Politische Farbenspiele
Farben sind Signale! Farben sind Verführungen! Farben sind… Die Aufzählungen und das Sammeln von Eindrücken über Farben ist ein Wortspiel über den über das Auge und das Gehirn geleiteten Sinneseindruck.
Die Farbbetrachtung ist abhängig von vielfältigen, physischen, psychischen und optischen Wahrnehmungen. Die Benennung von Farben orientiert sich dabei an natürlichen oder künstlichen Vorgängen: Gras ist grün, Blut ist rot, die Zitrone ist gelb, die Blume ist blau… Die Begriffsbezeichnungen werden vielfach übertragen auf Situationen, Ereignisse, Erzählungen, kulturelle und historische Gegebenheiten. Wir sprechen von warmen und kalten Farben, von Grundfarben, Farbmischungen und vom Farbspektrum; von Schwarz-Weiß- und Farbbildern. So ist es nicht verwunderlich, dass Farben in vielfältiger Weise auch benutzt werden, um wünschenswerte oder unerwünschte Wirkungen bei Menschen zu erzielen – in der Werbung, in der Erziehung, im Beruf, in der Mode, im Theater, der Musik und Literatur, und in der Politik. Farben in der Politik.
Politische Parteien, Zusammenschlüsse, Programme und Ideologien benutzen Farben als Kennzeichnung und Identifikationsmittel für ihre Ideen. Sind sie etabliert, bedarf es vielfach nur der Farbdarstellung und gar nicht mehr der Nennung des Parteinamens, um die jeweilige Organisation zu identifizieren: Die Roten sind die Sozialisten und Kommunisten, die Schwarzen die Konservativen, die Gelben die Freiheitlichen, die Grünen die Ökologen, die Braunen die Faschisten… Beim näheren Nachdenken über diese allzu vereinfachenden Zuordnungen wird bald deutlich, dass die zugeschriebenen Farbwirkungen einer intensiveren Auseinandersetzung und Reflexion bedürfen. Das soll hier erfolgen und als fächerübergreifender Unterrichtsvorschlag eingebracht werden.
Farben können Informationen vermitteln und Ordnungen schaffen
Der Mensch ist ein Lebewesen, das auf Ordnung angewiesen ist und das Chaos bewältigen kann. In der antiken, anthropologischen und aristotelischen Philosophie als Zusammenfassung der Teile zu einem geordneten Ganzen verstanden. Die Ordnung in einem Staat wird durch Recht und Gesetz garantiert. Sie wirkt sichtbar und unsichtbar, institutionalisiert und verfasst. „Die Natur ist Ursache der Ordnung… Das Ungeordnete … ist nichts anderes als das, was gegen die Natur passiert“[i]. Grundlage dieses Bewusstseins, in den Zeiten des „Alles-ist-machbar“ in besonderer Weise gefordert, ist die Erkenntnis, dass humane Ordnung menschengemacht ist. Der Zürcher Kulturanthropologe Stefan Groth und die Basler Doktorandin für Kulturanthropologie, Linda Mülli, lassen in dem Sammelband „Ordnungen in Alltag und Gesellschaft“ Autorinnen und Autoren zu Wort kommen, die die vielfältigen, fachbezogenen und fächerübergreifenden Aspekte des (politischen) Ordnungsbegriffs reflektieren, z. B. mit der Frage danach, wie die allgemeingültigen, nicht relativierbaren Ordnungsansprüche der Menschenrechte begründet und geregelt werden; mit welchen Argumenten Gendergerechtigkeit gefordert wird; wie sich lokale und globale soziale Gleichheit verwirklichen lässt; wie in der Wirtschaft und im Konsum gerechte Orientierungen möglich werden, weil Ordnung Streben nach Gleichgewicht, Balance, Stabilität, Organisiertheit, Ganzheit, Klarheit, Tugendhaftigkeit, Stimmigkeit und Zugehörigkeit ist und „nicht lediglich festgeschriebene oder relativ statische Ordnungssysteme, sondern immer auch dynamisch, Teil von Aushandlungen und multidimensional (sind)“[ii].
Ordnung ist Tugend
Im anthropologischen, psychologischen, philosophischen und politischen (Nach-)Denken und Handeln der Menschen haben Tugenden als Richtwerte für die Conditio Humana eine hohe Bedeutung. In der antiken griechischen Philosophie wird aretê als Besstheit und Vortrefflichkeit benannt. Aristoteles unterscheidet zwischen ethischen und dianoetischen Tugenden. Während die ersteren auf den Charakter zielen, orientieren sich die anderen eher an der Vernunft der Menschen. Immanuel Kant fasst die unterschiedlichen Eigenschaften und Kompetenzen zusammen, indem er mit dem kategorischen Imperativ den Maßstab für menschliches Verhalten setzt, das in der „globalen Ethik“, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zum Ausdruck kommt: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnende Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“. Beim Zusammenleben der Menschen sind anerkannte Wert- und Moralvorstellungen notwendig, die im Lebensganzen der Gemeinschaft anerkannt und praktiziert werden. Der an der Universität in Gießen lehrende und forschende Soziologe und Theologe Reimer Gronemeyer macht sich mit dem Essay „Tugend“ auf die Suche nach den Werten, die in den Zeiten der Verunsicherungen, der ego-, ethnozentristischen, nationalistischen, fundamentalistischen und populistischen Weltentwicklungen Halt geben können. Sind es überholte, nicht mehr überzeugende oder im Weltenwandel unbrauchbare Tugenden? Oder braucht es eines neuen Nachdenkens und Wertbewusstseins darüber, wie die Menschheit human überleben kann? Gronemeyer ist ein Optimist. Er glaubt an die Vernunftbegabung der Menschen; an die moralische und tugendhafte Fähigkeit, Gutes vom Bösen unterscheiden zu können und nach einem guten, gelingenden Leben zu streben, und zwar human, also nicht egoistisch, sondern solidarisch. Es ist die Überzeugung, dass eine gerechte, friedliche und gleichberechtigte Eine Welt möglich ist. Mit der Frage: „Wie gefährdet ist die Gemeinschaft?“ nimmt er eine Bestandsaufnahme zur Lage und Entwicklung der Welt vor. Die Feststellung, dass das Alte, Hergebrachte, Traditionelle, Überlieferte, Gewohnte und Erhoffte zerbricht, und sich Egoismus, Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit breit machen, wird nicht mit Fatalismus und Ohnmacht beantwortet. Es wird vielmehr danach gefragt, wie das Neue, Widerständige, Gegenwartsverändernde und Zukunftsorientierte aussehen muss. Es braucht den Perspektivenwechsel, wenn wir Ausschau halten wollen nach den „neuen Tugenden, die wir brauchen“. Und siehe da: Es sind Tugenden und Werte, die wir kennen. Es braucht (nur) eine neue Aufmerksamkeit, Empfindsamkeit, Empathie und Selbstbegrenzung[iii].
Die Ordnung wird gestört
Es sind die ideologisch gesteuerten, lokalen und globalen Kakophonien und Alltagsrassismen[iv], die das Ordnungsdenken und –handeln be- und verhindern. Stereotype, Vorurteile, ego-, ethnozentriertes und rassistisches Denken und Handeln hat es in der Menschheitsgeschichte immer wieder gegeben – und gibt es weiterhin! Die Strategien der Rassisten und Populisten basieren dabei immer auf Höherwertigkeitsvorstellungen der eigenen Person und der jeweiligen Gemeinschaft und damit der Minderwertung des Anderen, des Fremden. Fremdenangst und Fremdenfeindlichkeit sind dabei die Treibriemen im Geschlingere von Diskriminierung und Menschenverachtung. Rassismus zeigt sich in vielfältigen Formen. Es wird vom kulturellen, sozialen, wissenschaftlichen, ideologischen, politischen, theologischen und literarischen Rassismus gesprochen. Allen Varianten ist gemeinsam, dass sie die eigene Herkunft und Wertigkeit über die von Anderen stellen. In der UNESCO-Erklärung über Rasse und Rassenvorurteile vom 28. November 1978 heißt es in Art. 1 u.a.: „Alle Menschen gehören einer einzigen Art an und stammen von gemeinsamen Vorfahren ab. Sie sind gleich an Würde und Rechten geboren und bilden gemeinsam die Menschheit“. Die US-amerikanische Nobelpreisträgerin und Literaturwissenschaftlerin Toni Morrison (1931 – 2019) hielt im Frühjahr 2016 an der Harward-University bei den „Charles-Eliot-Norton-Lectures“ Vorlesungen über die „Literatur der Zugehörigkeit“. Sie setzte sich damit mit den aktuellen, gesellschaftspolitischen und Identitätsentwicklungen in den USA auseinander, wie sie sich seit dem Wechsel von der Obama- zur Trump-Administration vollzieht und die Gesellschaft spaltet. Sie zeigt Entwicklungen auf, wie sie sich in der Geschichte und Gegenwart (nicht nur in den USA) als Be- und Verhinderungen von Integration und Gerechtigkeit vollzogen haben und weiterhin wirken; etwa mit der Romantisierung und gar Leugnung von Sklaverei und Unmenschlichkeit; der Farbenfetischisierung von Weiß und Schwarz; und der Entheimatung der Ungleichen. Es ist das Phänomen und die beunruhigende oder auch hingenommene Erfahrung, dass es schwierig ist, nicht rassistisch zu sein; weil Rassismus nicht immer brachial und öffentlich sichtbar ist, sondern mentalitätsbezogen und insgeheim daher kommt – als Stereotyp, Vorurteil, gemachte oder gewordene Einstellungen: „Das ist schon immer so gewesen!“ – „Es ist gottgewollt!“ – „Es ist normal!“. Morrison zeigt an Literaturbeispielen die Vielfalten des „Farbendenkens“ auf. Gleichzeitig warnt sie vor der Gefahr, in die „Falle des Kolorismus zu tappen“; denn es ist notwendig, so die Autorin, „dem billigen Rassismus die Zähne zu ziehen und den allgegenwärtigen, gedankenlosen, wohlfeilen Hautfarbenfetischismus zu brandmarken und auszutilgen“[v].
Be- und entgrenzt
Sich farblich, persönlich, räumlich oder gedanklich abgrenzen, bewirkt Distanz. Bild und die Realität unterscheiden sich. Miit dem Begriff "Grenzsituation" bezeichnet der Philosoph Karl Jaspers die Situation, „in der das menschliche Dasein in seinem Wesen und seiner Verfasstheit ausdrücklich wird“[vi]. Im aristotelischen philosophischen Denken kommt zum Ausdruck, dass da, „wo Entstehen (genesis) und Bewegung (kinêsis) ist, auch eine Grenze sein muss“[vii]. Es ist die Vielfalt und die Interdependenz, dass Grenzen Mauern und Brücken sein können, zu trennen und zu verbinden in der Lage sind, und im Farbenspiel überraschende Eindrücke vermitteln können. Die Auseinandersetzung mit Grenzen lässt sich zeitlich und räumlich, politisch, kulturell und symbolisch, materiell und geistig, psychologisch und philosophisch, disziplinär und interdisziplinär, individuell und kollektiv führen. An der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde diesen Fragen in einer interdisziplinären Ringvorlesung nachgegangen. Dabei wurden „Grenzen des Wissens – Grenzen der Welt“, „normativen Grenzen – entgrenzte Normen“ und „Grenzen der Künste – Künste als Grenzgänger“ thematisiert. In unserem Zusammenhang sind insbesondere die Reflexionen über den dritten Bereich interessant; etwa, wenn der Eichstätter Kunsthistoriker Dominik Brabant Überlegungen zu „Grenzerkundungen eines Genremalers“ anstellt; oder die Rostocker Musik- und Theaterwissenschaftlerin Friederike Wißmann Ausschau nach nationalen Konnotationen in der Neuen Musik hält; auch wenn der Medienwissenschaftler Sergej Gordon die filmische Darstellung an der US-amerikanisch- mexikanischen Grenze als Normal-, oder Ausnahmezustand benennt[viii].
Farben können anleiten, neugierig machen, führen und verführen
Farbgestaltung als ästhetischer Akt ist Ausdruck von Kreativität. Farbauftrag kann Stimmungen vermitteln. Farbmischung will Gefühle verdeutlichen und Richtungen bestimmen. Im lokalen und globalen gesellschaftspolitischen Diskurs sind die Richtungsbezeichnungen „Rechts“ und „Links“ als Zuordnungs- und Identifikationsmuster für politische Auffassungen und Einstellungen gebräuchlich. Sie werden historisch zurückgeführt auf die Sitzordnung in der Nationalversammlung nach der Französischen Revolution. Auf der linken Seite saßen die Abgeordneten, die für eine Veränderung der traditionellen Gesellschaftsordnung eintraten, während rechts diejenigen Platz nahmen, die sich für den Erhalt des Bestehenden einsetzten. Das Rechts-Links-Schema wird seitdem in vielen (demokratischen) Parlamenten eingehalten, auch im Deutschen Bundestag. Die Unterscheidung lässt sich ganz gut in den Parolen „Demokratie wagen“ (Willy Brandt = Links) und „Keine Experimente“ (Helmut Kohl = Rechts) ausdrücken. Eine Zuspitzung erhält der Vergleich, dass in der aktuellen Wahrnehmung von rechter Politik eher nationalistische, ethnozentristische, rassistische, völkische und populistische Einstellungen und Gefolgschaften bezeichnet werden, während mit linker Politik freiheitlich-demokratische und sozial(istisch)e (Welt-)Anschauungen gemeint sind. In den sozial- und politikwissenschaftlichen Analysen freilich wird diese Schematik differenzierter betrachtet[ix]. Der Erziehungswissenschaftler und Kulturanthropologe von der Universität Duisburg-Essen, Max Fuchs, setzt sich in der Studie „Rechtes Denken und Kulturpessimismus“ mit den pädagogischen Herausforderungen zur Selbst- und Weltbetrachtung auseinander. Er stellt zum einen fest, dass rechtsradikalem Bewusstsein, wenn es sich erst einmal gefestigt und etabliert hat, mit freiheitlichen, demokratischen und humanen Gegenargumenten kaum beizukommen ist; zum anderen bedarf es bei der Abgrenzung zu rechtspopulistischen Positionen der Unterscheidung zwischen (demokratisch legitimierten) konservativen und (verfassungsfeindlichen) rechtsradikalen Auffassungen. Er kommt dabei zu der Erkenntnis, dass ein wesentlicher Grund für radikales Denken und Handeln der „Kulturpessimismus“ ist. Bei der Reflexion über die Genese rechten Denkens und rechter Argumentationsmuster gilt es zu bedenken, dass in den kulturellen und mentalen Entwicklungen der Gemeinschaften sich unterschiedliche, vielfältige, positive und negative Formen herausgebildet haben. Sie zeigen sich in Eigenschaften und Stereotypen, die sich ausdrücken in Feststellungen wie „Die Deutschen…, Russen… Chinesen… Afrikaner… sind…“. Die Zuordnung von Gesellschaften und Kollektiven zu individuellen Charakter- und Persönlichkeitsmerkmalen ist ein probates Mittel für Ideologie und Indoktrination. Der Blick auf die Entwicklung von menschenfeindlichen Stereotypen zeigt die personalisierten und nationalistisch geformten Muster für individualisiertes und kollektives Denken und Handeln, etwa zu Fragen von „Heldenverehrung“ und „Untertanengeist“. Fuchs geht von der These aus, dass die unzureichende Erfüllung der Versprechungen der Moderne ein wesentlicher Grund dafür ist, dass die Unzufriedenheit mit der politischen Ordnung und damit auch die Akzeptanz rechter Positionen wachsen[x].
Wider den Extremismus
Farben und Sprachen, das sind Kombinationen und Kontraste. „Ich bin Weiß, du Schwarz“, das kann eine Verbindung herstellen oder trennen; Sympathie oder Antipathie ausdrücken. In Lexika und Wörterbüchern werden Synonyme und Antonyme ausgewiesen. Extremisten benutzen die Sprache meist als diskriminierende und gleichzeitig besitzergreifende Kampfbegriffe. So ist es gerechtfertigt, ein Handwörterbuch rechtsextremer Kampfbegriffe herauszugeben. Die Kulturwissenschaftlerin und Pädagogin Bente Gießelmann, der Philosoph und Soziologe Benjamin Kerst, der Politikwissenschaftler und Historiker Robin Richterich, der Germanist und Soziologe Lenard Suermann und der Sozialwissenschaftler Fabian Virchow geben den Praxisband heraus. Es sind alphabetisch angeordnete Reizwörter, die Rechtsradikale aufregen, provozieren, oder die sie in ihre Ideologie einbauen: „68er“, „Abendland“, „Dekadenz“, „Demokratie“, „Deutschenfeindlichkeit“, „Flüchtling“, „Freiheit“, „Gemeinschaft“, „Gender-Ideologie“, „Heldengedenken“, „Identität“, „Islamisierung“, „Jude“, „Kameradschaft“, „Kapitalismus“, „Lügenpresse“, „Nation“, „Nationaler Sozialismus“, „Natur“, „Political Correctness“, „Rasse“, „Raum“, „Schuld-Kult“, „Staatsversagen“, „Umvolkung“, „USA“, „Zigeuner“. Es sind Wortneuschöpfungen und Verklitterungen, die barbarische, menschenunwürdige, menschenfeindliche Behauptungen und Einflussnahmen der rechtsradikalen und populistischen Szene in der Gesellschaft salonfähig machen sollen. Dass diese Angriffe auf das Selbstdenken der Menschen und die Indoktrinationen und propagandistischen Verführungen keine vernachlässigbare Kleinigkeit darstellt, sondern im Informations-, Bildungs- und Aufklärungsprozess der Menschen berücksichtigt werden muss, zeigen nicht zuletzt die Fake News- und Extremisten-Follower[xi].
Die Welt retten
Gegen Fatalismus, Passivität und Untergangsstimmungen treten immer wieder bis heute Menschen auf, die der Angst und der Ideologie fach-, sachbezogene, objektive, wahrheitsbestimmte und wissenschaftlich begründete Argumente entgegen setzen. Der Diskurs über die menschheitsgefährdenden Entwicklungen auf der Erde vollzieht sich janusköpfig. Während auf der einen Seite die vielfältigen, menschengemachten Katastrophen wie Artensterben, Klimaveränderungen, Energie- und Migrationsprobleme, Kapitalismusentwicklung hoffnungsvoll und optimistisch als lösbar betrachtet werden, gibt es andererseits Zweifel, ob die Menschheit willens und in der Lage ist, den notwendigen grundlegenden Perspektivenwechsel vollziehen zu können, wie ihn 1995 die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ gefordert hat: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“[xii]. Weil Fatalismus, Weltuntergangsstimmung und Kassandrarufe keine Antworten auf die Lage der Welt sein können, bleibt nur die Hoffnung, dass es gelingen möge, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie informiert, gebildet, aufgeklärt und überzeugt sein wollen: Die menschengemachten, zerstörerischen Entwicklungen auf dem Lebensraum Erde und im Kosmos können nur von Menschen beendet werden. Seit 2009 strahlt der Berliner unabhängige Internet-TV-Sender Kontext TV Nachrichten aus und übermittelt Informationen und Berichte „zu drängenden Gegenwarts- und Zukunftsthemen wie Klimawandel, Krieg und Frieden, Finanzkrise, soziale Gerechtigkeit und Migration“. Dabei gelingt es, zahlreiche prominente kritische EINE-WELT-AktivistInnen und DenkerInnen zu Wort kommen zu lassen. Aus der mittlerweile 1ojährigen Informations- und Aufklärungsarbeit des Senders haben die Journalisten und Autoren David Goeßmann und Fabian Scheidler Interviews und Gesprächsnotizen mit 27 Expertinnen und Experten aus aller Welt ausgewählt und in einem Sammelband vorgelegt. Die Texte vermitteln einen bedeutsamen Überblick über den inter-, transnationalen, interkulturellen und interdisziplinären Diskurs zu Fragen, Herausforderungen und Modellen zur globalen Gerechtigkeit. Es sind Fragen zur Klimakrise, Ressourcenraubbau und Preis des Wachstums, zu lokalen und globalen sozialen Spaltungsprozessen, zum Demokratieverfall und zur Krise des Kapitalismus“; und zu Ausbeutung, Kriege und Widerstand. Es sind Argumente, die den Menschen- und Demokratiefeinden entgegen gehalten werden und den Gutwilligen Kraft und Mut geben können, in Theorie und Praxis für globale Gerechtigkeit einzutreten[xiii].
Das „Netz“ ist überall
Das WWW beherrscht die Welt, das Individuum und die Menschheit. Weil das Netz allgegenwärtig ist und die individuelle und lokal- und globalgesellschaftliche Kommunikation bestimmt! So ist auch „Politik in der digitalen Gesellschaft“ präsent und wirksam. Die Berliner Politikwissenschaftlerin Jeanette Hofmann, der Münsteraner Politikwissenschaftler Norbert Kersting, die Trierer Politikwissenschaftlerin Claudia Ritzi und der Hildesheimer Juniorprofessor Wolf J. Schünemann geben einen Sammelband heraus, in dem sie „einen … Überblick über die jüngere Forschung zum Thema Politik und Digitalisierung im deutschsprachigen Raum“ vermitteln.
vorzulegen. Expertinnen und Experten aus wissenschaftlichen Fächern und im interdisziplinären Zusammenhängen beziehen Position zu Fragen des lokalen und globalen, gesellschaftspolitischen Wandels, zu Partizipationsprozessen im digitalen Zeitalter, und sie diskutieren die zentralen Herausforderungen für Governance und Forschungspraxis. Die Autorinnen und Autoren treibt die Sorge um, dass in den deutschen Sozialwissenschaften der Anschluss an den lebhaften, differenzierten internationalen Diskurs um Big Data und lokal- und globalgesellschaftlichen Digitalisierung nachhinkt[xiv],
Intellektuelle Debattenkultur
„Ich weiß, dass ich nichts weiß!“ – mit dieser philosophischen Erkenntnis wollten schon die griechischen, antiken Philosophen zum Ausdruck bringen, dass das „Ich weiß alles!“ eine Chimäre und Lüge ist. In dem Bewusstsein freilich steckt auch die Aufforderung, nach Wissen zu streben, selbst zu denken und nicht andere für sich denken zu lassen[xv]. Der Literaturwissenschaftler, Germanist und Philosoph Wolfram Malte Fues legt zu seinem 75. Geburtstag eine Sammlung von Texten vor, die er aus zahlreichen Vorträgen, Konferenzbeiträgen, Forschungen und Veröffentlichungen entnimmt. Sie bewegen sich in der Spannweite der Frage: „Was ist modern?“, bis hin zu der Aufforderung: „Die Linke neu (zu) denken!“. Es sind gesellschaftspolitische Analysen und zeitpolitische, kritische Bestandsaufnahmen, die mit dem Titel „Der doppelte Blick“ eine Befindlichkeitsstudie zwischen Soll und Haben, zwischen Lust und Lüge, oder zwischen „Maserati Spyder“ und Kunstwerk herstellen. Es sind verzweifelte Aussichten ob des Momentanismus und des „Ich will alles und das sofort“, der Smombies und Slombies auf den Straßen und auf der Couch; und es sind die Hoffnungen, die ein Leben in Verantwortung und Nachhaltigkeit als erstrebenswerter erachtet als ein „anything goes“. Es sind Splitter, die das Leben schreibt. Es sind Bemerkungen und Bedenklichkeiten. Und es sind Zwischenrufe und Themen, die auf der Straße liegen. Die der Autor aufklaubt und in Lebens-Erfahrungen und -Zweifel bringt. So ist aus der Sammlung von Imponderabilien und Wortmeldungen ein Stichwort-Register geworden, dessen sich die Leserinnen und Leser bedienen[xvi].
Fazit
Von der Farbe zur Farbigkeit des Lebens. Sich an den Farben erfreuen, und sich der physischen und psychischen Einflüsse und positiven und negativen Eindrücke bewusst werden, die Farben auf uns ausüben, das ist eine allgemeinbildende, intellektuelle Herausforderung und Lebenslehre. Der Ge-und Missbrauch von Farben in individuellen und lokalen und globalen gesellschaftspolitischen Prozessen gehört zur politischen Bildung, die dem zôon politikon, dem menschlichen politischen Lebewesen eigen ist und lebenswert erworben und entwickelt werden muss.
[i] I. Jansen, in: Otfried Höffe, Hrsg., Aristoteles-Lexikon, 2005, S. 568
[ii] Stefan Groth, u.a., Hrsg., Ordnung in Alltag und Gesellschaft. Empirisch kulturwissenschaftliche Perspektiven, 2019, www.socialnet.de/rezensionen25405.php
[iii] Reimer Gronemeyer, Tugend. Über das, was uns Halt gibt, www.socialnet.de/rezensionen/25272.php; Hermann Krobath, Werte. Elemente einer philosophischen Systematik, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/24791.php
[iv] Wolfgang Benz, Alltagsrassismus. Feindschaft gegen „Fremde“ und „Andere“, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25864.php
[v] Toni Morrison, Die Herkunft der Anderen. Über Rasse, Rassismus und Literatur, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/24660.php
[vi] Martin Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, 2009, S. 284
[vii] J. Hübner, in: Höffe, a.a.o., S. 438
[viii] Barbara Kuhn / Ursula Winter, Hrsg., Grenzen. Annäherung an einen transdisziplinären Gegenstand, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/...php
[ix] Stefan Brunnhuber, Die offene Gesellschaft. Ein Plädoyer für Freiheit und Ordnung im 21. Jahrhundert, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25426.php
[x] Max Fuchs, Rechtes Denken und Kulturpessimismus, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/...php
[xi] Bente Gießelmann, u.a., Hrsg., Handwörterbuch rechtsextremer Kampfbegriffe, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25964.php
[xii] Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt. Bericht der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ (1995), 2. erweit. Ausgabe, Bonn 1997, S. 18
[xiii] David Goeßmann / Fabian Scheidler, Hrsg., Der Kampf um soziale Gerechtigkeit. Gespräche mit Noam Chomsky, Vandana Shiva / Immanuel Wallerstein, Amy Goodman, u.a., 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26334.php
[xiv] Jeanette Hofmann / Norbert Kersting / Claudia Ritzi / Wolf J. Schünemann, Politikin der digitalen Gesellschaft, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26540.php
[xv] Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12903.php; ders., Jetzt. Meine Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22496.php
[xvi] Wolfram Malte Fues, Zweifel, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25265.php