Kritische Auseinandersetzung mit Geschichte in katholischen Einrichtungen der Behindertenhilfe

In einer Studie setzte sich der Fachverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) mit Gewalt, Missbrauch und Leid auseinander, die Kinder und Jugendliche mit Behinderung in den Anfangsjahren der Bundesrepublik in katholischen Einrichtungen erfahren haben. Die Studie „Heimkinderzeit. Eine Studie zur Situation von Kindern und Jugendlichen in Einrichtungen der katholischen Behindertenhilfe in Westdeutschland (1949 – 1975) wurde im Auftrag des CBP vom Institut für Angewandte Forschung, Entwicklung und Weiterbildung (IAF) in Freiburg durchgeführt. Mitfinanziert und mitgetragen wird sie von der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), dem Deutschen Caritasverband (DCV), der Deutschen Ordensobernkonferenz (DOK) und der Veronika-Stiftung. Mit der Studie bekennt sich der Deutsche Caritasverband erklärtermaßen mit seinem Fachverband CBP zu seiner eigenen Geschichte und zeigt Interesse an einer selbstkritischen und aktiven Aufarbeitung. Diese sei notwendig, um die Arbeit der heutigen Behindertenhilfe und Psychiatrie glaubwürdig an den Zielen der UN-Behindertenrechtskonvention zu orientieren und im Einklang mit dem christlichen Menschenbild umzusetzen. Die Ergebnisse der Studie, so heißt es, machen deutlich, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen in dieser Zeit massiven Gewalterfahrungen in den Heimen ausgesetzt waren. Die Ursachen dafür seien vielfältig gewesen. So seien sie zu finden in der Überforderung der Ordensschwestern und Ordensbrüder, die die Hauptlast der Arbeit in den Heimen trugen, in der fehlenden Fachlichkeit der damaligen Zeit, in Gewalt fördernden Strukturen, in der geringen staatlichen Unterstützung der Heime und auch im Fehlverhalten einzelner Verantwortlicher. Der Kölner Erzbischof, Kardinal Rainer Maria Woelki, stellt klar: „Als Vorsitzender der Caritaskommission der Deutschen Bischofskonferenz sage ich ausdrücklich, dass ich die damals in den katholischen Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrie ausgeübte physische, psychische und sexuelle Gewalt zutiefst bedauere und die Betroffenen dafür um Entschuldigung bitte. Kirchliche Organisationen und Verantwortliche haben in diesen Fällen dem christlichen Auftrag, Menschen mit Behinderung und psychiatrisch Erkrankten in ihrer Entwicklung zu fördern und ihre Würde zu schützen, nicht entsprochen.“ Der Präsident des Deutschen Caritasverbandes, Peter Neher, betont: „Die Geschichte des Leids in Einrichtungen der Behindertenhilfe und der Psychiatrie ist ein beschämender Teil der Geschichte der Kirche und ihrer Caritas in Deutschland. Wir stellen uns den Erfahrungen von Versagen und Leid und sehen diese Geschichte als Verpflichtung. Der Deutsche Caritasverband und sein Fachverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie werden alles dafür tun, aus den bedrückenden Befunden der Studie Konsequenzen für ihre fachliche und politische Arbeit zu ziehen.“ Der Geschäftsführer der Caritaskommission der Deutschen Bischofskonferenz, Johannes Stücker-Brüning, begrüßt es, dass Bund und Länder sich vor einer Woche zur Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ bekannt haben. „Die Kirchen mit Caritas und Diakonie sowie die Orden haben dieses Hilfsangebot für Betroffene aus Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrie schon lange gefordert. Betroffene können durch die Stiftung wirksame Unterstützung zur Bewältigung ihrer teilweise schlimmen Erlebnisse erhalten. Damit möglichst viele von ihnen die Hilfen in Anspruch nehmen können, sollte die Stiftung zügig ihre Arbeit aufnehmen.“ Sr. Katharina Kluitmann OSF, Mitglied im Vorstand der Deutschen Ordensobernkonferenz, stellt fest: „Für das persönliche Versagen von Ordensleuten und das institutionelle Versagen von Orden in der damaligen Zeit können wir nur beschämt stellvertretend um Verzeihung bitten. Wo immer möglich, möchten wir denen, die heute noch an ihrer Geschichte als Kinder und Jugendliche in Heimen der Behindertenhilfe und Psychiatrie leiden, bei der Aufarbeitung helfen. Wir möchten uns diesen dunklen Seiten unserer Geschichte stellen.“ Die Projektleiterin der Heimkinderstudie, Annerose Siebert, macht deutlich: „Die historisch-sozialwissenschaftliche Studie gibt erstmals einen Überblick im größeren Rahmen über die Situation von Mädchen und Jungen mit Behinderung, die in dieser Zeit in katholischen Einrichtungen gelebt haben. Zentral ist dabei die wissenschaftlich aufbereitete Perspektive der Betroffenen. Sie kommen umfänglich zu Wort. Die Studie ist keine Gewaltstudie, das wäre zu kurz gegriffen – sie beschreibt neben Gewalterfahrungen in erster Linie Alltag, institutionelle Rahmenbedingungen und soziale Netzwerke - aber der Alltag war klar durchzogen von Unterordnung, Isolation und Gewalt.“ In der Zeit von 1949 bis 1975 lebten nach Schätzungen 30.000 bis 50.000 Kinder und Jugendliche mit Behinderung oder psychischen Erkrankungen in katholischen Heimen. Von den heute etwa 500 Einrichtungen, die Mitglied des CBP sind, wurden 110 vor 1975 gegründet. Als potenzielle Teilnehmer an der Studie wurden im Kontakt mit den Einrichtungen 2.641 Personen identifiziert. Rund 80 Prozent konnten aufgrund eines erhöhten Hilfebedarfs bzw. kognitiver Einschränkungen nicht befragt werden. Befragt wurden 339 Personen, die heute im Durchschnitt 65 Jahre alt sind. Die Ergebnisse der Studie wurden im Lambertus Verlag veröffentlicht und können dort bestellt werden (Ausgabe in schwerer und in leichter Sprache): http://www.lambertus.de/de/shop-details/heimkinderzeit,1794.html

Quelle: Gemeinsame Pressemeldung des Deutschen Caritasverbandes, der Deutschen Ordensobernkonferenz und der Deutschen Bischofskonferenz vom 23. Juni 2016