„Nichts über uns - ohne uns“
In welchen Bereichen des menschlichen Miteinanders erfahre ich als junge Frau mit Behinderung Diskriminierung und wie können wir diese gemeinsam reduzieren? Was erzählt uns der Stand der Inklusion in unserer Gesellschaft über unser Zusammenleben insgesamt, über unser Wertesystem, über unser Selbstverständnis, über die Funktionalität unseres politischen Diskurses? Was können wir alle über uns und die Gesellschaft lernen, wenn wir uns mit Inklusion beschäftigen?
Mein Name ist Charlotte Zach, ich bin 27 Jahre alt, Psychologin und Rollstuhlfahrerin. Ich möchte in dieser Kolumne zukünftig gerne die Schnittstellen zwischen verschiedenen großen und kleinen Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens mit dem Thema Inklusion beleuchten:
Ich möchte Sie mitnehmen, von alltäglichen Beispielen aus meinem Alltag, über das Aufzeigen von strukturellen Problemen hinleiten zu großen sozialen Fragen, Herausforderungen und Möglichkeiten.
Dafür möchte ich in meinem ersten Beitrag erläutern, warum Inklusion vor allem ein politischer Prozess ist und was es bedeuten würde, sich als Mensch mit Behinderung politisch zu ermächtigen.
Historisch betrachtet wurden Menschen mit Behinderungen Jahrtausende lang aus dem öffentlichen Bild des gesellschaftlichen Zusammenlebens herausgedrängt: Sie wurden versteckt, eingesperrt und in Sondereinrichtungen, welche an den Rändern der Städte positioniert wurden, abgeschoben. Diese Praxis wurde erst in den letzten 30 Jahren nennenswert aufgebrochen und als menschenverachtend erkannt und benannt. Unabhängig von der Art ihrer Behinderung haben Menschen die Erfahrung gemacht, dass sie entweder ausgeschlossen und dadurch unsichtbar gemacht wurden, oder die Erwartung an sie herangetragen wurde, sie sollten sich der „gesunden Norm“ anpassen, ihr funktionales Defizit individuell lösen und ihre Behinderung selber kaschieren, um an der Mehrheitsgesellschaft teilhaben zu dürfen - auch hierbei handelt es sich um eine Form des Unsichtbar-Machens der Behinderung.
In jedem Fall führte diese Praxis dazu, dass die Interessen, Bedarfe und Probleme von Menschen mit Behinderung im Abwägungsprozess politischer Interessen nicht vorkamen und immer noch sehr wenig vorkommen – viel weniger, als die vieler anderer marginalisierter Gruppen, denen über die letzten Jahre (zum Glück) häufig eine Solidaritätsbewegung aus dem politisch linken Milieu zuteil geworden ist. Diese entsteht für Menschen mit Behinderung jedoch nur sehr zögerlich- oder auf wie vielen Demonstrationen für die Rechte von Menschen mit Behinderung waren Sie bereits?
Die Folge und zugleich Teil der Ursache dieser fehlenden politischen Repräsentation der eigenen Interessen im gesellschaftlichen Diskurs ist ein parternalisierendes, infantilisierendes System der Fürsorge und der Entmündigung von Menschen mit Behinderung, welches ihnen die Artikulation der eigenen Perspektive unmöglich machte: Einem Kind hört man nicht zu. Somit befanden und befinden sich Menschen mit Behinderung seit Jahrhunderten in einem Teufelskreis aus fehlender (Selbst-) Repräsentation in der politischen Debatte und der Diskreditierung der Fähigkeit, den eigenen Standpunkt vertreten zu können. Stattdessen wurden behindertenpolitische Debatten lange Zeit maßgeblich von den Organisationen und Institutionen bestimmt, die das System der Fürsorge bilden: Kostenträger und Anbieter der „Behindertenhilfe“. So sehr der Ansatzpunkt und die Arbeit dieser Institutionen historisch bitter notwendig und sehr hilfreich waren, so sehr zeigt sich, dass es sich aus heutiger Perspektive vielfach um segregierende und diskriminierende Strukturen handelt, die sich nun wandeln müssen- denn: Welches Frauenhaus wird von einem Mann geleitet? – Keines, genau. Aber (fast) keine Institution der Behindertenhilfe wird von einem Menschen mit Behinderung geführt.
Deswegen bedeutet eine inklusive Gesellschaft zu formen vor allem auch, die politische Teilhabe von Menschen mit Behinderung zu stärken. Wir leben in einer Demokratie, in der die Frage „Wie wollen wir leben“ in der politischen Öffentlichkeit ausdiskutiert wird - und an genau der müssen Menschen mit Behinderung mehr direkt teilhaben können, um ihre Belange selber zu vertreten. Inklusion bedeutet vor allem, die Hierarchie zwischen Menschen mit Behinderung und Menschen ohne Behinderung abzubauen. Inklusion bedeutet nicht bloß, irgendwie mitmachen zu können, sondern es bedeutet, mitzugestalten und mit zu bestimmen.
Die Krux an der Geschichte ist: Basieren tut dieses System des Ausschließens und der Entmündigung, das wir heute Ableismus nennen, auf dem Gedanken der Wertigkeit aufgrund der (angeblichen) Produktivität von Menschen. Wer einen produktiven Beitrag für unsere Gesellschaft beisteuern kann, ist ein wertvolles Mitglied. Abgesehen von der moralischen Fragwürdigkeit dieser Position, die sehr eng mit dem Gedanken der Leistungsgesellschaft verknüpft ist, ist die Annahme, Menschen mit Behinderung könnten keinen Beitrag leisten auch ein Trugschluss, eine selbsterfüllende Prophezeiung basierend auf einem Teufelskreis aus Chancenungleichheit und strukturellen Barrieren. Insbesondere in einer modernen, spezialisierten und technologisch fortgeschrittenen Gesellschaft ist diese Annahme in vielen Fällen nicht haltbar.
Trotzdem bleiben zwei Fragen: Was macht es mit dem Selbstbild eines Individuums, ständig als unproduktiv und deshalb wertlos deklariert zu werden, wie geht man damit um und wie kann man sich davon distanzieren? Und zweitens: In was für einem Wertesystem möchten wir leben? Ist die Idee von Inklusion mit der der Leistungsgesellschaft vereinbar? Was können wir durch die Auseinandersetzung mit Inklusion über unsere Gesellschaft lernen, über ihre Werte und welche Widersprüche können wir demaskieren?
Auf eine Reise diesen Fragen nachgehend möchte ich Sie gerne in meiner Kolumne mitnehmen. Ich hoffe, es wird ein gewinnbringender Perspektivwechsel.