Charlotte Zach

Inklusion ist Emanzipation

von Charlotte Zach
15.05.2022

Einer jungen Frau wird in ihrem Orientierungsjahr im Berufsbildungswerk verboten, zu einer Beratung in die EUTB zu kommen, weil ihr dort ja nur „unrealistische Flausen ins Ohr gesetzt“ würden bezüglich ihrer beruflichen Perspektiven. Es sei doch viel besser, sie würde in der Einrichtung des Werkes direkt eine Ausbildung zur Bürokauffrau machen. Das sei doch realistisch.

Ein junger Mann mit Querschnitt beantragt Freizeitassistenz, weil er ab und zu das Senor:innenheim verlassen möchte, in dem er erzwungener maßen lebt. Der Antrag wird abgelehnt mit der Begründung, es gäbe einen Kinoabend und eine Popcorn-Maschine auf der Station.

40 Jahre nach der Selbstbestimmt Leben – Bewegung in den USA gibt es das erste Mal in Deutschland unabhängige Beratungsstellen für Menschen mit Behinderung, die explizit auch Berater:innen mit Behinderung einstellen und staatlich gefördert werden, nämlich die EUTBs. Und sofort entzündet sich eine hitzige Debatte darüber, ob Behinderung als Merkmal eine Beratungsqualität bedeuten kann und eine eigene Expertise bedeutet.

Eine junge Gruppe von Menschen mit Assistenzbedarf wollen ein Wohnprojekt gründen. Sie müssen mit ihren begrenzten Ressourcen und finanziellen Mitteln gegen große Organisationen der Wohlfahrt und Behindertenhilfe konkurrieren, die Interesse an derselben Immobilie haben.

Emanzipation gegen das Verstecktwerden

All das sind Beispiele aus meinem Beratungsalltag, die eine bestimmte Konfliktlinie skizzieren: Die Konfliktlinie zwischen Menschen mit Behinderung, die, bewusst oder unbewusst, für eine selbstbestimmte Lebensführung eintreten. Für Selbstermächtigung. Für Emanzipation. Und den Organisationen des „Fürsorgesystems“, welche über Jahrhunderte Menschen mit Behinderung bevormundet hat, oft unter dem Deckmantel der Fürsorge. Durch diese Entmündigung wurde das Verstecken von Behinderung im gesellschaftlichen Miteinander unter vermeintlich moralisch vertretbarer Art und Weise fortgeführt und eine Eigenrepräsentation wurde verhindert. Verhindert zusätzlich zu einem Teufelskreis aus fehlender Sichtbarkeit durch Barrieren im öffentlichen Raum, durch die Angebote von Menschen mit Behinderung nie wahrgenommen werden und dadurch der Bedarf für Barrierefreiheit auch nie sichtbar wird. Wenn ich nie in den Club gehe, weil er eine Treppe hat, merkt der:die Betreibende auch nie, dass es Menschen wie mich gibt, die einen Fahrstuhl bräuchten. Aus diesem Dickicht aus Entmündigung, Fremdbestimmung, Fehlrepräsentation, Verstecken (der Person oder der Behinderung), Beschuldigungen, fehlender politischer Teilhabe und vielem mehr kämpfen wir uns nun heraus und erkämpfen uns Rechte. Selbstbestimmung. Deutungshoheiten. Wir emanzipieren uns von einem ableistischen System.

Und wie bei jedem emanzipatorischen Prozess stoßen wir auf Widerstand. Widerstand von der anderen Seite, die ihre Macht nicht abgeben möchte. Ihre Macht über unsere Körper. Unser Leben. Unsere Horizonte. Ihre Macht darüber, wie die Rollen in unserer Gesellschaft gelesen werden. Ihre Macht über die Deutungshoheit eines Diskurses.

Lies‘ den letzten Absatz nochmal und denke dabei an die Prozesse der Frauenbewegung des letzten Jahrhunderts. Weißt du, was ich meine?

Wo immer Abhängigkeiten über Jahrhunderte zementiert wurden, kommt es zu einem empörten Aufschrei, wenn die in Abhängigkeit gedrängten Personen sich emanzipieren wollen. Es würde ja völlig übertrieben und falsch verstanden. Es gäbe kein strukturelles Problem, nur tragische Einzelfälle.

Emanzipation trotz gesellschaftlicher Widerstände

Vor ca. 2 Wochen hat das journalistische Recherche-Projekt AbleismusTötet umfassende Ergebnisse für Fälle von personaler Gewalt an Menschen mit Behinderung in stationären Wohneinrichtungen veröffentlicht. Dabei haben sie den Zusammenhang zwischen den „tragischen Einzelfällen“ und unserer ableistischen Gesellschaftsstruktur aufgezeigt. Ihre Message: Stationäre Einrichtungen sind strukturelle Gewalt. Sie verhindern aus ihrer Struktur heraus ein selbstbestimmtes Leben und gehören deshalb in dieser Form abgeschafft! - Und die stationären Einrichtungen? Fühlen sich persönlich angegriffen und verschließen die Augen vor einem Jahrhunderte alten System, dessen Teil sie sind. Dessen Teil wir alle sind, weil wir so sozialisiert wurden. Das macht Dich nicht zum schlechten Menschen und Deine Arbeit nicht wertlos. Nur - wenn Du aus Prinzip alles abwehrst, bist Du halt ignorant.

Emanzipation provoziert. Emanzipation erregt Widerstand. Auf der „anderen Seite“ stehen immer Menschen, die ihre Privilegien loslassen müssten. Aber bevor Du sagst „Wir sind die Guten. Wir kümmern uns und das war alles schon immer so“, frag Dich ganz kurz: Würdest Du als erwachsener Mensch ein Leben in einer stationären Einrichtung führen wollen?

Weitere Informationen:

Über das Projekt AbleismusTötet erfährst Du unter: https://ableismus.de/toetet/de