulung werden Kinder in der Hierarchie herabgestuft, wenn sie als „nicht schulreif" klassifiziert werden. Dies setzt sich fort, wenn sie in späteren Jahren sitzen bleiben oder abgeschult werden, d.h. zum Beispiel vom Gymnasium auf die Real-oder Hauptschule verwiesen werden. Der negative Effekt dieser Herabsetzungen auf das Selbstwertgefühl ist insbesondere bei der Einweisung in die Sonderschule häufig nachgewiesen worden (Schumann 2012, 131 ff.).
Hierarchien werden aber auch innerhalb von Klassenverbänden durch die Art der Bewertung von schulischen Leistungen geschaffen. Vorhandene Leistungsunterschiede werden durch Noten verfestigt, die das sechsstufige Notensystem vorgibt.
Angesichts der zahlreichen Hierarchiestufen und -mechanismen innerhalb des Schulsystems liegt es deswegen nahe, die „Einübung in Statushierarchien" als dessen heimlichen Lehrplan zu bezeichnen.
Auch wenn die bei Primaten und erwachsenen Menschen gefundenen physiologischen Reaktionen auf drohenden oder tatsächlichen Statusverlust nicht eins zu eins auf Kinder übertragen werden können, lösen Abwertungen durch schlechte Noten, Abschulungen oder Überweisungen in Sonderschulen Stressreaktionen aus, die Wohlbefinden und Gesundheit beeinträchtigen.
3. Abbau von Hierarchien im Schulsystem als Gesundheitsförderung
Ein hierarchischer Aufbau des Schulsystems ist mit den 1994 von der UNESCO in der Erklärung von Salamanca formulierten Grundsätzen zur Inklusion unvereinbar:
„Wir glauben und erklären,
- dass jedes Kind ein grundsätzliches Recht auf Bildung hat und daß ihm die Möglichkeit gegeben werden muss, ein akzeptables Lernniveau zu erreichen und zu erhalten,
- dass jedes Kind einmalige Eigenschaften, Interessen, Fähigkeiten und Lernbedürfnisse hat,
- dass Schulsysteme entworfen und Lernprogramme eingerichtet werden sollten, die dieser Vielfalt an Eigenschaften und Bedürfnissen Rechnung tragen,
- dass jene mit besonderen Bedürfnissen Zugang zu regulären Schulen haben müssen, die sie mit einer kindzentrierten Pädagogik, die ihren Bedürfnissen gerecht werden kann, aufnehmen sollten,
- dass Regelschulen mit dieser integrativen Orientierung das beste Mittel sind, um diskriminierende Haltungen zu bekämpfen, um Gemeinschaften zu schaffen, die alle willkommen heißen, um eine integrierende Gesellschaft aufzubauen und um Bildung für Alle zu erreichen; darüber hinaus gewährleisten integrative Schulen eine effektive Bildung für den Großteil aller Kinder und erhöhen die Effizienz sowie schließlich das Kosten-Nutzen-Verhältnis des gesamten Schulsystems.“ (Erklärung von Salamanca, 1994)
In der Grundschule Berg Fidel in Münster ist die Umsetzung dieser Prinzipien besonders gut gelungen. In einem Interview wünscht sich der Leiter dieser Schule, Reinhard Stähling „eine Schule vom Kindergarten bis zum Abitur in ein und demselben Gebäude und unter einer Leitung" (2012, 149). Er wünscht sich außerdem die Abschaffung aller Sonder-und weiterführenden Schulen.
Inklusion in der Schule würde bedeuten, die Vision von Stähling zu realisieren und ein einheitliches Bildungssystem vom Kindergarten bis zum Abitur mit heterogen zusammengesetzten Lerngruppen ohne diskriminierende Maßnahmen wie Sitzenbleiben, Überweisung in Sonderschulen oder Selektionsentscheidungen nach dem vierten Schuljahr zu etablieren.
Änderungen in der Schulstruktur und Abbau von Selektionsmechanismen allein reichen aber nicht aus, um eine wirksame Gesundheitsförderung zu betreiben. Die Änderung der Verhältnisse muss durch eine inklusive Pädagogik auf der Verhaltensebene ergänzt werden, die ebenfalls zum Abbau von Diskriminierung beiträgt.
4. Elemente einer gesundheitsfördernden Inklusiven Pädagogik
Gemeinsamer Schulbesuch ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung für eine inklusive Pädagogik. Aus den Anfängen der Integration von Kindern mit Behinderungen ist noch der makabre Begriff des „Beistellkindes" überliefert, das zwar räumlich anwesend war, in das pädagogische Geschehen aber kaum einbezogen wurde.
Inklusive Pädagogik verlangt nicht nur, dass alle Kinder in das Gruppengeschehen einbezogen und auf ihrem jeweiligen Lernniveau gefördert werden. Es muss auch eine „Inklusive Kultur" entwickelt werden, in der jedes Kind sich willkommen und angenommen fühlt. Der von Tony Booth, Mel Ainscow und Denise Kingston entwickelte und von der GEW auf deutsche Verhältnisse übertragene „Index für Inklusion“ (2006, 75ff.) gibt hierzu differenzierte Anleitungen:
- Pädagogen und Kinder begegnen sich mit Respekt.
- Alle Kinder werden als gleich wichtig behandelt.
- Allen Kindern wird geholfen, mit sich zufrieden zu sein.
Die Grundschule Berg Fidel hat sehr ähnliche Grundsätze entwickelt, damit jeder sich wohl fühlt und gern zur Schule geht. In ihren pädagogischen Grundsätzen fordert sie u. a.:
„Wir, Kinder und Erwachsene wollen gemeinsam lernen:
- miteinander zu reden und zu arbeiten
- Rücksicht zu nehmen
- den anderen zu sehen und zu akzeptieren
- das Lernen zu lernen
- Neugierde zu wecken.“
(Schulprogramm der Grundschule Berg Fidel, S. 17).
5. Fazit
Wenn die schulischen Strukturen und die Kultur in den Schulen im o. g. Sinne verändert werden, werden damit nicht nur die Lernchancen für alle Kinder verbessert, sondern auch wesentliche Grundsätze der Gesundheitsförderung berücksichtigt. Im Rahmen so verbesserter Bedingungen und Verhältnisse können Programme von Gesundheitsbildung eine wesentlich bessere Wirkung erzielen als in unveränderten Strukturen, die gesundheitsfördernde Bemühungen eher konterkarieren.
6. Literatur
Booth, Tony, Ainscow, Mel & Denise Kingston: Index für Inklusion (Tageseinrichtungen für Kinder). Deutschsprachige Ausgabe, herausgegeben von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Frankfurt a.M., 2006
Die Erklärung von Salamanca. Verabschiedet von 92 Nationen anlässlich der UNESCO-Tagung 1994 in Salamanca. http://bidok.uibk.ac.at/library/unesco-salamanca.html
Grundschule Berg Fidel: Schulprogramm 2010 der Grundschule Berg Fidel. Homepage der Grundschule, 21. 1. 2013. http://www.muenster.org/ggsbefi/cms/starnet/media/Schulprogramm/Schulprogramm_2010_neu.pdf
Schumann, Brigitte: Kinderrechte und Sonderschule sind unvereinbar. In: BAG gemeinsam leben – gemeinsam lernen e.V. (Hrsg.): Ungehindert Kind – Kinderrechte und Behinderung. Ein Lese- und Praxisbuch für Eltern. Frankfurt a.M., Mabuse, 131 – 136
Stähling, Reinhard: Interview in: BAG gemeinsam leben – gemeinsam lernen e.V. (Hrsg.): Ungehindert Kind – Kinderrechte und Behinderung. Ein Lese- und Praxisbuch für Eltern. Frankfurt a.M., Mabuse, 145 – 149
Wilkinson, Richard und Kate Pickett: Gleichheit ist Glück. Warum gerechtere Gesellschaften für alle besser sind. Berlin, 2010
Autor
Prof. Manfred Baberg
Hochschullehrer i.R., Hochschule Emden - Leer, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit. Arbeitschwerpunkte: Integrationspädagogik, Behindertenarbeit und Sozialpolitik mit den Schwerpunkten soziale Inklusion und Gesundheit