Kinder- und Jugendhilfe am Scheideweg?

von Kerstin Landua
06.01.2014 | Kinder-/Jugendhilfe | Nachrichten

- Ein Tagungsbericht -

Wie alles begann …

„Chancen für Kinder – Anforderungen an zukünftige Hilfen zur Erziehung“, war das Thema einer Veranstaltung der Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe im Difu, die am 7./8. November 2013 mit über 200 Fachkräften der öffentlichen und freien Jugendhilfe in Berlin stattfand. Und: Wie erwartet, war die Diskussion in Teilen äußerst kontrovers und spannend. Aber worum ging es genau? Eröffnet wurde die Tagung mit einem Einführungsreferat von Staatsrat Jan Pörksen, Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration Hamburg, unter der Überschrift „Wie alles begann …“. Was damit gemeint war, ist in Fachkreisen wohl bekannt. So ist in der Jugendhilfe-landschaft spätestens seit der Veröffentlichung der Thesen von Herrn Pörksen auf dem Stuttgarter Jugendhilfetag 2011 und dem Kursieren des so genannten „A-Länder-Papieres“ eine Diskussion darüber entbrannt, ob der Rechtsanspruch auf „Hilfe zur Erziehung“ (HzE) abgeschafft bzw. ob das KJHG (u.a. auch aus Kostengründen?) reformiert werden soll und die Hamburger Initiative der Vorbote dafür ist. Herr Pörksen stellte in seinem Vortrag zunächst die Leitsätze der Hamburger Sozialpolitik vor, die u.a. vorsehen, Regelsysteme zu stärken, fallunabhängiger zu arbeiten, hierfür Modelle zu entwickeln und das zur Verfügung stehende Geld effizienter einzusetzen. Er verwies u.a. darauf, dass nach dem tragischen Tod von „Chantal“ ein neues Qualitätsmanagement in Hamburg installiert und eine Jugendhilfeinspektion eingerichtet wurde. Auch für den Umgang mit besonders schwierigen Kindern und Jugendlichen hat die Stadt Hamburg nun neue Vereinbarungen mit freien Trägern der Jugendhilfe getroffen. In diesem Kontext stelle sich die Frage (neu), was Sozialraum nun eigentlich genau sei: „‘Hinte‘ pur, Hilfen zur Erziehung auf Rezeptblock oder nur eine Verschiebung bestimmter Hilfen in andere Paragraphen“? Viele Probleme seien noch nicht gelöst, so u.a. die hohe Personalfluktuation im ASD. Abschließend betonte Herr Pörksen, Ziel der Hamburger Reformbemühungen sei es nicht, den Rechtsanspruch auf HzE auszuhebeln, sondern diesen mit so viel Normalität wie möglich (und manchmal auch ohne das Jugendamt) umzusetzen.

Wenn Sie mehr wissen wollen …

Bruno Pfeifle, Jugendamtsleiter der Stadt Stuttgart, moderierte die nachfolgende Podiumsdiskussion und sagte eingangs, dass sich angesichts der Hamburger Reformen zunehmend die Frage aufdränge, ob dies ein Sparprogramm oder ein fachlich qualitativer Entwicklungsprozess sei. Bevor man hierzu aber eine Bewertung abgeben könne, müsse man diesen Prozess insgesamt verstehen. Dr. Maria Kurz-Adam, Jugendamtsleiterin in München, wurde von Bruno Pfeifle mit ihrer eigenen These konfrontiert, dass „der Blick auf das Feld, den Blick auf den Fall unscharf gemacht habe“. Sie antwortete, dass im Hamburger Modell großartig sei, wie der biografische Verlauf der Kinder und Jugendlichen im Mittelpunkt stehe. Allerdings sehe sie hier einen Widerspruch zur Sozialraumorientierung. Kinderschutz und Hilfen zur Erziehung dürften nicht getrennt verhandelt werden, denn Kinderschutz sei ein Teil davon. Sozialraumorientierung helfe nicht (immer) bei der Abfederung von Hilfen zur Erziehung, da hier stärker der Blick auf die Familien gerichtet sei und nicht so sehr auf das einzelne Kind. Aber gerade die Kinder dürften bei der Debatte über die Finanzierungsfragen der Hilfen zur Erziehung nicht aus dem Blick verloren werden. Regina Offer, Hauptreferentin im Deutschen Städtetag, wurde von Herrn Pfeifle auf die Stellungnahme ihres Hauses angesprochen, in der es aus seiner Sicht nicht nur um die Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung gehe, sondern es könne der Eindruck entstehen, dass die Bundesvereinigung der Kommunalen Spitzenverbände das SGB VIII noch umfassender und in anderen Punkten infrage stellt. Herr Pfeifle fragte ganz konkret: „Halten Sie eine Reform des SGB VIII – vielleicht auch im Zusammenhang mit der Großen Lösung – für einen anstrebbaren Weg und für notwendig?“ Frau Offer antwortete, dass es noch keine Gesetzesinitiative gebe, sondern lediglich eine grundsätzliche und notwendige Diskussion, und dass geprüft werde, „ob man an das Gesetz heran muss“. Dies sei nicht ausgeschlossen. Selbstverständlich solle das Subsidiaritätsprinzip nicht angetastet werden. Rainer Kröger, Diakonieverbund Schweicheln, stellte fest, dass das SGB VIII ein sehr wirksames Gesetz sei und es käme darauf an, kluge Modelle - auch wirkungsanalytisch - mit öffentlichen und freien Trägern zu diskutieren. Es bedürfe einer erhöhten Organisationsaufmerksamkeit öffentlicher Träger in Bezug auf den § 34 SGB VIII und insgesamt einer neuen Verständigung darüber, was „wir alle“ mit Sozialraumorientierung meinen. Er richtete an Herrn Pörksen die Frage, wie er Familien in Hamburg ohne Jugendamt erreichen wolle und wie und von wem das koordiniert werden soll. Eine Frage, die nicht nur Herr Kröger, sondern viele Teilnehmer/innen hatten. Herr Fuchs, Leiter des Jugendamtes Landkreis Steinfurt, fragte nach, wer eigentlich definiere, was eine Hilfe ist, was die Familie braucht und ob die Familie das auch will. Der Begriff „auf Augenhöhe“ in Bezug auf das Verhältnis öffentlicher und freier Träger sei neu zu definieren. Gefragt wurde aus dem Plenum u.a., ob die gefühlte Zufriedenheit der Mitarbeiter/innen des Allgemeinen Sozialen Dienstes mit ihrer Arbeit in den Hilfen zur Erziehung den Sparbemühungen geopfert wird und wie die Wirksamkeit des Hamburger Konzeptes nachweisbar sei. Forschungsergebnisse und Erfahrungen würden eine gegenläufige Tendenz ausweisen, nämlich steigende Zahlen in den Hilfen zur Erziehung. Man müsse auch die andere Seite der Realität zur Kenntnis nehmen; in den ärmsten Kommunen bekäme schon längst nicht mehr jede Familie, jedes Kind die Hilfe zur Erziehung, die sie/es brauchen. Erziehungsberatungsstellen hätten Wartezeiten „von hier bis zum Mond“, weil diese Form der Hilfe zur Erziehung erst mal nichts koste. Und man müsse sich auch der Frage stellen, wie „wir“ mit Familien umgehen, die nicht sagen können, was sie brauchen. Herr Pörksen antwortete, für ihn gebe es den Gegensatz „Ernstfall Kinderschutz und Sozialraum“ nicht. Dort, wo der ASD schwach besetzt sei, würden die HzE Fälle steigen, weil nicht genügend Zeit ist, nach dem Einzelfall zu gucken. Wichtig sei, die Kinder und Jugendlichen „im System zu behalten“, denn „wenn wir sie einmal verlieren, sei es sehr viel schwieriger, sie wieder zurückzuholen“ und zu integrieren. Es gehe vorrangig um einen inhaltlichen Ansatz, der zu besserer Ressourcenverwendung führt. Jugendhilfe und Schule müssten gemeinsame Finanzierungsmodelle finden, um aus dem Herumsparen herauszufinden. „Wir müssen alle raus aus den unterschiedlichen Schützengräben.“ Er halte diese überspitzte Form der Debatte für überwunden. Wichtig sei, jetzt zu (er)klären, wie im Detail die Arbeit gemacht wird und sich der Frage zu stellen, was wir tun, falls unsere Bemühungen nicht greifen. „Aber so weit sind wir noch nicht.“

Wie es weitergehen sollte …

Prof. Dr. Karin Böllert, Westfälische Universität Münster, referierte über aktuelle Herausforderungen bei der Weiterentwicklung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung und gliederte ihren Vortrag in die Bestandteile: Kostenperspektive, Adressatenperspektive, fachliche sowie fachpolitische Perspektive. Zur Frage der Kostenperspektive machte sie zunächst darauf aufmerksam, dass der Ausgabenanstieg im Bereich der Hilfen zur Erziehung von 2005 bis 2011 im Westen 41% und im Osten 24% beträgt. Eine Verlangsamung des Kostenanstiegs habe sich aber im Rahmen der Kinderschutzdebatte ergeben. Insgesamt seien die Ausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe von 1991 bis 2011 um 200% gestiegen. Das sei ein gewaltiges Ausmaß. Zur Frage der Adressatenperspektive führte sie aus, dass Familie in den letzten Jahren einen enormen Bedeutungszuwachs erfahren habe und nicht mehr als etwas naturgegebenes, das schon klappen wird, hingenommen wird. Entscheidend für einen erfolgreichen Weg ins Leben seien gelingende Bildungsbiographien. Allerdings sei bereits heute jeder dritte junge Mensch von Risikolagen betroffen. Dies dokumentiere sich darin, dass die Inanspruchnahme der Hilfen zur Erziehung in den letzten 15 Jahren um rund 60% gestiegen sei. Die genannte Fallzahl entspreche aller Voraussicht nach nicht dem tatsächlichen Bedarf an HzE und werde auch in naher Zukunft nicht zurückgehen. Positiv anzumerken sei, dass Familien heute oft selber Initiatoren von Hilfen zur Erziehung sind. Insgesamt stelle sich aber die Frage, wie „das“ gesteuert werden kann. Die Zunahme der Inanspruchnahme der Leistungen als Ausdruck der Überforderung von Familien brauche aus fachlicher Perspektive eine neue „Kultur des Hinsehens“ und die Anerkennung professioneller Unterstützungsleistungen. „Kinder- und Jugendhilfe ist insgesamt zu einem integralen Bestandteil einer sozialen Infrastruktur geworden, die ihren wesentlichen Kern nicht mehr vorrangig in individuellen Notlagen findet, sondern Ausdruck einer sozialpolitischen Grundversorgung ist, deren Leistungen prinzipiell allen zur Verfügung stehen.“ Allerdings gebe es regionale Disparitäten der Hilfegewährung und es fehle eine bundesweit vergleichbare und verlässliche Hilfeinfrastruktur und entsprechende landesspezifische Rahmenkonzeptionen sowie eine bundesweite Verständigung über konzeptionelle Grundlagen, Formen der Qualitätsentwicklung und Überprüfung der Wirksamkeit. Ihrer Meinung nach werden Kommunen die Ausdifferenzierung und Expansion der Kinder- und Jugendhilfe auf Dauer nicht ohne höhere Länderzuweisungen und eine stärkere Einbeziehung des Bundes an der Finanzierung schultern können.

Was sich in der Praxis bewegt …

Am Nachmittag fand ein Erfahrungsaustausch in Foren zu folgenden Themen statt:
  • Schutzkonzepte und Sozialraum,
  • Zusammenarbeit mit Regelinstitutionen - HzE und Schule: das Bielefelder Modell,
  • Neue Angebote für schwierigste Jugendliche – Das „Sinn-Projekt“,
  • Sozialräumliche Angebotsentwicklung und Finanzierung: Das Hamburger Modell.
Im Forum „Sozialräumliche Angebotsentwicklung und Finanzierung: Das Hamburger Modell“, das Dr. Herbert Wiedermann, Leiter des Landesjugendamtes Hamburg, vorstellte, ging es fachlich und emotional hoch her. Insbesondere Hamburger Befürworter wie Kritiker dieses Modells nutzten das Forum als öffentliche Plattform, sich mit ihren Fragen, Bedenken und Befürchtungen zu artikulieren. Da war es nicht so ganz leicht, das Modell als Ganzes zu erklären und step by step alle Nachfragen interessierter Fachkolleg/innen aus anderen Kommunen zu beantworten. Aber auch so etwas muss eine Tagung aushalten.

Gedanken machen über …

die „Weiterentwicklung der stationären Hilfen zur Erziehung“. Über dieses Thema referierte Dr. Hans-Ullrich Krause, Leiter des Kinderhauses Berlin – Mark Brandenburg, Berlin, und Vorsitzender der IGfH, Frankfurt/Main, und stellte folgende Thesen zur Diskussion:
  • These 1 lautete: Die Hilfen zur Erziehung haben sich qualitativ erheblich verbessert. Wichtig sei es, aus Fehlern zu lernen, so wie es das gleichnamige Projekt auch in vielen Kommunen angestoßen hat.
  • These 2 besagt, dass nicht nur die Problemdichte in Familien gestiegen ist, sondern dass die Nutzerinnen von HzE selbst auch aktiver geworden sind: „Da gibt es Hilfe, da gehen wir hin.“.
  • These 3: Stationäre Jugendhilfe lässt sich darauf ein, sich um schwierigste Jugendliche (bis hin zu geschlossener Unterbringung) zu kümmern. Dies sei eine bedenkliche Entwicklung, da es zur Einrichtung von Spezialeinrichtungen führe, die sich auf bestimmte „Defizite“ von Kindern und Jugendlichen konzentrieren. Dies sei ein Irrweg und gewissermaßen auch eine Bankrotterklärung der Kinder- und Jugendhilfe.
  • These 4: Bereits heute befinden sich – geschätzt – in jeder zweiten stationären Hilfe zur Erziehung behinderte Kinder und Jugendliche. Hier beginne Inklusion.
  • These 5: Stationäre Einrichtungen sollten so gestaltet sein, dass – bildlich gesprochen – der Fahrstuhl für die Kinder und Jugendliche nach oben und nicht nach unten fährt. Oder anders gefragt: Wie können Kinder und Jugendliche unterstützt werden, stark und erfolgreich zu sein, auch im Sinne von Leistung in der Schule?
  • These 6: Rechte von Kindern und Jugendlichen sollten ein größeres Gewicht im Rahmen der Hilfeplanung bekommen und eine Beteiligungskultur und ein Beschwerdemanagement als Standard entwickelt werden. Das Verhältnis von Fachkräften und Familien habe sich verändert. Es gehe um die Würdigung der Rechte der Betroffenen.
Nach diesem Referat folgte ein Erfahrungsaustausch zu speziellen Fragestellungen in den stationären Hilfen zur Erziehung. Die Teilnehmer/innen konnten zwischen den Foren „Hilfe in Krisen – Sozialpädagogische Einrichtungen in Wien“; „Versäulung der stationären Hilfen – Ansätze zur Überwindung in Nordrhein-Westfalen“ sowie „Krisenintervention im Bereich der 0-6jährigen Kinder/ Pflegekinderhilfe“ wählen. Die Inputs aller Fachbeiträge sind in der Dokumentation zur Tagung nachzulesen, die Ende des ersten Quartals 2014 erscheinen wird.

Jedes Kind braucht einen Menschen, der „verrückt“ nach ihm ist.

„Was brauchen Kinder?“ war der Titel des Abschlussreferates von Dr. Maria Kurz-Adam, Leiterin des Jugendamtes München, den sie mit Blick auf die Notwendigkeit der Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung mit diesen drei Aussagen begann:
Jedes Kind braucht die eine Person, die „nach ihm verrückt ist“. „Somebody’s has to be crazy about kid.“ (Bronfenbrenner, 1994) Jedes Kind braucht eine „strukturelle zweite Heimat“ in den Institutionen des Aufwachsens. Jedes Kind braucht Integration, nicht Selektion/Diskriminierung.
Passend zum Untertitel ihres Vortrages „Warum Kommunen handeln müssen – und worüber sie nachdenken sollten“ stellte sie anschließend die Frage in den Raum, welche Rolle das Jugendamt bei der Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung zukünftig spielen solle. Die Frage, warum eine Weiterentwicklung der HzE notwendig ist, beantwortete sie mit den folgenden Feststellungen: Die Legitimationsfrage der Qualität in der Erziehungshilfe sei ungebrochen und müsse um die Frage erweitert werden, ob wir das Richtige tun. Es müsse dringend darüber diskutiert werden, inwiefern Jugendhilfe selbst bei Kindern „Jugendhilfekarrieren“ erzeugt. Der Nutzen/die Wirkung der Einzelfallhilfe sei nach wie vor unsicher und dies bei steigenden Kosten und zunehmender Infragestellung der Präventionsstrategien. Frau Dr. Kurz-Adam sprach sich für eine Qualitätsdebatte in der Kinder- und Jugendhilfe aus, in der das Subjekt im Mittelpunkt steht. Hilfeplanangebote sollten auch in der Kita und in der Schule Standard sein. Ebenso müsse auch das Thema „Inklusion“ viel stärker als bisher berücksichtigt werden, da dies einen immer größeren gesellschaftlichen Konsens findet. Regelsysteme müssten gestärkt werden, Diskriminierungseffekte zurücktreten und Schnittstellen verhindert oder abgebaut werden. Perspektivisch wünsche sie sich eine Stärkung der Stellung des Jugendamtes, eine stärkere Wirkungsorientierung im gesamten Feld der Jugendhilfe sowie (mehr) Chancengerechtigkeit im Kinderschutz und in den Hilfen zur Erziehung.

Ein Fazit?

Viele Referent/innen und Teilnehmer/innen waren sich in der Frage einig, was sozusagen das „Gebot der Stunde“ ist, nämlich dass eine Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung nicht allein aus Kostengründen und damit zu Lasten der Kinder und ihrer Familien gehen sollte. Dennoch sind Autorin
Kerstin Landua
Leiterin der Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe
im Deutschen Institut für Urbanistik
Kontakt: landua@difu.de