Rabotti oder Ragtime?

von Dr. Jos Schnurer
18.03.2018

Bildcollage zu Arbeit und Zeit Collage: Dr. Jos Schnurer
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In der technisierten, getakteten, ökonomischen Gesellschaft ist Zeit ein kapitalistischer Wert. Der Gegenbegriff dazu drückt sich in der Gedichtstrophe „Alles hat seine Zeit“ aus, und in dem revolutionären Protest: „Meine Zeit gehört mir!“.

Die Kontroverse wird auch deutlich, wenn man auf der einen Seite die historische Erfahrung betrachtet, die sich in dem Spruch verdeutlicht: „Wess‘ Brot ich ess‘, dess‘ Lied ich sing‘“, und auf der anderen die Verdammnis, die Gott Adam wegen seines Sündenfalls aussprach: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, wovon du genommen bist“ (Altes Testament, 1. Mose 3.4/19). Ohne Arbeit bist du ein Versager und Verlierer in der Gesellschaft, ein „Arbeitsloser“; und mit ora et labora findest du den Weg zu Gott. Der anthrôpos, das mit Vernunft ausgestattete menschliche Lebewesen, strebt nach einem guten, gelingenden Leben. Diese anthropologische Hoffnung bestimmt das humane Denken und Handeln der Menschen, seit sie in der Lage sind, Allgemeinurteile zu bilden, zwischen Gut und Böse unterscheiden und eine eigene Identität entwickeln können[1].

Die Frage „Wer bin ich?“, verbindet Immanuel Kant[2] mit der Aufforderung: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, und er unterfüttert sie mit den Zusatzfragen: Was kann ich wissen? – Was soll ich tun? – Was darf ich hoffen? Als 1854 weiße Siedler beim Häuptling Sealth der Suquamish-Indianer auftraten, um von dem Gebiet seines Volkes Land zu erwerben, wies er das Ansinnen empört zurück: „Die Erde gehört nicht dem Menschen, der Mensch gehört zur Erde“[3]. In den kontroversen Auseinandersetzungen mit der Marxschen Kapitalismus- und Ausbeutungskritik geht es aktuell interessanterweise nicht darum, die Philosophie und Provokation von Karl Marx und seiner Adlaten zu verifizieren oder zu falsifizieren; schon gar nicht, sie als akzeptables Gegenwarts- und Zukunftsmodell ökonomischen Denkens und Handelns zu propagieren, sondern in der Auseinandersetzung mit den ohne Zweifel abzulehnenden kapitalistischen, neoliberalen, unmenschlichen Entwicklungen „aus der gesellschaftstheoretischen Analyse der Funktionsweise der ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse, die die kapitalistische Gesellschaft bildet, Maßstäbe für deren Kritik zu gewinnen“[4].

Schließlich bleibt die Frage: „Wie halten wir es mit der Arbeit heute?“. Die Wochenzeitung DIE ZEIT, das infas-Institut für angewandte Sozialwissenschaft und das Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (WZB) haben 2015/16 repräsentativ Menschen in Deutschland gefragt, wie die Welt aussehen solle, in der sie und ihre Nachkommen leben wollen. Die „Vermächtnis-Studie“ brachte zutage, welche Einstellungen, Erwartungshaltungen, Hoffnungen und Wünsche die Menschen in Deutschland bezüglich ihres persönlichen, familiären und gesellschaftlichen Lebens haben; unter anderem auch, was sie von der Erwerbsarbeit erwarten. Die Studienleiterin und WZB-Präsidentin Jutta Allmendinger schien von den Ergebnissen selbst überrascht zu sein. Nicht Egoismus, Getrieben- und Ausgebeutetsein durch die Arbeit stand im Vordergrund der Antworten, sondern eine hohe Empathie der Menschen ihrer Arbeit gegenüber: „Früher mag im Berufsleben das materielle Motiv im Vordergrund gestanden haben. Heute erfüllt die Arbeit auch einen immateriellen Zweck: Sie gehört im Empfinden der Deutschen zu einem erfüllten Leben einfach dazu“. Die Menschen arbeiteten nicht nur des Geldes wegen: Viele von ihnen „haben das Gefühl, keinen weiteren Besitz anhäufen zu müssen. Trotzdem wollen sie arbeiten“. Als ein Ergebnis der „Vermächtnis-Studie“ lässt sich lesen, dass nicht unermüdliches Arbeiten, Rabotti, Rabotti, uns eine menschenwürdige Gegenwart und Zukunft bringt, sondern auch „Auszeiten“, in denen Muße, eigene Kreativität, Besinnung, Zufriedenheit und die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel ge- und erarbeitet werden kann[5].

 Damit wird auch deutlich, dass der Begriff „Auszeit“ auf eine falsche Fährte führt; denn es ist ja nicht ein Weg weg von der Zeit, sondern hin zu einer anderen, menschlicheren Zeitnutzung. Deshalb sollte man eher von „Ander“-Zeit sprechen, wenn beim Umgang mit der Lebenszeit alternative Formen praktiziert werden, etwa das Sabbatical als zeitweilige andere, selbst gewählte Beschäftigung, oder in der „Ruhens“(Renten- oder Pensions)-Zeit ein ehrenamtliches Engagement. Nach der philosophischen, anthropologischen, aristotelischen Auffassung nämlich ist chronos, Zeit, vor allem Bewegung, Veränderung und Übergang von der Vergangenheits- in die Zukunfts-Zeit[6]

Ist Zeit eine Größe an sich, oder eine Konstruktion von Wirklichkeit?

„Zeit bezeichnet das Nacheinander von Naturvorgängen, das subjektiv mit unserem Erleben verbunden ist und als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wahrgenommen wird“[7] Es sind die objektiven, subjektiven, absoluten und relativen Zeitvorstellungen, wie sie sich seit Jahrtausenden in immer wieder neuen, philosophischen und menschengemachten, janusköpfigen Interpretationen entwickeln, die nach „den roten Faden im Dickicht des zeitphilosophischen Labyrinthes“ suchen und immer wieder bei dem Phänomen landen, dass das Fortschreiten der Zeit Grundlage des humanen und kosmischen Geistes ist[8]. In der Geschichtsschreibung, wie in der Geschichtswissenschaft insgesamt, geht es um die allgemeine wie intellektuelle, sprachliche und daseinsbewusste Vermittlung von historischen Ereignissen. Es ist ein Bewusstsein, das darauf aufbaut, dass ein historisches Ereignis wahrheitsgemäß und gewissermaßen als Ganzheit wahrgenommen wird und nicht, politisch, ideologisch oder weltanschaulich „gemacht“ wird. Dieses Dilemma reicht in der Historiographie hin bis zu Geschichtsverfälschungen und -verklitterungen. „Es geht … um die sinnstiftende, handlungsorientierte Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“, wenn die Frage relevant wird, „was Zeit- und narrative Kompetenz ausmacht, und warum sie untrennbar miteinander verbunden sind“. Der Historiker Jörg van Norden vertritt an der Universität Bielefeld den Bereich Geschichtsdidaktik. Mit der Studie will er aufzeigen, welche Sozialisations- und Lernbedingungen notwendig sind, um ein Zeitbewusstsein zu entwickeln, zu leben und an die nachfolgenden Generationen weiter zu geben[9].

Arbeitsfreude und Arbeitsleid, Arbeitsverweigerer und Workaholiker

Die Spannweite des intellektuellen und alltäglichen Diskurses um Arbeit ist weit. Der Sozialhistoriker Werner Conze unternahm im „Historischen Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland“ (1972) den Versuch, den Arbeitsbegriff und die individuellen und gesellschaftlichen Einstellungen zur Arbeit im Laufe der Jahrtausende systematisch zu skizzieren. Dabei zeigen sich grundlegende Wendepunkte und Mentalitätsveränderungen, die von der griechischen Antike, über jüdisch-christliche Traditionen, christlich-konservative, katholische und protestantische Arbeitsethiken, sozialistische Aufbrüche, bis hin zu den aktuellen kapitalistischen Entwicklungen, und zaghaft erst, aber immerhin, zum Perspektivenwechsel in Richtung auf ökologisch-nachhaltiges Denken und Arbeiten reichen. Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlerin von der Universität Wien, Andrea Komlosy, setzt sich mit den historischen, kulturellen, weltanschaulichen und ideologischen Veränderungsprozessen auseinander, die „Arbeit als Sinn (und Zweck!) des Lebens“ und/oder als „Befreiung von der Arbeit“ mit sich bringen, Einstellungen bewirken, Macht und Ohnmacht produzieren und sich (bis heute) als fatalistische, weltanschauliche und fundamentalistische Verhaltensweisen oder kritische, humane Positionen darstellen[10]. Wenn menschliche Arbeit mehr sein soll als die Garantie zum eigenen Broterwerb, braucht es Fragen nach Selbst- und Mitbestimmung, Anforderungen und Entscheidungen, ob ich etwas tun oder unterlassen soll[11], wie ich mein humanes eigenes und Weltbild entwickle[12], und nicht zuletzt den Perspektivenwechsel hin zu dem Bewusstsein, dass der Lebensraum der Erde Gemeingut allen Lebens sein muss[13].

Eine bewusste, achtsame und selbstfürsorgliche Haltung schafft Lebenskraft

„Mit Selbststeuerung lässt sich im Leben vieles, ohne sie nichts erreichen“; mit dieser apodiktischen Feststellung wird gewissermaßen eine Menschen- und Weltschau mit dem Blick auf die Entwicklungen und Verwicklungen des menschlichen Selbst(bewusst)Seins eingeleitet: „Freiheit durch Selbststeuerung“. Es sind Aufforderung zum Selbstdenken und nicht andere für sich denken zu lassen[14]. Es geht um die Nachschau nach den Ursachen von Verhaltensweisen, die sich artikulieren in konsumtiven und unverbindlichen Einstellungen wie: „Ich will alles, und das sofort!“, und sich zeigen in der antiken philosophischen „autarkeia“, dass „autark ein Individuum, eine Gemeinschaft oder eine Tätigkeit (ist), die auf nichts anderes angewiesen ist, weil sie alles, was sie benötigt, selbst hat oder sich selbst beschaffen kann[15]. Es geht um die notwendigen Auseinandersetzungen darüber, wie es gelingen kann, „unser Leben in Einklang mit längerfristigen Zielen und Wünschen zu bringen“ und Abstand vom „Momentanismus“ zu nehmen. Der Arzt, Neurobiologe und Psychotherapeut Joachim Bauer von der Universität Freiburg/Br. riskiert dies, indem er neurobiologische Erkenntnisse ins Feld führt und danach fragt, wie „Freiheit durch Selbststeuerung“ erworben werden kann. Er kommt dabei zu den wichtigen Erkenntnissen: Selbststeuerung kann man lernen und erwerben, und: Selbststeuerung bedeutet, kritische Einstellungen zum individuellen und gesellschaftlichen Dasein zu erwerben und zur Entscheidung zu kommen, dass auch ein „Leben gegen den Strom“ hilfreich sein kann; was freilich kein Außenseiter- oder Kritikastertum erzeugt, sondern Gegenwarts- und Zukunftsbewältigung bedeutet[16]. Weil natürlich Selbststeuerung nicht Selbstzweck sein darf, sondern nur auf den humanen Grundlagen des Humanum fußen kann, kommt es darauf an, Arbeit und Gerechtigkeit zusammen zu denken[17].

Ungleichheit = Ungerechtigkeit? 

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“. Mit dieser globalen Ethik, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in Artikel 1 formuliert und in allen demokratischen Verfassungen übernommen wird, kommt zum Ausdruck, dass Ungleichheit ein Zustand ist, den es zu überwinden gilt. Es gibt freilich im soziologischen Diskurs kaum ein Thema, das umstrittener ist. Da ist zum einen die Forderung nach Durchsetzung dieses humanen Anspruchs, zum anderen die Beweisführung, dass absolute Gleichheit gar nicht möglich und von daher nicht zu erreichen ist. Das Dilemma tut sich an der Stelle auf, wo es darum geht, in den konkreten Lebenssituationen der Menschen und ihren Gesellschaften die Gleichheitsforderung auf allen Gebieten des menschlichen Daseins anzuwenden. Damit wird die hehre Forderung nach Gleichheit gemessen an den wirklichen, individuellen und gesellschaftlichen Situationen, was dazu führt, dass sich die Diskussion an materiellen und politischen Bedingungen orientiert und zu Vergleichen führt, die entweder ideologische, revolutionäre, oder ohnmächtige Gefühle und Einstellungen weckt. Sie münden schließlich in Feststellungen, dass, ökonomisch, die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer, wie auch, dass sich die sowieso schon Mächtigen immer mächtiger gebärden und die Ohnmächtigen noch ohnmächtiger werden. So stellt sich die Situation dar: „Das Streben nach mehr Gleichheit ist ins Hintertreffen geraten und als politisches Ziel verblasst, zugleich flammt in nennenswerten Teilen der Bevölkerung auch Empörung über allzu große Ungleichheiten auf“, was ja wohl nichts anderes bedeutet, als dass die Vision einer individuellen und gesellschaftlichen Gleichheit der pragmatischen und scheinbar „einsichtigen“ Erkenntnis gewichen ist, dass es eine unbedingte Gleichheit der Menschen nicht geben könne; während gleichzeitig die materiellen Begehrlichkeiten und Machtanhäufungen der Gewinner in der Gesellschaft Verlierer produzieren.

Da braucht es einer Begriffsbestimmung, die den Wert „Gleichheit“ unter gleichwertigen normativen und funktionalen Aspekten offen legt und erträgliche (Un-)Gleichheiten definiert. Stellt man zudem den (Un-)Gleichheitsgedanken unter die Prämisse der „Gerechtigkeit“, öffnet sich ein Horizont, der Fragen aufwirft wie: „Welche gesellschaftlichen Probleme ergeben sich durch die gegenwärtig beobachtbaren Ungleichheitsdynamiken?“ – „Wo schlägt Ungleichheit in Ungerechtigkeit um?“ – „Welche Ungleichheiten brauchen wir, welche sollten vehement bekämpft werden?“. Mögliche, akzeptable und gerechte Antworten kann, im wissenschaftlichen Diskurs, ein Fach wie die Soziologie allein nicht geben. Nur im interdisziplinären Diskurs mit Historikern, Politikwissenschaftlern, Philosophen, Ökonomen und Rechtswissenschaftlern können diskussionswürdige, gegenwartsbezogene und zukunftsorientierte Lösungsansätze für eine Gleichsetzung der Formel: Gleichheit = Gerechtigkeit gesucht werden.

Der Soziologe von der Bremer Universität, Steffen Mau und die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie, Nadine M. Schöneck, geben einen Sammelband heraus, in dem sich 19 Autorinnen und Autoren darum bemühen, Positionen zu beziehen. Es kommen keine Rezepte heraus, sondern Analysen mit der Aufforderung, individuell und lokal- und globalgesellschaftlich aufmerksam und aktiv zu werden, „dem mittlerweile berühmt-berüchtigten Aufgehen der Einkommensschere, der sich zuspitzenden Vermögenskonzentration, der anhaltend engen Verkopplung von sozialer Herkunft und Lebenschancen, der stärkeren Sensibilisierung für globale Ungleichheiten und der Entstehung einer gesellschaftlichen Unterschicht am unteren und einer neuen Gruppe von ‚Obertanen‘ am oberen Ende der Sozialstruktur“ das Bollwerk der Gerechtigkeit entgegen zu setzen[18].

Die Unordnung der Welt

Den Kakophonien von nationalistischen, fundamentalistischen, populistischen, rassistischen und egoistischen Parolen und Machtansprüchen müssen objektive, visionäre und realistische Positionen einer humanen Weltordnung entgegen gesetzt werden. Mit dem Begriff der (neuen) Weltordnung kommt zum Ausdruck, dass die Menschheit endlich von einer „Kultur des Krieges zu einer Kultur des Friedens“ kommen (Federico Mayor) und im Bewusstsein der Menschen eine universelle Verantwortungsethik Einzug halten müsse. Dass dies im Konjunktiv formuliert wird, heißt ja nichts anderes, als dass diese Forderung längst noch nicht Wirklichkeit in der Welt ist, und die Visionen und Programme, Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit in der Welt zu schaffen, weiterhin auf die Realisierung warten. Die UNESCO, in deren Verfassung vom 16. November 1945 der Satz steht – „Da Kriege im Geist der Menschen entstehen, müssen auch die Bollwerke des Friedens im Geist der Menschen errichtet werden“ – hat beim internationalen Kongress „Frieden im Denken der Menschen“, vom 26. Juni bis 1. Juli 1989, in der „Deklaration von Yamoussoukro“[19] (Elfenbeinküste) den Friedens- und damit auch den Ordnungsgedanken so formuliert:

Frieden heißt Ehrfurcht vor dem Leben.

Frieden ist das kostbarste Gut der Menschheit.
Frieden ist mehr als das Ende bewaffneter Auseinandersetzung.Frieden ist eine ganz menschliche Verhaltensweise.
Frieden verkörpert eine tiefverwurzelte Bindung an die Prinzipien der Freiheit, der Gerechtigkeit, der Gleichheit und der Solidarität zwischen allen Menschen.
Frieden bedeutet auch eine harmonische Partnerschaft von Mensch und Umwelt.

 Wir sind bei der großen Herausforderung an die Menschheit, sich gemeinsam eine allgemeingültige, nicht relativierbare Ordnung, also eine „globale Ethik“ zu geben, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 als „Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte, (die) die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“ grundgelegt ist[20]. Der Politikwissenschaftler und Lehrstuhlinhaber für Internationale Beziehungen und Vergleichende Regierungslehre an der TU in Braunschweig, Ulrich Menzel, legt  ein umfangreiches und anspruchsvolles Buch vor, mit dem er nicht mehr und nicht weniger als „die Welt erklären“ will. „Es soll darin gezeigt werden, was die Welt im Innersten zusammenhält, wer für Ordnung sorgt in der Anarchie der Staatenwelt, in der es keine übergeordnete Instanz, keinen Weltstaat gibt, der mit einem internationalen Gewaltmonopol ausgestattet ist“. Er formuliert bereits zu Beginn: „Die Ordnung in der Anarchie der Staatenwelt resultiert aus der Hierarchie der Staatenwelt“.

Weil hegemoniale und imperiale Weltordnungen die Geschichte der Welt von Anfang an bestimmen, wäre eine Erzählung von Anfang an notwendig. Markierungspunkte für einen zeitlichen Anfang jedoch findet Menzel in der Einschätzung, dass die „Herausbildung von Weltgesellschaft, ob kommerziell, kulturell, wissenschaftlich oder militärisch bedingt, (zusammen fällt) mit dem Beginn der Globalisierung“, die er in der dialogisierten wie konfrontativen Begegnung der eurozentierten mit den sinozentrierten Mächten in Song-China von 960 – 1204 erkennt, und deren Verläufe er in mehreren Zyklen darstellt: Wirtschaftliche Handelsbeziehungen, Austausch von handwerklichen, landwirtschaftlichen und wissenschaftlichen Gütern, Verteidigung und militärische Eroberung, Land- und Seemacht. Mit seiner „Meistererzählung“ vermittelt Ulrich Menzel nicht nur tiefe Einblicke in sein seit Jahrzehnten und weiter andauerndes intellektuelles und professionelles Schaffen, sondern er bietet den Leserinnen und Lesern seines umfangreichen Buches auch die Chance an, darüber nachzudenken, wie wir geworden sind, was und wie wir sind und uns ethisch, moralisch und politisch als Individuen, Deutsche, Europäer und Planetarier, lokal und global, Hier und Heute mit dem ontologischen, anthropologischen und chronologischen Bewusstsein weiterentwickeln sollten[21].

Arbeitsethik ist Zeitethik ist Friedensethik ist humane Ethik

Wir sprechen von „Globaler Ethik“, wenn es darum geht, das Humanum im Menschen zu bestimmen. In dem anthropologischen Bemühen, ein gutes, gelingendes Leben führen zu können wird dem anthrôpos die Fähigkeit zuerkannt, Allgemeinurteile fällen und zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können. „Friedensethik“ lässt sich bezeichnen als die theoretisch-praktische Beschäftigung mit dem Spagat, auf der einen Seite die „Entwicklung normativer Konzepte und Kriterien zur Begrenzung und Beendigung von Kriegen und militärischen Konflikten“ zu bewerkstelligen, und andererseits „normative(n) (positiven) Friedensansprüchen“ gerecht zu werden und „ein kritisch-normatives Orientierungswissen anzubieten“. Von „Zeitethik“ kann gesprochen werden, wenn es gelingt, die individuellen und kollektiven Lebenssituationen und –anforderungen in Würde, Verantwortung und Solidarität zu bewältigen[22]. Und zwar aktiv, reflexiv, gegenwarts- und zukunftsbezogen[23]. Humane Ethik ist nur in Freiheit und Gerechtigkeit möglich!

 

Kontakt zum Autor: 
Dr. Jos Schnurer
Immelmannstr. 40
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jos2@schnurer.de


[1] S. Föllinger, in: Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Kröner-Verlag, Stuttgart 2005, S. 47ff

[2] Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft. Text der Ausgabe 1781, hrsg. von Karl Kehrbach, 2. Auf., Leipzig 1878, 704 S. 

[3] MAB, Der Mensch und die Biosphäre. Internationale Zusammenarbeit in der Umweltforschung, Bonn 1990, S.10

[4] Rahel Jaeggi / Daniel Loick, Hrsg., Nach Marx. Philosophie, Kritik, Praxis, 2013, https://www.socialnet.de/rezensionen/15989.php

[5] https://www.wzb.eu/de/news/das-vermaechtnis-die-welt-die-wir-erleben-wollen; sowie: Jutta Allmendinger, in: HAZ vom 19. 8. 2017

[6] Aristoteles-Lexikon, a.a.o., S. 107ff

[7] Martin Gessmann, Philosophisches Wörterbuch, Kröner-Verlag, Stuttgart 2009, S. 782

[8] Nora Nebel, Ideen von der Zeit. Zeitvorstellungen aus kulturphilosophischer Perspektive, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/12020.php

[9] Jörg van Norden, Geschichte ist Zeit. Historisches Denken zwischen Kairos und Chronos - theoretisch, pragmatisch, empirisch, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/18193.php

[10] Andrea Komlosy, Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/17372.php

[11] Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, 2014, https://www.socialnet.de/rezensionen/18946.php

[12] William MacAskill, Gutes besser tun. Wie wir mit effektivem Altruismus die Welt verändern können, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/20648.php; sowie: Peter Singer, Effektiver Altruismus. Eine Anleitung zum ethischen Leben, 2016, https://www.socialnet.de/rezensionen/20649.php

[13] Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/11224.php

[14] Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12903.php; sowie: ders., Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie, 2017, https://www.socialnet.de/rezensionen/22496.php

[15] Aristoteles-Lexikon, a.a.o., S.  89f

[16] Joachim Bauer, Selbststeuerung. Die Wiederentdeckung des freien Willens, 2015, https://www.socialnet.de/rezensionen/18891.php

[17] Oliver Ranzum / Hajo Zeeb / Olaf Müller / Albrecht Jahn, Hrsg., Global Health. Gesundheit und Gerechtigkeit, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/18229.php

[18] Steffen Mau / Nadine Schöneck, Hrsg., (Un-)Gerechte (Un-)Gleichheiten, 2015, https://www.socialnet.de/rezensionen/18416.php

[19] Deutsche UNESCO-Kommission, Internationale Verständigung, Menschenrechte und Frieden als Bildungsziel, Bonn 1992, S. 39ff.

[20] Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte. Internationale Dokumente, Bonn 1981, S. 48ff

[21] Ulrich Menzel, Die Ordnung der Welt. Imperium oder Hegemonie in der Hierarchie der Staatenwelt, 2015, https://www.socialnet.de/rezensionen/18967.php

[22] Peter Bieri, Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde, 2013, https://www.socialnet.de/rezensionen/15601.php

[23] Ines-Jacqueline Werkner / Klaus Ebeling, Hrsg., Handbuch Friedensethik, 2017, https://www.socialnet.de/rezensionen/23210.php