Pflege zu einem Akt der Zuwendung machen
Redaktion Sozial.de im Gespräch mit der Seniorenpflegeheim-Leiterin, Claudia Stegmann-Schaffer, über ihren Weg, dementen Menschen besser gerecht zu werden
Verfolgt man Pressemeldungen der vergangenen Monate gewinnt man leicht den Eindruck, mitmenschliche Pflege habe eher Seltenheitswert in den Senioren-Pflegeeinrichtungen dieses Landes. Die Pflege in Deutschland kämpft um ihr Image, die Pflegequalität von stationären Einrichtungen kommt kaum aus der Kritik heraus, der Streit um die Zukunft der Ausbildung scheint kein Ende zu nehmen. In diesem öffentlichen Schlagabtausch gehen diejenigen leicht unter, die andere Wege erproben. Den Werdenfelser Weg zum Beispiel. Verschrieben haben sich ihm und seiner Verbreitung in immer mehr deutschen Regionen ein Jurist und Richter am Amtsgericht sowie ein Sozialpädagoge und Leiter der Betreuungsstelle in Garmisch-Partenkirchen. Ihr Ziel, vermeidbare Freiheitsbeschränkungen konsequent zu reduzieren. Zum eigenen Fachtag strömen immer mehr Fachleute.
Auf dem 4. Fachtag, der kürzlich in München mit dem Thema „Möglichkeiten zur Vermeidung medikamentöser Fixierung“ stattgefunden hat, berichtete die Leiterin des Seniorenpflegeheims St. Maria im baden-württembergischen Dietenheim-Regglisweiler, Claudia Stegmann-Schaffer, von den Veränderungen in ihrem Haus, die sich im Umgang mit dementen Bewohnerinnen und Bewohnern ergaben, seit sie eine französische Pflegemethode eingeführt hat. Auf der Suche nach neuem Handwerkzeug hatte sie zuvor nicht nur den Blick über den nationalen Tellerrand gewagt, sondern ließ sich in Frankreich von einer Pflegephilosophie und Methodik mit dem Namen Humanitude© (Mitmenschliche Pflege) * anstecken und selbst darin ausbilden.
Im Zentrum dieser Methode stehen nicht funktionale körperbezogene Pflegeinterventionen, sondern die Beziehungsqualität zwischen Pflegenden und Gepflegten mit einer besonderen Betonung auf zuwendungsorientierte Berührung. Blickkontakt und Sprache. Die Redaktion Sozial.de sprach mit ihr darüber.
Etwas provokant gefragt, Frau Stegmann-Schaffer, was hat Berührung mit Pflegequalität zu tun?
Stegmann-Schaffer: Pflege ist natürlich immer zu einem großen Teil mit Berührung verbunden. Und für Menschen mit Demenz haben Berührungen eine ganz wesentliche Bedeutung. Mit Berührung, Ansprache und Blickkontakt kann es uns gelingen, sie auch in ihrer tiefsten Versunkenheit zu erreichen. Das ist die Basis für eine gute Pflege von Menschen, die so sehr in ihrem emotionalen Erleben verhaftet sind. Menschen mit Demenz sind schon seit Jahren die mit Abstand größte Gruppe von Bewohnern in vielen Seniorenpflegeheimen. Bei uns beispielsweise betrifft das etwa drei Viertel aller 60 Bewohnerinnen und Bewohnerinnen.
Um ihnen gerecht zu werden, habe ich mich mit den wichtigsten Ansätzen der Demenzpflege wie Validation, dem personenzentrierten Ansatz nach Kitwood und auch mit dem psychobiografischen Ansatz nach Erwin Böhm vertraut gemacht. Im Zuge dessen habe ich mir immer gewünscht, eine praktikable und gut umsetzbare Zusammenfassung zu finden, denn jeder dieser Ansätze bringt wichtige Gesichtspunkte ein.
Vor sechs Jahren habe ich im Rahmen eines Demenzkongresses in Nürnberg den Erfinder von Humanitude© kennengelernt. Es war ein Schlüsselerlebnis, denn ich gewann den Eindruck, dass ihm gelungen war, wonach ich suchte. Nach Schulungen in Frankreich und Praxiseinsätzen in französischen Pflegeheimen erhielt ich 2011 die Anerkennung als Ausbilderin und erneuere jährlich das Zertifikat.
Es heißt, es mangele hierzulande nicht an guten Konzepten im Umgang mit dementen Menschen, sondern an der Umsetzung…
Stegmann-Schaffer: Ja, Sehen Sie, das begeistert mich so an Humanitude©: Die Methode basiert zwar auf anspruchsvoller Theorie, ist aber gut auch an der Basis vermittelbar. Geschult wird in der Praxis, bei den Menschen vor Ort.
Es kann und darf ja keine Geheimwissenschaft sein, mit alten demenzkranken Menschen gut und zugewandt umzugehen. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen einbezogen werden. Es macht viel Sinn, auch die Helfer, die Servicekräfte und andere Personen zu schulen, die im Kontakt mit demenzkranken Bewohnerinnen und Bewohnern stehen. Allerdings ist ein Umdenken erforderlich und die Bereitschaft, anzuerkennen, dass sich das emotionale Erleben von Menschen mit Demenz oft nicht wesentlich von dem von Menschen ohne Demenz unterscheidet. Nur die Auslöser sind unterschiedlich.
Pflege zu einem Akt der Zuwendung zu machen, im emotionalen Gedächtnis als angenehm zu verankern und dafür das nötige Handwerkszeug zu vermitteln, ist mein Antrieb, seit ich Humanitude© in meiner Einrichtung eingeführt habe.
Was ist zum Beispiel im Zusammenhang mit Berührung wichtig zu wissen?
Stegmann-Schaffer: Es gibt die verschiedensten Arten der Berührung. Sie verfolgen immer einen praktischen Zweck: Die pflegebedürftigen Bewohner werden bei der Körperpflege berührt, beim Ankleiden, bei der Hilfe beim Gehen, beim Abtasten, bei Untersuchungen…. Humanitude© zu realisieren bedeutet, Pflegemaßnahmen immer im Einverständnis durchzuführen. Um das zu erreichen, müssen wir diese professionellen Berührungen so gestalten, dass sich die Menschen mit Demenz angenommen und verwöhnt fühlen. Dass sie dabei zum Beispiel auch gewaschen werden, tut der Sache keinen Abbruch. Wenn ich mir der nonverbalen, emotionalen Botschaften bewusst bin, die meine Berührung immer vermitteln und sie deshalb angenehm gestalte, beginnt der Tag für einen pflegebedürftigen Menschen mit 20 Minuten Zuwendung. Der Unterschied besteht in der Absicht: Wer sich auf die Verrichtung konzentriert, handelt in erster Linie praktisch und schrubbt beispielsweise einen Rücken wie ein Möbelstück. Wer sich auf die Beziehung zum Menschen konzentriert, berührt ihn sanft und liebevoll und erreicht dennoch das Hygieneziel. Die Methode vermittelt dazu ganz praktisch Techniken.
Kann Zuwendung dieser Art auch helfen, Psychopharmaka bei Demenz zu reduzieren?
Stegmann-Schaffer: Medikamente werden nach meiner Beobachtung meistens dann eingesetzt, wenn die Pflege eines Menschen, der zum Beispiel herausforderndes Verhaltensproblem zeigt, anders nicht mehr zu gewährleisten ist. Nicht selten wird davon ausgegangen, dass das grundsätzlich aus Bequemlichkeit geschieht oder um Kosten für Pflegekräfte einzusparen. Das ist nicht sehr fair gegenüber der Pflege. Häufig werden Medikamente verordnet, um die Angst, Unruhe und Not der Menschen mit Demenz zu lindern, obwohl wir alle wissen, dass die Wirkung oft überschätzt wird. Hinzu kommen die verständlichen Bedürfnisse anderer Bewohner und Angehöriger, die ja bei allem guten Willen durchaus in ihrer Lebensqualität von sehr unruhigen Menschen mit Demenz, die vielleicht. permanent umhergehen, in fremde Zimmer eindringen oder stundenlang laut rufen, beeinträchtigt werden.
Psychopharmaka sind dann der Versuch, das den Pflegenden oft unverständliche Verhalten der Demenzkranken zu beeinflussen, ohne die echten Ursachen genau zu ermitteln. Wir alle unterliegen der Versuchung, Dinge aus bekannten Fakten heraus zu deuten, eine Gefahr, die auch für Ärzte und Pflegekräfte besteht. Die Diagnose Demenz überlagert oftmals andere Faktoren, die das Verhalten eines kognitiv eingeschränkten Menschen beeinflussen können
Ich meine, wir können nicht mehr Zeit für die Pflege einsetzen, aber wir können die Zeit und die Begegnungen anders und bewusster nutzen und so dafür sorgen, dass die Menschen sich als gleichberechtigte und angenommene Mitmenschen erleben. Wenn es uns gelingt, den betroffenen Menschen ein Umfeld zu geben, in dem sie sich geborgen fühlen und Nähe erfahren, baut das erfahrungsgemäß oft die Unruhe ab. Wir können also sehr wohl dafür sorgen, dass das Umfeld eines verletzlichen Menschen nicht zum Weglaufen ist.
Spielt der Faktor Zeit nicht eine Rolle, der das zu verhindern droht?
Stegmann-Schaffer: Immer wieder geben Pflegekräfte den Zeitmangel als wichtigsten Faktor an. Als alter Hase kann ich aber sagen, dass Zeit nur ein Faktor unter mehreren ist. Ich sehe in der Praxis und auch wenn ich mich selbst beobachte oft, dass es durchaus Stellen gibt, an man denen effizienter vorgehen könnte, um dann bei den Bewohnerinnen und Bewohnern weniger gehetzt arbeiten zu können.
Das bedeutet nicht, dass so viel Zeit zur Verfügung steht, wie wir alle uns wünschen würden. Letztlich aber kommt es auf die Qualität der Zeit an, die wir dem Bewohner widmen können. Nehmen wir ein Beispiel aus unserer Realität: Menschen können 50 Jahre miteinander verheiratet sein und dennoch jeder für sich Einsamkeit erleben, weil die gemeinsame Zeit nicht bewusst gestaltet wird. Im Gegenzug kann eine liebevolle kurze Begegnung, ein liebes Wort oder ein fröhliches Lachen Kraft für einen ganzen Tag geben.
Die Arbeitsverdichtung hat aber zur Folge, dass sich die Pflegenden mehr auf das als bedrohlich empfundene Pensum konzentrieren; und dann kommt die Mitmenschlichkeit zu kurz.
Was hat sich inzwischen in Ihrem Haus verändert?
Stegmann-Schaffer: In meiner Einrichtung hat sich manches verändert. Obwohl auch Humanitude© keine Wunder wirkt, hat es unter anderem dafür gesorgt, dass die Bereiche über fachliche Grenzen hinweg konstruktiv zusammenarbeiten. Unsere Fallbesprechungen haben an Tiefe und Facettenreichtum gewonnen. In den vergangenen Jahren konnten wir immer mehr auf Freiheitsentzug verzichten oder nur Maßnahmen wie Transponderarmbänder einsetzen. Das liegt daran, dass sich ein anderes Verständnis für die Bewohner, ihr Erleben und ihre Bedürfnisse entwickelt hat. Bei einigen Menschen, die aggressiv wirkten, konnten wir häufig die Psychopharmaka reduzieren oder absetzen.
Andere, die teilnahmslos in ihrer Demenz vor sich hindämmern, können wir besser erreichen und erleben, dass sie zumindest für eine kurze Zeit aufleben und reagieren. Insgesamt hat sich ein geschärfter Blick dafür entwickelt, was die Menschen brauchen, um sich bei uns daheim zu fühlen.
Das hat Auswirkungen auf alle Bereiche des Hauses. Unser Beschäftigungsangebot setzt stark auf Bewegungsförderung, eine weitere Säule von Humantitude. Hauswirtschaft und Haustechnik beziehen immer wieder Bewohner mit ein, wo immer das möglich ist. Davon profitiert das ganze Haus, dem von Angehörigen, Praktikanten und Besuchern eine warme, heimelige Atmosphäre attestiert wird.
Herzlichen Dank für das Gespräch! Das Interview führte Ines Nowack, Chefredakteurin Sozial.de
* Der Franzose Yves Gineste hat gemeinsam mit seiner Frau Rosette Marescotti Pflegetechniken entwickelt, die durchgehend auf der „Philosophie des Menschseins“ (Humanitude©) beruhen. Die Methodik wurde aus der Praxis heraus entwickelt und findet in Frankreich, Kanada, den Beneluxländern, Portugal, Italien und der Schweiz Anwendung. In Japan ist sie Gegenstand wissenschaftlicher Forschung durch die Universität Tokio, bei der Yves Gineste eine Gastprofessur innehat. In Deutschland ist die Methode relativ unbekannt. Derzeit liegen Studienergebnisse bisher nur auf Französisch und Japanisch vor. Gut belegt ist danach dass pathologisch agitiertes Verhalten, das heißt Abwehrverhalten bei konsequenter Umsetzung der Methoden von Humanitude© um fast 75 Prozent reduziert werden kann. Auch die Wirkung auf Menschen, die die Pflege eigentlich nur teilnahmslos über sich ergehen lassen, ist deutlich. Eine deutsche Evaluation ist jedoch nicht bekannt.