Stuhlkreis mit Teilnehmenden
Quelle: IBB e.V.

Rassismus kommt auf leisen Sohlen ins Kinderzimmer

Zweiter Fachtag „Schwarz, weiß, bunt – so what?“ nimmt Erziehung in den Blick

Wie können frühkindliche und schulische Bildungseinrichtungen verhindern, dass schon früh rassistische Grundhaltungen vermittelt werden? Dieser Frage ging der zweite Fachtag "Schwarz, weiß, bunt - so what?" am Mittwoch, 6. Oktober 2021, im Haus der Vielfalt in Dortmund auf den Grund.

Deutschland ist gleich durch mehrere internationale Menschenrechtsabkommen verpflichtet, rassistische Diskriminierung im Bildungsbereich zu bekämpfeni. Doch zum einen gibt es immer wieder persönliche Berichte von Betroffenen über Diskrimierungserfahrungen. Zum anderen hat der Pisa-Schock zur Jahrtausendwende den Blick auf die Benachteiligung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund gelenkt. So belegt auch die PISA-Studien aus 2018, dass die soziale Herkunft von Schülerinnen und Schülern in Deutschland stärker als im OECD-Durchschnitt über den Bildungserfolg entscheidetii

Die Erforschung ethnischer Bildungsungleichheiten stellt die Forschung gleichwohl vor Herausforderungen, wie die Soziologen Cornelia Kristen und Jörg Dollmann in einem Interview mit der Bundeszentrale für politische Bildung deutlich gemacht haben.iii Mit zwei Fachtagen „Schwarz, weiß, bunt – so what?" am 21. Mai 2021 und am 6. Oktober 2021 hat das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk e.V. in Dortmund im Rahmen des EU-geförderten Projekts fokus⁴ zunächst die geschichtlichen Ursachen von Alltagsrassismus beleuchtet und danach zu einem pädagogischdidaktischen Workshop eingeladen zur Frage: Wie kann eine diskrimierungsfreie, diversitätsfreundliche Erziehung in Kindertageseinrichtungen und Schulen gelingen?

Rassismus kommt auf leisen Sohlen ins Kinderzimmer: Er beginnt schon mit Kinderliedern und Kinderbüchern, die auf den ersten Blick unverdächtig erscheinen, und verfestigt in früher Kindheit Stereotype, die im späteren Leben in handfeste Gewalt münden können. „Wenn wir Kindern das Gefühl vermitteln, dass sie kein Teil der Bevölkerung sind, stoßen wir einer wachsenden Zahl von Menschen vor den Kopf und verlieren sie für ein gesamtgesellschaftliches Vorankommen", mahnte Serge Palasie, Referent vom Eine-Welt-Netz NRW e.V., beim zweiten Fachtag „Schwarz, weiß, bunt – so what?" am 6. Oktober 2021 im Haus der Vielfalt in Dortmund.

Gamze Alkan, Projektreferentin im IBB e.V., hatte den Workshop-Tag mit einem Video über eine rassistisch motivierte Auseinandersetzung in einem Supermarkt eröffnet. „Wir haben das so gelernt“, hatte der 71 Jahre Mann gesagt, der einen 32-jährigen aus nichtigem Anlass mit dem „N*Wort“ beim Kauf von Schokoküssen beschimpft und attackiert hatte. „Dies führt uns einmal mehr vor Augen, dass es eine große Rolle spielt, was bereits Kinder lernen“, sagte die IBB-Referentin.

Vortragende und Teilnehmende des FachtagsVortragende und Teilnehmende des Fachtags (Quelle: IBB e.V.)

 

Mitarbeitende aus Kindertageseinrichtungen, Schulen, Bibliotheken, Beratungsstellen und Familienbildungsstätten aus Bochum, Dortmund, Düsseldorf, Euskirchen, Köln, Leverkusen und Münster arbeiteten in vier Workshops an der Frage, wie die Erziehung von Kindern und Jugendlichen diversitätsfreundlich gestaltet werden kann. Sie untersuchten in Workshops Schulbücher, Kinderbücher und Kinderlieder, Alltagssprache und Fallbeispiele.

 Schon die scheinbar unverfängliche Frage in einem Kinderbuch: „Wie feiert man Weihnachten bei uns und anderswo?“ grenze ein „Wir“ ab von „den Anderen“. Unterschiedliche Lebenserfahrungen und Kulturen von Menschen in Deutschland würden in vielen Medien schlicht nicht berücksichtigt. In Liedern und Schulbüchern für Ältere fanden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Beispiele für eine eurozentrische Sicht, die Europäer (zumeist männlich und Weiß aus „Mutterländern“ genannten ehemaligen Kolonialmächten) als Nachfahren von Entdeckern darstellen. Menschen besonders von Kontinenten der südlichen Hemisphäre hingegen werden als hilfsbedürftig und unterentwickelt abgebildet.

Bei der Auswahl von Medien sei es daher wichtig, sie auch aus der Perspektive von Angehörigen der BIPoC-Communities zu betrachten. Kinderbücher und Kinderlieder sollten den Horizont erweitern und die Empathie fördern, forderten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Sie kritisierten, dass Diversität in der Ausbildung von Erziehenden und Lehrkräften bisher kaum eine Rolle spielt. Mehr noch: „Einige Medien muss man erst kaufen, um die Inhalte beurteilen zu können“, bemängelte Nastassja Ott, Referentin vom Eine-Welt-Netz NRW e.V.. Diese Mühe sollten Eltern und Erziehende nicht scheuen, so ihr Tipp, gerade weil Kinder sich häufig zum Lesen, Anschauen oder Hören zurückziehen und einen kritischen Umgang mit Medien erst erlernen müssen.

Einen breiten Raum nahmen daneben auch die Diskussionen über eine diversitätfreundliche Sprache und angemessene Reaktionen in Konfliktsituationen ein. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer beklagten „Plastikworte“, wie Inklusion, die im Erziehungsalltag kaum auf ihre Inhalte überprüft werden, und sprachliche „Farbgefängnisse“, in die Menschen mit nicht-weißer Haut eingesperrt werden. „Wir sollten bei aller Kritik an ‚falschen Begriffen‘ aber auch nicht Menschen abwerten, die es vielleicht einfach nicht besser wissen“, mahnte eine Teilnehmerin.

„Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass eine diversitätsfreundliche und genderneutrale Sprache Kinder mutiger macht“, sagte Referentin Nastassja Ott. „Vielleicht finden wir in Zukunft neue Begriffe, mit denen wir alle gut leben können.“

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer lobten am Ende den intensiven Austausch und wünschten sich eine Fortsetzung unter anderem über strukturellen Rassismus.

Zentrale Erkenntnisse des zweiten Fachtags:

  •  Der Kanon der Kinderlieder und Kinderbücher sollte diversitätsfreundlich ausgewählt werden. Bei der Auswahl könne es helfen, die Medien aus der Perspektive eines nicht-weißen Kindes zu betrachten. Bei der Beurteilung könne der Merksatz helfen: Ich habe viel Energie. Die Initialen stehen für Identifizierung, Horizonterweiterung, Vielfalt und Empowerment/Empathieförderung. Als Positivbeispiel wurde das multiperspektivische Kinderbuch „Zeitreise durch die Weltgeschichte“ von Jane Chisholm aus dem Usborne-Verlag genannt, das Entwicklungen in allen Kontinenten wertungsfrei parallel aufzeigt.
  •  Der Workshop Fallbeispiele empfahl die Erarbeitung eines „Sicherheitskonzepts“, das prophylaktisch Handlungskonzepte gegen Gewalt und Rassismus in der jeweiligen Bildungseinrichtung bzw. Schule erarbeitet, um rassistische Tendenzen frühzeitig erkennen und bearbeiten zu können. Zugleich sollte einen Anlaufstelle/ Person in der jeweiligen Einrichtung für Schüler*innen, Lehrer*innen oder auch „whistleblower“ vorhanden sein.
  • Die Arbeitsgruppe politische Korrektheit in der Sprache empfahl einen kultursensiblen Umgang mit Zuschreibungen über Hautfarben, Religion und Herkunft. Wichtig sei die Frage, ob die Zuschreibung überhaupt erforderlich sei. Helfen könnten z.B. vorhandene Checklisten oder aber auch der Dialog mit den betreffenden Communities bzw. einzelnen Menschen, wenn Unsicherheiten bestehen, ob vermutete oder tatsächlich „diverse“ Wurzeln angesprochen werden dürfen. Eine Teilnehmende beispielsweise bestätigte, dass sie sogar eher erfreut sei, wenn Interesse an ihrer Familiengeschichte bestehe. Allerdings komme es auf den Kontext und die Form des Dialoges an. Auch wolle sie nicht einfach automatisch als „Schwarze Deutsche“ tituliert werden, nur weil ihre Hauptfarbe eben nicht ganz hell sei. Akteure der Erziehungsarbeit sollten sich kritisch fragen, welche Assoziationen mit einer Zuschreibung ausgelöst werden, empfahl Referentin Karina Lange vom Eine-Welt-Netz NRW e.V..

 

Über das IBB Dortmund:

 Grenzen überwinden – dieser Leitgedanke ist für das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk Vision und Lösungsmodell, Ziel und Mittel seiner Arbeit. Weiterbildung und internationale Begegnungen sind seit 1986 die bewährten Markenzeichen des IBB in Dortmund. Das IBB ist zertifizierter Träger der Erwachsenenbildung und der politischen Bildung sowie anerkannter Träger der Jugendhilfe. 2011 erhielt das IBB den „einheitspreis 2011 – Bürgerpreis der Deutschen Einheit“ - von der Bundeszentrale für politische Bildung. Das IBB Dortmund betreibt zusammen mit belarussischen Partnern die Internationale Bildungs- und Begegnungsstätte „Johannes Rau“ in Minsk.

Weitere Informationen über das Projekt fokus⁴ finden Sie unter www.ibb-d.de


 

ihttps://rassismusbericht.de/wp-content/uploads/Hintergrundpapier-Daniel-Gyamerah.pdf

iihttps://www.oecd.org/berlin/presse/pisa-studie-2018-leistungen-in-deutschland-insgesamt-ueberdurchschnittlich-aber-leicht-ruecklaeufig-und-mit-grossem-abstand-zu-den-spitzenreitern-03122019.htm

iii https://www.bpb.de/gesellschaft/bildung/zukunft-bildung/211879/ethnische-ungleichheiten


Quelle: Pressemitteilung des IBB e.V. vom 13.10.2021