Mangel an Fachkräften in der Kinder- und Jugendhilfe wirkt sich dramatisch aus
Positionspapier der Fachgruppe Inobhutnahme: Das Inobhutnahme-System steht vor dem Kollaps. Die öffentliche Kinder- und Jugendhilfe kann dringende Hilfebedarfe kaum bis gar nicht mehr bedienen.
Die Situation in der Kinder- und Jugendhilfe ist aktuell sehr besorgniserregend! Aus vielen Kommunen wird berichtet, dass der Kinderschutz gefährdet ist, Kinder und Jugendliche nur noch mit enormem Aufwand – aufgrund fehlender Plätze – in Obhut genommen werden können und Wohn- und Inobhutnahme-Gruppen aufgrund von Fachkräftemangel geschlossen werden. Zudem häufen sich die Rückmeldungen aus der Praxis, dass auch die Plätze in der Bereitschaftspflege rückläufig sind und damit vor allem für junge Kinder geeignete Unterbringungen in Notsituationen fehlen. Neben der Zunahme von Inobhutnahmen – wie es die Praxis spiegelt – wirkt sich vor allem der dramatische Fachkräftemangel aus.
Die IGfH Fachgruppe Inobhutnahme hat Erfahrungen und Beispiele aus der Praxis zusammengetragen, die eindrücklich die Situation skizzieren.
In der Sozialen Arbeit ist der Fachkräftemangel so groß wie noch nie und im Branchenvergleich au außergewöhnlich belastend, wie das Institut der Deutschen Wirtschaft im August 2022 in einer Studie herausstellte. Dies führt zu einer Überforderung der Kinder- und Jugendhilfestruktur, die zum Teil dazu führt, dass diagnostizierte Kindeswohlgefährdungen gegeneinander abgewogen werden müssen und nicht alle Kinder und Jugendlichen Hilfeangebote erhalten bzw. keine geeigneten Lebensorte gefunden werden. Dies ist rechtswidrig.
„Wir erleben seit Wochen und Monaten, dass Jugendlichen ihr festgeschriebenes Recht auf Inobhutnahme verweigert wird, selbst wenn Inobhutnahme Plätze frei sind wird das gar nicht erst geprüft. Zum Beispiel weil – O-ton – „es größere Notfälle“ gebe. Und dass, obwohl es hier um Jugendliche geht, die als Minderjährige auf der Straße stehen. Da gibt es also evtl. auch schon eine Art „Triage“ unter nicht-Geflüchteten.“ (Rückmeldung einer Mitarbeiterin aus einer Notschlafstelle aus dem westlichen Teil der Bundesrepublik)
„Im Frühjahr 2022 hatten wir nur noch die Möglichkeit eines Aufnahmestopps und der zeitlich begrenzten Platzreduzierung, um unsere ION-Gruppe aufgrund von Personalengpässen offen zu halten. Im Sommer 2022 mussten wir sie aufgrund von Personalmangel für 2 Wochen schließen und arbeiteten für die akute Notfallversorgung mit einer Nachtbereitschaft. Das bedeutete, dass unsere verbliebenen 3 Mitarbeiter (2 davon Nachtdienste, 1 Fachkraft) rotierend von 17.00 Uhr abends bis 9.00 Uhr morgens bei nächtlichen Aufnahmen durch den Gefährdungsdienst für unsere Vertragsjugendämter die Kinder/Jugendlichen bis zum nächsten Morgen aufnehmen konnten. Wir konnten eine Betreuung tagsüber nicht mehr gewährleisten.“ (Rückmeldung einer Mitarbeiterin einer Inobhutnahmeeinrichtung aus einer Kommune im westlichen Teil der Bundesrepublik)
Gegenwärtig steigt die Anzahl ankommender junger Geflüchteter in Deutschland. Sie treffen auf eine überlastete Kinder- und Jugendhilfe, die ihren Bedarfen nicht gerecht wird. Dies liegt auch daran, dass nach 2017 die mit viel Kraft aufgebauten Strukturen wieder zurückgebaut wurden, die nun fehlen. Einige Landesjugendämter haben mit einer erneuten Standardabsenkung für diese besonders vulnerable Gruppe reagiert. Junge Geflüchtete werden wieder in Turnhallen und anderen nicht geeigneten Großunterkünften untergebracht. Eine sozialpädagogische Unterstützung und Begleitung wird ihnen – auch auf Grund des eklatanten Fachkräfte- und Platzmangels – verwehrt und die alleinige „Aufsicht“ von Security-Kräften über Nacht in einigen Bundesländern wieder erlaubt.
„Unsere Einrichtung hält insgesamt 48 Plätze für minderjährige Geflüchtete vor. Im Jahr 2021 konnten wir insgesamt 125 Aufnahmen und 113 Entlassungen verzeichnen. Zum Stand 31.10.22 wurden in unserer Einrichtung 354 minderjährige Geflüchtete aufgenommen und 309 Entlassungen fanden statt.“ berichtet eine Leiterin einer Inobhutnahmeeinrichtung für minderjährige Geflüchtete aus einer Großstadtkommune im östlichen Teil der Bundesrepublik.
„Der 16-jährige N. ist seit Anfang Oktober in einer Einrichtung in... Er leidet nachts oft an Schlafstörungen, da er sich viele Sorgen um seine im Heimatland verbliebene Familie macht und immer wieder von Erlebnissen im Heimatland und auf der Flucht eingeholt wird. Manchmal sieht er keinen Ausweg und denkt darüber nach, sich das Leben zu nehmen. In der Einrichtung ist nachts nur eine Security vor Ort, er hat mit einem der Mitarbeiter zu sprechen versucht, der hat ihn an den Betreuer im Tagesdienst verwiesen und den Rettungsdienst benachrichtigt. Dieser ist gekommen, konnte keine akute Suizidalität feststellen und ist wieder weggefahren. Besser ging es N. dadurch nicht.“ bericht einer Fachkraft in einer Geflüchteten Unterkunft (Erfahrungsbericht vom BUMF)
Der Fachkräftemangel führt dazu, dass es viel zu wenig Anschlusshilfen und Plätze in Wohngruppen nach § 34 SGB VIII gibt. Die Verweildauern in der Inobhutnahme steigen deutlich und zum Teil über Monate bis zu einem Jahr in der Inobhutnahme an – das ist mit dem Auftrag und den Konzepten in der Inobhutnahme nicht in Einklang zu bringen. Durch das Fehlen von bedarfsgerechten Anschlusshilfen, das heißt, durch das Jugendhilfesystems selbst, verstärkt, verschlechtert bzw. manifestiert sich die Krisensituation, in welcher sich die jungen Menschen während einer Inobhutnahme befinden. Bundesweit wird auch berichtet, dass Wohngruppen nur junge Menschen aus der Inobhutnahme aufnehmen, die „möglichst wenig Arbeit machen“ und Kinder und Jugendliche, die als schwer erreichbar gelten und komplexe Hilfebedarfe haben, verbleiben in der Inobhutnahme. Die Situation spitzt sich zunehmend somit auch in den Wohngruppen zu und Frustrationen und Eskalationen stellen neue Herausforderungen dar.
„Ich habe heute ganz akut den Eindruck, dass die Notschlafstelle mit perspektivlosen Jugendlichen „voll läuft“, da es weder IONA Plätze noch Wohngruppen-Plätze gibt. Und dann trifft eine überdurchschnittlich hohe Anzahl Jugendlicher mit sehr herausfordernden Verhaltensweisen aufeinander, die weniger Optionen in anderen Einrichtungen haben und nach unserem Empfinden nachteilig behandelt werden.“ - Rückmeldung einer Mitarbeiterin aus einer Notschlafstelle aus dem westlichen Teil der Bundesrepublik
„Größtes Problem ist auch bei uns der Fachkräftemangel vor allem im Bereich Sozialarbeiter*innen und Erzieher*innen. Wir konnten in den letzten Auswahlverfahren unsere freien Verträge nicht voll belegen. Der Fachkräftemangel hat ja [...] neben Dienstplanlöchern auch weitergehende Probleme für uns. Wir können nicht ausreichend Kids in unser Kooperationsnetzwerk von Kriseneinrichtungen verlegen, weil die ebenfalls überfüllt sind oder Gruppen aus Personalmangel schließen müssen. Fataler Nebeneffekt der Mangelsituation: Einige Nachfolgeeinrichtungen wählen die Aufnahmen aus der IOHN "sorgfältiger" aus, um Mitarbeitende zu halten. Betreuungsintensive Kids bleiben auf der Strecke, sprich in der Inobhutnahme. Die wiederum "häufen" sich in den Inobhutnahmen, es kommt dort vermehrt zu Eskalationen, das Stigma der "Gruppenunfähigkeit", "Betreuungsintensivität" oder "Nichterreichbarkeit" wird bei den Kids immer stärker. So haben wir neben dem quantitativen Problem durch fehlende Plätze, noch ein sich abzeichnendes qualitatives in der stationären Jugendhilfe.“ erklärt ein Leiter für mehrere Inobhutnahmeeinrichtungen einer Großstadtkommune im nordöstlichen Teil der Bundesrepublik
Forderungen
Die Situation ist brenzlig! Die Gründe, die in diese Situation geführt haben, sind vielfältig und Handlungsansätze – mit dem Ziel die Rechte der jungen Menschen und Eltern abzusichern – müssen unmittelbar und langfristig gefunden werden. Wir können nicht sehenden Auges in einen Kollaps auf Kosten der Heranwachsenden und Fachkräfte fahren, sondern die Kinder- und Jugendhilfe muss dies mit der Unterstützung von Politik, Verbänden und den engagierten Kolleg*innen – auf Bundes- wie Landesebene – mit aller Kraft verhindern.
Kurzfristige Maßnahmen
Es ist zwingend erforderlich, die vorhandenen Mitarbeiter*innen in den Inobhutnahmesettings und in den Wohngruppen mit gezielten Maßnahmen zu halten und zu stabilisieren. Dies könnte u.a. insbesondere durch folgende Maßnahmen unterstützt werden:
- die Erhöhung des Personalschlüssels
- die Verbesserung der Personalausstattung sowie zusätzliche Entlohnung von herausfordernden Betreuungssituationen
- die Sicherung von Einarbeitung und Einhaltung von Ruhe- und Pausenzeiten
- die Einhaltung von fachlichen Standards für die inhaltliche Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen insbesondere für deren Stabilisierung, Begleitung, Gestaltung von Übergängen und die Elternarbeit
- Es besteht die unerlässliche Notwendigkeit, Maßnahmen auch in angrenzenden Systemen zu prüfen und einzuleite:
- Jugendämter müssen handlungsfähig und fachlich sicher in der Steuerung der Hilfen (im Rahmen des Hilfeplanverfahrens zur sorgfältigen und qualifizierten Hilfeplanung) und im Kontext Sicherung Kindeswohl sein. Das heißt neben einem dauerhaften besonders zu qualifizierenden Fachkräften, fachlicher Beratung und (intensivierte Beteiligungs-) Verfahren (z.B. Familienkonferenzen) benötigt es bundesweite Fallobergrenzen zur Sicherung der Handlungsfähigkeit der Mitarbeiter*innen in den Allgemeinen Sozialdiensten.
- Freie Träger benötigen Sicherheiten im Rahmen des Angebotsaufbaus, u.a. durch Pauschalfinanzierung, um grundsätzlich Plätze für alle jungen Menschen für Inobhutnahmen vorzuhalten
- Schaffen von Koordinierungsstellen in der Kommune in öffentlicher oder freier Trägerschaft für komplexe Fälle
- Unterstützung in der Fallsteuerung geeigneter Anschlusshilfen in herausfordernden Hilfeverläufen
- Herstellung von Kooperationsbezügen mit verschiedenen freien Trägern
- Installation von flexiblen sozialraumorientierten Hilfen und Gestaltung von Übergängen
- Es ist dringend notwendig, gezielt und planvoll das Fachkräftegebot zu erweitern, das heißt, dass die Aufnahme angrenzender Berufsgruppen zu prüfen sind, eine beschleunigte Zulassung ausländischer Fachkräfte angezeigt ist und gezielt geeignete Personen mit Auflagen zur Nachqualifikation zuzulassen sind.
- Das Schaffen von Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit für das Arbeitsfeld ist unerlässlich, bspw. durch eine bundesweite Imagekampagne für die Arbeitsfelder der Inobhutnahme und der Hilfen zur Erziehung, um Fachkräfte zu halten und zu gewinnen.
Grundsätzliche und langfristige Maßnahmen
- Eine grundsätzliche Verbesserung des Betreuungsschlüssels in der Inobhutnahme ist zeitnah zu prüfen und bundesweit zu definieren. Dabei ist die Besonderheit der Betreuung von Kindern und Jugendlichen im Rahmen Inobhutnahme, das heißt die Systemrelevanz durch die akute Krisen- und Notbetreuung anzuerkennen. Diese besteht aus den folgenden einzelnen Parametern und mitunter auch in der Kombination dieser:
- Komplexität der Einzelfälle
- lange Verweildauer
- keine Option der Beendigung bei herausfordernden Verhaltensweisen
- Ballung der Problemdichte.
- Es besteht die zwingende Notwendigkeit das Arbeitsfeld der Inobhutnahme und der Hilfen zur Erziehung sowie die spezifischen Methoden in die Lehrpläne von sozialen Studiengängen und Erzieher*innenausbildungen aufzunehmen. Weiterhin ist es unabdingbar, die Studien- und Ausbildungsplätze mit Schwerpunkt Inobhutnahme und Hilfen zur Erziehung für Sozialpädagog*innen und Erzieher/-innen zu erhöhen.
- Eine gezielte Jugendhilfeplanung zum Aufbau und Steuerung von fachlich geeigneten Inobhutnahmesettings und nachfolgenden Angeboten im Rahmen der Hilfen zur Erziehung ist unbedingt erforderlich
- Eine gezielte und planvolle Umsetzung der inklusiven Ausgestaltung der Inobhutnahme muss angegangen werden, das heißt u.a. in Stichworten:
- Diskussion und Entwicklung von Konzepten zur Umsetzung der inklusiven Ausgestaltung der Inobhutnahme
- aus den Erfahrungen der Inklusion im Kontext Schule lernen
- mit Selbstvertretungen der Kinder- und Jugendhilfe und der Behindertenhilfe Weiterentwicklungsbedarfe eruieren
- den Begriff „Fachkraft“ neu definieren, ohne die Standards der Jugendhilfe abzusenken.
All diese aufgeführten Punkte verweisen darauf, dass neben der Zunahme von Inobhutnahmen sich der dramatische Fachkräftemangel gravierend auf die Lebenssituation von betreuten jungen Menschen in Not auswirkt. Daher gilt: Die bestehende prekäre Situation bzw. Notsituation ist politisch anzuerkennen, um daraus resultierend kurzfristige und langfristige Maßnahmen abzuleiten und umzusetzen. Leitend muss die zwingende Sicherung der Rechtsansprüche auf Inobhutnahme und Hilfen zur Erziehung sein und die Standards in der Inobhutnahme müssen aufrechterhalten werden
Quelle: Positionspapier der IGFH vom 05.12.2022
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