Mehr Gehör und mehr Gewicht den Kinderrechten - Sozial.de im Gespräch mit Claudia Kittel
Vor einem dreiviertel Jahr hat Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig das zweijährige Projekt „Aufbau einer Monitoringstelle zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention“ gestartet. Leiterin wurde Claudia Kittel, eine ausgewiesene Vertreterin und Expertin für Partizipation und Vernetzung für Kinderrechte. Über zehn Jahre lang koordinierte sie zuvor Kinderrechtearbeit in der National Coalition zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland. Sozial.de sprach mit ihr anlässlich des Internationalen Kindertages über Ziele und Ansprüche.
Sozial.de: Hand aufs Herz, Frau Kittel, wann hatten Sie die bisher letzte Gelegenheit, Kinder und Jugendliche zu ihren Fragen und Problemen selbst zu hören?
Kittel: Vor einem Monat erst haben wir in einer Gemeinschaftsunterkunft für geflüchtete Menschen einen partizipativen Workshop mit Jugendlichen ab 12 Jahren durchgeführt, um herauszufinden, wie sich das Leben dort aus ihrer Sicht gestaltet. Wir haben von ihnen selbst erfahren, wo im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention der Schuh drückt. Zur Zeit untersuchen ja eine Menge Studien die Situation in Notunterkünften, Erstaufnahmeinrichtungen oder Gemeinschaftsunterkünften. Darin werden Platzenge oder „mit Eltern in einem Raum sein müssen“ als störendes oder verunsicherndes Moment für die Kinder und Jugendlichen herausgestellt.
Für uns war es spannend, auch Unterschiede festzustellen, wenn man die Kinder selbst fragt. Kinder und Jugendliche aus den Workshops sagten, dass das gar nicht das Allerschlimmste sei. Störendes Moment für sie war danach eher, dass es im angrenzenden Wohnumfeld Zäune gibt und der Hausmeister anweist, sich nicht in das angrenzende Wohngebiet zu begeben, weil sich die Anwohner gestört fühlen. Es gibt zwar kein ausgesprochenes Verbot, aber anscheinend Absprachen im Ort, wonach sich die Kinder und Jugendlichen nicht in anderen Wohnsiedlungen aufhalten sollen. Der öffentliche Raum ist also für sie nicht zugänglich. Das verstehen sie nicht. Zu Recht verstehen sie das nicht.
Wir haben so erfahren, dass es doch unterschiedliche Sichtweisen auf die gleiche Lebenssituation zu geben scheint, je nachdem ob man Erwachsener oder Kind/Jugendlicher ist.
Sozial.de: Die Wahrnehmung des Blickes der Kinder und Jugendlichen bleibt demnach Grundprinzip ihrer Arbeit...
Kittel: Sie ist ein Teil unserer Arbeit. Die Monitoringstelle hat die Arbeitskraft von vier Vollzeitstellen. Damit sollen wir ein systematisches Monitoring der Umsetzung der Kinderrechte auf Bundesebene, auf Landesebene und bis in den kommunalen Raum betreiben. Das können wir gar nicht so breit abdecken, zumal wir keine Strukturen von Kinderbeauftragten in Bundes-Ländern oder gar allen Städten haben, wie man sie beispielsweise für Menschen mit Behinderung kennt. Zum einen setzen wir deshalb auf Netzwerkarbeit mit Kinderbüros, die es ganz vereinzelt in Deutschland gibt, oder Kinderbeauftragten in Einrichtungen, in denen Kinder und Jugendliche sind. Wir sind auf eine Zusammenarbeit mit politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern angewiesen, mit denen wir uns zu bestimmten Themenfeldern treffen und diskutieren, wo die Problemlagen sind. Und wir treffen uns mit Kindern und Jugendlichen selbst. Das gehört zu unserem Selbstverständnis gemäß der UN-Kinderrechtskonvention.
Wir können nur im besten Sinne der Kinder und Jugendlichen arbeiten, wenn wir sie anhören. Das machen wir zum einen im Rahmen einer jährlichen Konsultation, zu der wir Strukturen der Kinder- und Jugendbeteiligung einladen. Wir haben ja in Deutschland Strukturen, in denen sich Jugendliche selbst organisieren und Strukturen, wo ihnen dabei geholfen wird, sich zu organisieren und die von sich sagen, sie sind eine Lobby für Kinder und Jugendliche. Wir treffen uns aber auch mit anderen Gruppen von Kindern, die wir als besonders diskriminiert und marginalisiert ausgemacht haben. Von diesenhören wir dann, wie es ihnen in ihrer besonderen Lebenslage geht.
Sozial.de: Wen genau meinen Sie, wenn Sie von Strukturen der Kinder- und Selbstbeteiligung sprechen? Können Sie Beispiele nennen?
Kittel: Wir haben eine Reihe von Jugendverbänden in Deutschland, der Deutsche Bundesjugendring bildet ihre Vielfalt ab. Dazu gehören beispielsweise die Katholische Jugend, die Pfadfinder oder die Falken, aber auch die Naturschutzjugend. Die im Jugendring zusammengeschlossenen Verbände haben sich eine Struktur auf Bundesebene gegeben, um auf politischer Ebene Lobbyarbeit für Kinder und Jugendliche zu gestalten.
Organisationen wie das Deutsches Komitee für UNICEF, die Vertretung des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) in Deutschland oder das Deutsche Kinderhilfswerk haben oft Kinder- und Jugendgruppen, Beiräte oder Parlamente, die sich regelmäßig treffen und zu Kinderrechten arbeiten.
Es gibt jedoch einen Unterschied in der Legitimation: Während Vertreter des Bundesjugendrings als Delegierte aus ihren Strukturen gewählt werden, nehmen beispielsweise Juniorbotschafter von UNICEF an den Konsultationen teil, weil sie Erfahrungshintergrund zu bestimmten Themen haben oder aufgrund eines tollen Kinderrechteprojektes, das sie gemacht haben, dafür ausgewählt wurden.
Im November 2015 haben wir uns mit Kindern und Jugendlichen und ihren gewählten Vertreterinnen und Vertretern zum ersten Mal ausgetauscht. Im November 2016 werden wir uns wieder treffen.
Sozial.de: Gehören auch lokale Kinderbeteiligungs-Strukturen, wie beispielsweise das Kinderparlament in Freiburg oder das Kinderbüro in München oder Frankfurt zu diesen Strukturen?
Kittel: Ja, sie gehören auch dazu. Die Kinderbüros und ihre Arbeit sie sind aber für uns noch einmal ein gesondertes Thema.
Wenn wir als Monitoringstelle strukturiert beobachten wollen, wie die Kinderrechte in Deutschland umgesetzt werden und Daten dazu erheben wollen, bestenfalls über Jahre hinweg, gehört für uns auch dazu, aufzuzeigen, wo gibt es überhaupt solche Kinderbüros und Kinderparlamente im Land. Wir arbeiten gerade an einer Deutschlandkarte, um vorhandende Strukturen abzubilden und starten dafür eine Umfrage. Einen Basisdatensatz haben wir von der Bundesarbeitsgemeinschaft kommunaler Kinderinteressenvertretungen erhalten.
Bisher berufen sich Politiker oft darauf, dass wir doch Kinderbüros in Deutschland haben, aber das sind vereinzelte Initiativen. Wir haben festgestellt, dass es reine Glückssache des Wohnortes ist, ob man in der Nähe so eine Möglichkeit hat. Deutschlandweit haben wir bisher nur an die 80 Kinderbüros ermittelt.
Kinderrechteprojekte haben zudem oft begrenzte Laufzeiten. Die Situation führt dazu, dass Kinder und Jugendliche keine klare Adresse kennen. Die UN-Sonderbeauftragte zu Gewalt gegen Kinder, Marta Santos Pais, hat einmal gesagt: Es muss doch eine Adresse geben, wo die Kinder und Jugendlichen wissen, hier sind die Kinderrechte zu Hause. Sie war ganz irritiert, dass es in Deutschland so etwas höchstens punktuell gibt.
Sozial.de: Erleben das Kinder und Jugendliche hierzulande auch so?
Kittel: Das ist der nächste Schritt in unserer Arbeit. Wir wollen Jugendliche befragen, ob sie wissen, wohin sie sich mit ihren Anliegen wenden können. Wir wollen auch fragen, wohin sie sich wenden wollen. Und wie eine Beschwerdestelle aussehen müsste, zu der sie gehen würden. Wäre das wirklich ein Kinderbüro?
Die Annahme ist, so wie das die National Coalition bereits in einer Umfrage erfahren hatte, dass die Kinder weniger zu Beschwerdestellen oder Büros gehen wollen. Sie wollen Freunden von ihren Problemen erzählen, Eltern und Menschen ihres Vertrauens. Problematisch wird das aber, wenn diese Menschen auch nicht wissen, was weiter passieren müsste.
Fachkräfte haben wir dazu auch bereits befragt und festgestellt, dass das strukturelle Wissen zu Beschwerde- und Rechtswegen sehr unterschiedlich ist. Wir müssen also auch sie über die verschiedenen Wege informieren.
Wir haben ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, das beschreibt, welche gerichtlichen Wege für Kinder und Jugendliche in Deutschland zugänglich sind oder auch welche Verwaltungsverfahren. Oder wann ein begleitetes Gespräch mit der Schulleitung hilfreich ist, um Lösungswege aufzuzeigen. Die Ergebnisse wollen im November im Rahmen unserer Konsultation mit der Zivilgesellschaft diskutieren.
Sozial.de: Sie setzen sich für ein System für Beschwerdemangement ein, das kindgerecht ist. Gibt es bereits erste Ideen dazu?
Kittel: In der Studie „Einsatz für Kinderrechte“ hat UNICEF international weltweit Kinderbeauftragte, nationale Ombudsstellen und andere Kinderrechtsstrukturen nach den Erfolgsfaktoren ihrer Arbeit befragt. Sie benannten nur wenige Faktoren. Danach läuft es gut, wenn
- diese Stellen auch Kinder- und Jugendbeteiligung pflegen und Schulungen dafür anbieten
- der Weg ganz einfach zu begehen ist, keine Amtswege und wenig Formulare das Verfahren vereinfachen und
- die Stellen unabhängig und nur für Kinderrechte zuständig sind.
Das heißt, sie dürfen nicht zur Kita, nicht zur Schule, nicht zur amtlichen Stelle wie Jugend- oder Schulamt gehören. Die Stellen müssen zugleich eindeutig parteiisch für die Kinder sein und sie in ihren Anliegen unterstützen.
Das hat die Studie herausgefunden, und ich finde, das klingt nach sehr einleuchtenden Basisbedingungen für eine gelingende Beschwerdekultur.
Sozial.de: Halten Sie die vorhandenen strukturellen Ansätze der Kinderbeteiligung für eine gute Basis zur Erarbeitung von kindgerechten Beschwerdestrukturen?
Kittel: Unbedingt. Wir haben gemerkt, dass sie nicht immer alle Faktoren abdecken können. Ein ganz großes Problem ist ihre Finanzierung, es fehlt Stetigkeit. Das verhindert Kontinuität in der Arbeit. Und ich denke, auch ein Sporttrainer muss Ansprechpartner für ein Kind sein können und dann Unterstützung im Sinne einer Lotsenfunktion erhalten, wenn es darum geht, herauszufinden, welcher Weg jetzt für das Kind oder den Jugendlichen mit seinem Anliegen bestritten werden soll oder kann. Die Evaluation des Bundeskinderschutzgesetzes hat auch festgestellt, dass die Beratung der Menschen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, durch die Jugendämter ein wichtiger Baustein bei der Bekämpfung der Gewalt gegen Kinder ist. Hier schlägt man nun vor, diese nun auch für Ehrenamtliche zu öffnen.
Im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe haben sich zudem zunehmend so genannte Ombudschaften der Kinder- und Jugendhilfe entwickelt.
Auch Ombudschaften sind ein Element eines kindgerechten Beschwerdemanagement-Systems. Sie selbst verstehen sich als Ombudschaft mit Rechtsberatung im Bereich der Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe. Was aber fehlt ist die Lotsenfunktion. Ein Kind unterscheidet nicht, ob das SGB VIII, das SGB XII, das Schulamt oder eine andere Behörde für sein Problem zuständig ist. Das überfordert Minderjährige.
Im Sinne der 54 Artikel der UN-Kinderrechtskonvention geht es auch um eine Anlaufstelle für alle die Kinder und Jugendlichen betreffenden Angelegenheiten, zum Beispiel kann es um den sozialen Nahraum gehen, es kann um Schule gehen oder um zu wenig Fahrradplätze in der Schule und keiner reagiert, obwohl man es bereits so oft dem Lehrer erzählt hat und nun weiß man nicht mehr, was man tun soll. Es geht um Beratung und Unterstützung auch in nichtrechtlichen Bereichen, zu Anliegen, die keinen Leistungsanspruch begründen, für die aber durchaus eine Lösung herbeizuführen wäre, wenn man Kinder als Rechtspersönlichkeiten einräumt, dass sie ihr Leben genauso gestalten und mitbestimmen wollen, wie es Erwachsene tun.
Sozial.de: Bei der Entwicklung eines kindgerechten Beschwerdemanagements schwingt auch immer die Frage mit, wer denn die Interessen der Kinder am besten vertreten kann. Eltern-, Kind- und Behördeninteressen stimmen ja nicht immer überein. Sehen Sie darin auch ein Konfliktfeld?
Kittel: Da gibt es eine wunderbare Vorlage aus der UN-Kinderrechtskonvention, Artikel 3, bei allen Entscheidungen, die Kinder betreffen, auch bei Verwaltungsverfahren, die nicht unmittelbar Kinderinteressen zu betreffen scheinen, die besten Interessen des Kindes vorranging zu berücksichtigen sind. Es ist eigentlich eine wunderbare Leitlinie, für alles Verwaltungs-Handeln zum Beispiel.
Nun ist aber passiert, dass in der deutschen amtlichen Übersetzung best interests of the child übersetzt wurden mit Kindeswohl.
Kindeswohl ist in Deutschland ganz stark geprägt durch die BGB-Regelungen der Kindeswohlgefährdung. Und immer dann, wenn das Kindeswohl gefährdet ist, darf der Staat nach diesen BGB-Regelungen in die Erziehung eingreifen. Mit dieser Übersetzung des Artikel 3 ist bei allen, die in der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten, sofort im Kopf präsent: Es geht um Schutzrechte und Abwehr von Kindeswohlgefährdungen.
Deswegen nehme ich immer die englische Originalfassung und übersetze sie mit den besten Interessen des Kindes, die vorrangig sein sollen.
Und wenn man sich fragt, was sind denn nun die besten Interessen des Kindes, dann hat der UN-Ausschuss für Kinderrechte in Genf, der das internationale Monitoring verantwortet, einen meiner Meinung nach sehr klugen Kommentar zum Artikel 3 verfasst. Darin heißt es, dass man die besten Interessen des Kindesnur sachgerecht ermitteln kann, wenn man die betroffenen Kinder selbst befragt. Wenn man sie also beteiligt, ihrer Meinung Gehör und Gewicht verleiht. Das ist ein wichtiger Aspekt.
Für alle Fachkräfte, die Kinder in der Wahrnehmung ihrer Rechte unterstützen möchten, heißt das, in den Dialog mit dem Kind zu treten und seiner Sichtweise Gehör und Gewicht zu verleihen. Das hat viel mit der eigenen Rolle zu tun. Das heißt nicht, das Kind selbst entscheiden zu lassen oder mit Entscheidungen zu überfordern, sondern heißt, sich einzulassen auf einen Dialog. Das kann auch bedeuten, dass die Fachkraft zu einer anderen Entscheidung als das Kind kommt. Wenn sie das Kind als Rechtspersönlichkeit wahrnimmt, wird sie in einer kindgerechten Art und Weise erläutern, warum sie zu dieser anderen Entscheidung gekommen ist.
Das ist noch nicht so umfassend in der Haltung von Fachkräften angekommen. Ich glaube, dass viele die Entscheidungen im Sinne der Kinder treffen wollen, aber Kinder nicht beteiligen, weil sie glauben, dass das jetzt nicht zur Lösung beitragen könne oder die Kinder schlichtweg überfordere.
In der Beteiligung von Kindern steckt aber das Moment der Würde des Kindes mit, das auch dem Geist der UN-Kinderrechtskonvention entspricht. Ob die Meinung des Kindes zur Lösung beiträgt, hat nicht der Erwachsene zu entscheiden, heißt es im Kommentar des UN-Ausschusses. Die Anhörung und Beteiligung ist ein Grundrecht, ja ein Menschenrecht des Kindes. Die Abwägung des Beitrages der Sichtweise des Kindes geschieht im Prozess der gemeinsamen Lösungssuche.
Wir haben es auch bei der Befragung der Kinder und Jugendlichen in den Gemeinschaftsunterkünften erneut erfahren: Kinder haben eine pragmatische Sicht. Ihr Blickwinkel bereichert, und man kann als Erwachsener profitieren. Die Beteiligung kann zu einer Lösung führen, mit der dann alle am Ende sehr viel zufriedener sind.
In der Beratung von Kitas habe ich bereits vor Jahren erfahren: Auch die Kleinsten kann man beteiligen, selbst bei Personalentscheidungen. Von den Teams habe ich im Feedback widergespiegelt bekommen, dass das für alle einen Gewinn war.
Sozial.de: Stimmt mein Eindruck, dass sich auch etwas in der Elterngeneration in punkto Beteiligung ihrer Kinder an Entscheidungen gerade etwas verändert?
Kittel: Ja, das ist so. Auch Studien, die kindgerecht arbeiten, zeigen das; zum Beispiel die Word Vision-Studie, da gibt es bereits die dritte innerhalb von sechs Jahren: Wenn man Kinder danach fragt, wer legt Wert auf Deine Meinung, dann schneiden die Eltern mittlerweile verdammt gut ab, es hat sich in den vergangenen sechs Jahren etwas immer weiter in diese Richtung bewegt. Aber zum Beispiel Lehrerinnen und Lehrer kommen nur auf halb so viele Punkte wie die Eltern und zeigen sogar sinkende Tendenzen. Ähnlich bei den Betreuenden an Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe.
Prozesse der Beteiligung von Kindern in der Familie, sozusagen Demokratie am Küchentisch, wie es eine Journalistin kürzlich nannte, werden wohl heute zunehmend zur Normalität. Das zeigen Studien durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurch, aber im Lebensfeld Schule zum Beispiel zeigt sich das noch nicht in dieser Deutlichkeit.
Da sehe ich für die Monitoringstelle, aber auch für das Institut für Menschenrechte generell einen Auftrag, gerade im schulischen Bereich auf eine menschengerechtere Bildung hinzuwirken, nicht nur Bildung über Menschenrechte, sondern durch und für Menschenrechte.
Sozial.de: Schlägt sich so der Bogen, dass Beteiligung der Kinder nicht nur Grundprinzip der Arbeit der Monitoringstelle ist, sondern auch ihr grundlegendes Ziel?
Kittel: Das ist die Vorgabe der UN-Kinderrechtskonvention. Und das ist das Kraftvolle an ihr. Ich behaupte einfach, zum Zeitpunkt ihrer Ratifizierung haben viele der Industriestaaten unterschätzt, was in ihr steckt. Die Konvention trägt in sich das Bild des emanzipierten Kindes, was natürlich mit einer riesengroßen Herausforderung verbunden ist. Als Staat muss man nicht nur Menschenrechte schützen und perspektieren, sondern auch den Rahmen dafür geben, sie umsetzen zu können.
Wenn man das auf die gesellschaftliche Beteiligung der Kinder und Jugendlichen, also ihr Einwirken als jetzt schon Teil von ihr, überträgt, dann muss es Befragungen in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe geben und Eltern müssen weiter darin unterstützt werden, sich weiter auf diesen Weg zu begeben.
Das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung hat dafür viel Rückenwind gegeben. Eltern-Kind-Beziehung-Kampagnenarbeit zu erarbeiten und zu begleiten. Ähnliches ist jetzt in der Kinder-Jugendhilfe zu erwarten. Da haben sie jetzt den Paragraphen 45, nachdem neue Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe nur dann eine Betriebserlaubnis bekommen, wenn sie eine Beschwerde- und Beteiligungsstruktur in ihrer Einrichtung nachweisen können. Das ist eine Muss-Bestimmung und große Herausforderung.
Sozial.de: Nicht nur da, wo Kinder leben, gehören die Kinderrechte gestärkt, sagen immer mehr. Es gibt mittlerweile auch prominente Befürworter der Forderung: „Kinderrechte ins Grundgesetz!“. Teilen Sie diese auch?
Kittel: Die Monitoringstelle unterstützt die Bestrebungen, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Es gibt zwar keinen Artikel in der UN-Kinderrechtskonvention dazu. Aber es gibt einen Kommentar des UN-Ausschusses für Kinderrechte zu den generellen Umsetzungsmechanismen der UN-Kinderrechtskonvention (Nr. 5). Der legt den Staaten nahe, Kinderrechte mit Verfassungsrang auszustatten. Wir stellen fest, dass Völkerrecht, und da vor allem die Kinderechte, in der Rechtsprechung noch zu wenig wahrgenommen werden. Selbst im Familienrecht, da wo dem Kind ein Anwalt zur Seite gestellt wird.
Aus einer Studie, die im Rahmen der Grundrechteagentur mit Kindern entstand, die an Gerichtsverfahren beteiligt waren, ist deutlich zu erkennen, dass es viel Nachholbedarf gibt. Viele Richterinnen und Richter sprechen von Überforderung bei Interviews mit Kindern, auch der Deutsche Familiengerichtstag hat noch einmal darauf aufmerksam gemacht, dass es keine Schulung gibt.
Die UN-Kinderrechtskonvention kommt in Urteilsbegründungen fast nie vor. Das heißt sie wird nicht ernstgenommen. Wenn Kinderrechte aber im Grundgesetz verankert sind, versprechen wir uns davon, dass die deutsche Rechtsprechung Kinderinteressen deutlich ernster nimmt.
Ich denke, alle Bereiche zur Wahrnehmung von Kinderrechten würden durch die Verankerung im Grundgesetz gestärkt werden, weil sie mit anderen Argumenten ausgestattet wären, auf die sie sich berufen können.
Sozial.de: Verbände diskutieren gerade, welche Auswirkungen die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz auf die Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe haben kann. Wie sehen Sie das?
Kittel: Ich glaube, der unmittelbare Zusammenhang lässt sich im Leistungsbezug schwer herstellen. Das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung hat nach seinem Inkrafttreten Auswirkungen auf die Weiterentwicklung und Novellierung des SGB VIII gebracht. Dass das ähnlich so mit der Verankerung der Kinderrechte sein könnte, nehme ich stark an.
Die Kinder- und Jugendhilfe würde auf ihrem Weg, die Stärkung der Subjektstellung des Kindes voranzubringen, sicherlich noch einmal Rückenwind erfahren. Wir haben hier mittlerweile den Paragraphen 8 SGB VIII, wonach die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen festgeschrieben ist und sogar das Recht der Kinder und Jugendlichen ohne Begleitung von Eltern eine Beratung in Not- und Krisensituationen in Anspruch nehmen zu können. Das sind alles Momente, die diese zunehmende Stärkung der Subjektrolle von Kindern und Jugendlichen widerspiegeln. Und diese Entwicklung würde sicher noch einmal einen ordentlichen Schub bekommen, so dass dabei unser Kinder- und Jugendhilfegesetz, Kinderrechte im Sinne der UN-Kinderrechtskonvention abbilden würde. Das nehme ich zumindest stark an.
Sozial.de: Wenn man Partizipation weiterdenkt, wären ja auch Kinder und Jugendliche an der Gesetzesentwicklung selbst zu beteiligen…
Kittel: Wenn man forsch ist, geht man so weit. Und ganz utopisch ist das gar nicht. Es gibt sogar Entwicklungen in die Richtung, Gesetze durch Kinder und Jugendliche zumindest auf Kinder- und Jugendtauglichkeit zu prüfen. Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung steht die Entwicklung eines Jugend-Checks. Es gibt tatsächlich Bestrebungen, Gesetze in ihrer Entwicklung von den organisierten, so nenne ich sie jetzt mal, Jugendvertretern, wie dem Bundejugendring, prüfen zu lassen.
Am 15. Juni 2016 gibt es eine Fachtagung, zu der ich eingeladen bin. Ich bin sehr gespannt darauf.
Sozial.de: Spüren Sie in Ihrer Arbeit, dass sich die Stimmung für mehr Kinderpartizipation auch in der Gesellschaft ändert?
Kittel: Das Ganze steckt ganz bestimmt noch in den Kinderschuhen, aber es greift um sich. Wir haben Bundesländer wie Schleswig Holstein, die eine Mussbestimmung in der Gemeindeordnung haben zur Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Auch in der Verwaltung entsteht langsam aber stetig ein Bewusstsein, anfangs noch mit Augenrollen. Aber wenn die Beteiligten dann erfahren, dass das gewinnbringend war, kann es sogar sein, dass man sich schon auf ein nächstes Verfahren freut… Ich bin ganz zuversichtlich, dass auch die Gemeinden oder Schulen zunehmend mit Kinderbeteiligung punkten werden.
Sozial.de: Das wird aber sicher Zeit brauchen. Wie wird es mit der Monitoringstelle nach der zweijährigen Aufbauphase weitergehen?
Kittel: Wir wollen natürlich als eine gut aufgestellte und vernetze Monitoring-Stelle und als fester Bestandteil des Instituts für Menschenrechte weiterarbeiten und versuchen mit unseren Arbeitsergebnissen zu bestätigen, dass es sinnvoll ist, so eine Monitoringstelle zu haben.
Herzlichen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch führte Ines Nowack, Chefredakteurin Sozial.de