Reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist
In der Anthropologie und Menschenlehre gilt, dass der anthrôpos, der mit Vernunft ausgestattete Mensch ein wesentliches Merkmal besitzt: Sprache. Er ist in der Lage, sich sprachlich zu äußern, Allgemeinurteile zu bilden und sich zu bemühen, ein gutes, gelingendes Leben zu führen. Sprache ist kulturelles Ausdrucksmittel, das in sozialen Zusammenhängen durch Bildung und Erziehung erworben werden muss. Wer „plappert“ spricht nicht, und wer „labert“, redet dummes Zeug. Sprache und Verstand sind im philosophischen und anthropologischen Bewusstsein unbedingte Zusammenhänge und Bestandteile des intellektuellen Daseins des Menschen.
Sich sprachlich verständigen zu können, macht den Homo loquens aus. Von Aristoteles haben wir gelernt, dass „allein der Mensch Vorteilhaftes und Nachteiliges, sowie Gerechtes und Ungerechtes identifizieren und sich mit seinesgleichen darüber verständigen kanni. Bei den Volk- und Staatenbildungen haben immer schon die regional gesprochenen Dialektsprachen tatsächliche und vermutete Hindernisse dargestellt. Überliefert ist z. B. die Tischrede Martin Luthers, der 1538 räsonierte: "Es sind aber in der deutschen Sprache viel Dialecti, unterschiedliche Arten zu reden, dass oft einer den Anderen nicht wohl versteht“. So sind die Forderungen nach der „Hochsprache“ entstanden; und damit auch die Abwertung des Dialekts.
Dialekt und Hochsprache
Bei einer Fahrt durch Deutschland jedoch fällt auf, dass in den einzelnen Landschaften, von Nord nach Süd, von West nach Ost, nach wie vor Dialekte gesprochen werden. Die Unterschiede von Nord nach Süd sind zuweilen so groß, dass Außenstehende außer Zischlauten und Gemurmel nichts mehr verstehen. Ein waschechter Fischer aus Stralsund kann sich mit einem gebürtigen Winzer vom Kaiserstuhl nicht in der jeweils ureigenen Sprache verständigen. Dabei wirken die sprachlichen Unterschiede heute eher nicht mehr als Ab- und Ausgrenzungen, sondern als kulturelle Besonderheiten, die die Menschen in den jeweiligen Gebieten charakterisieren und die Vielfalt eines Volkes kennzeichnen. Weil nicht selten in den Familien der Dialekt in der sprachlichen Erziehung vermittelt wird, werden Kinder oft erst in der Kita und in der Schule mit der „Hochsprache“ konfrontiert. Das hat schon frühzeitig die Sprachwissenschaft und die Psychologie auf den Plan gerufen. Die Vermutungen und traditionellen Vorstellungen nämlich schwankten zwischen den Befürchtungen, dass die in der Schule vermittelte Hochsprache die Kinder von den Traditionen, Mentalitäten und dem Heimatbewusstsein entfernen und den (gefährlichen) Modernitäten ausliefern würden. Überrascht waren nicht wenige, als dabei herauskam, dass die jeweilige traditionelle Dialektsprache die Intelligenzentwicklung der Kinder fördere; freilich mit der Ergänzung, dass der Dialekt bei der Identitätsbildung zwingend der gleichzeitigen Hochsprachbildung bedarf.
Laute und Zeichen
Ein Dialekt ist ein eigenes "sprachliches System", das eigene Regeln hat und parallel zur Standardsprachefunktioniert. In den Dialekte n vollziehen sich Lautveränderungen, die z. B. in den offiziellen Alphabet-Zeichen nicht vorhanden sind, wie etwa das „ou“ in den oberpfälzischen Dialekten, oder die Wortverschiebungen beim „dass“ in das vorwiegend im Norden Deutschlands gesprochene „dat“, oder die Aussprache des Buchstaben „k“ (Kind) in das Schweizerische „Chind“. In der Sprachsystematik in Deutschland werden 16 größere Dialektverbände identifiziert. Dazu gehören unter anderem Bayerische, Alemannische, Obersächsische, Ostfränkische, Rheinfränkische, Westfälische, Ostwestfälische, Brandenburgische und Nordniederdeutsche.
Sprachschutz
Im „Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen“, das von der UNESCO, der Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftsorganisation der Vereinten Nationen, am 20. Oktober 2005 verabschiedet wurde, und das als „Magna Charta der Internationalen Kulturpolitik“ gilt, kommt zum Ausdruck, dass die kulturelle Vielfalt als ein bestimmendes Merkmal der Menschheit anzusehen,, als gemeinsames Erbe der Menschheit zu betrachten ist und die Menschen in ihrem individuellen, lokalen und globalen Dasein bereichert. In diesem Bewusstsein kommt der Sprache als Kommunikationsmittel zwischen den Menschen innerhalb einer ethnischen Gemeinschaft, wie auch als Verständigungsinstrument im internationalen Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu: „Sprachenvielfalt (ist) ein grundlegender Bestandteil der kulturellen Vielfalt ( )“ii, was bedeutet, dass kulturelle Ausdrucksformen von Menschen als gleichwertig zu verstehen sind und jeder Form von Unterscheidung als Hoch- oder Primitivkultur eine Absage erteilt wird. Diese Auffassung basiert auf der „globalen Ethik“, wie sie in der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamiert wurde und in der es in der Präambel heißt: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“iii.
Sprachforschung
Sprachforscher gehen davon aus, dass aktuell in der Welt rund 3000 verschiedene Sprachen gesprochen werden. In dieser Zählung sind die zahlreichen Dialekte noch gar nicht berücksichtigt. Wenn wir erst einmal bei den offiziellen Landessprachen bleiben, ergibt sich nach den Forschungsergebnissen des wissenschaftlichen Instituts SIL (Summer Institute of Linguistics) in Austin/USA, dass in wenigen Jahrzehnten vermutlich rund 95% der derzeit auf der Erde gesprochenen Sprachen ausgestorben sein werden. Die Forscher haben ermittelt, dass rund 96% der Sprachen von nur 4% der Weltbevölkerung überhaupt gesprochen werden, während sich die Mehrheit der Menschen derzeit in 20 Sprachen verständigt, z. B. in Chinesisch, Englisch, Hindi, Spanisch, Russisch, Arabisch, Portugiesisch, Französisch, Deutsch... Das Sprachensterben betreffe insbesondere Sprachen, die von weniger als 100.000 Menschen gesprochen werden. So sei in Afrika der Fortbestand von rund 200 Sprachen gefährdet, ebenfalls in Lateinamerika und Australien. In Europa sprächen etwa 123 Völker und Volksgemeinschaften in ihrer Muttersprache; zehn davon wären schon ausgestorben, rund 30 ernsthaft bedroht und 40 gefährdetiv.
Muttersprache und Dialekt
Die Bedeutung der sprachlichen Kommunikation beim menschlichen Miteinander bedarf keiner besonderen Erwähnung; sie ist konstitutiv für das Menschsein. Dabei kommt der Muttersprache eine besondere Aufmerksamkeit zu, und den Fremdsprachen öffnenden Sinn. Die neueren neuropsychologischen und neurolinguistischen Forschungen haben bestätigt, dass das Erlernen der Muttersprache entscheidend für eine gelingende Sozialisation und der kulturellen Identität der Menschen ist. Neu dabei ist, dass dieser Identifikationsprozess auch gefördert werden kann, wenn mundartliche Sprachen dabei nicht vernachlässigt oder unterdrückt, sondern zugelassen werden. Nach der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen vom 5. November 1992 werden Dialekte „als ein einzigartiger Bestandteil des kulturellen Erbes Europas“ bezeichnet, und es wird empfohlen, sie in den rechtlichen Lebensbereicchen Verwaltung, in Schulen und Erwachsenenbildung zuzulassen und zu fördern. So werden mittlerweile in einigen Schulen Arbeitsgemeinschaften angeboten, in denen die jeweiligen Dialekte der Region gelehrt, gesprochen und geschrieben werden. Mundartdichter und –schriftsteller veröffentlichen ihre Werke in der Dialektsprache, bringen sie in Radiosendungen zu Gehör und in Fernsehproduktionen und Theaterstücken auch zu Gesichtv. Johann Wolfgang von Goethe schreibt in seinen Erzählungen „Aus meinem Leben. Wahrheit und Dichtung“, er sei „in dem oberdeutschen Dialekt geboren und erzogen“ worden, einer Mundart, die „öfters derb, doch wenn man auf den Zweck des Ausdrucks sieht, immer gehörig (ist); nur mag freilich manchmal etwas mit unterlaufen, was gegen ein zartes Ohr sich anstößig erweist “ ist; und er kommt zu dem Ergebnis: „Jede Provinz liebt ihren Dialekt: denn er ist doch eigentlich das Element, in welchem die Seele ihren Athem schöpft“vi.
Sprachen sind Lautmittel, Gestenzeiger und Kommunikation
Besonders beim Dialektsprechen zeigen sich Formen, die in den Mutter- und Standardsprachen eher in den Hintergrund treten. Da sind zum einen die Bemühungen, Dinge einfach auszudrücken, das Sprechen als Erzählung zu verstehen und durch lautliche und körperliche Bewegungen zu unterstützen. Das erinnert z. B. daran, dass in der Sprachentwicklung der Menschen zuerst das lautliche Ausdrücken stand und die Verschriftlichung und Zeichengebung sich erst danach entwickelte. Da ist z. B. daran zu erinnern, dass in den meisten afrikanischen Kulturen die mündlichen Überlieferungen im Vordergrund standen. Der westafrikanische „Griot“, der Geschichtenerzähler, der Dorfchronist, der Sänger, Dichter und Kulturmanager war über Jahrhunderte hinweg eine Instanz und geschätzte Persönlichkeit, was sich in dem Sprichwort ausdrückt: „Wenn ein Griot stirbt, verbrennt eine Bibliothek“. Und da sind die Kommunikationsformen, die nicht als Sprachlaute, sondern als Gesten angewendet werden, wie z. B. das Gehörlosen-Alphabet, oder die Pfeiflaute („Silbo“) auf der Kanareninsel La Gomera.
Der Stiftländer Dialekt
In Nordost-Bayern, in der Oberpfalz, wird ein Dialekt gesprochen, der hier besonders dargestellt werden soll; zum einen deshalb, weil der Autor mit dieser Mundart aufgewachsen ist, zum anderen auch, weil die im „Stiftland“ gesprochene Regionalsprache im übrigen Deutschland eher unbekannt ist. Das „Stiftland“, das ist die Landschaft im Landkreis Tirschenreuth, an der deutsch-tschechischen Grenze, war lange Zeit durch den Ost-West-Konflikt abgegrenztes, vernachlässigtes und vergessenes Gebiet. Das hatte nicht nur ökonomisch und industriell nachteilige Folgen, sondern beförderte auch Heimatgefühle, die die Stiftländer in ihrem Dialekt ausdrückten. Landschaftsverbundenheit und weltanschauliches, christliches (katholisches) Bewusstsein förderten die Mundart-Entwicklung und –bewahrung. Der Stiftländer Dialekt weist Laute und Ausdrucksweisen aus, die sich in der deutschen Muttersprache eher nicht finden lassen und auch im offiziellen Alphabet nicht ausgewiesen sind, und deshalb in der Verschriftlichung des Dialekts meist nicht wiedergegeben werden können: „Wou gejst hi?“. Heimatschriftsteller und Mundartdichter bemühen sich darum, adäquate Ausdrucksformen darzustellen. Besonders die rauhe Landschaft, durchzogen von dichten Fichtenwäldern und Granitformationen, und die kargen, steinigen Böden, haben immer wieder Menschen bewegt, ihre Heimat zu beschreiben und zu besingen. Mit dem Gedicht
Erdepfl in da frâi (morgens)
miitogs in da brâi (Suppe)
oms in da hâit (Pellkartoffel)
Erdepfl in alé ewichkeit (immer)
wird darauf verwiesen, dass Stiftland immer schon (Klein-)Bauern- und Waldland war, das die Bewohner mühsam und ärmlich ernährte. In der Kleinstadt Waldsassen, unmittelbar an der Grenze ins ehemalige Böhmerland, dem heutigen Tschechien gelegen, leitet den Ortsnamen ab vom „Die-im-Walde-saßen“. Der Ort gilt im Stiftland als Kulturgut, weil dort die Zisterzienser ihre Kirche bauten, ihr Kloster errichteten, im Bibliothekssaal ihre religiösen Bücher schrieben und aufbewahrten, und die Landwirtschaft förderten. Auf der historischen „Porzellanstraße“, die vom fränkischen Selb und Arzberg über Waldsassen nach Weiden führte, entstanden auch in der Stadt zwei Porzellanfabriken, die vielen Bewohnern Arbeit und Einkommen sicherten. Auch die „Glasstraße“, von Waldsassen bis in den Oberpfälzer Wald, hat den Glasbläsern ein Auskommen ermöglicht und Gebrauchs- und Kunsterzeugnisse geschaffen. So gehört bis heute die Waldsassener Glasfabrik Lampertz zu den wenigen Einrichtungen, in denen Antikglas und Glaskunstwerke hergestellt werden. Die lehmigen, tonerdenen Böden ließen in vielen Orten des Stiftlandes Ziegeleien entstehen. „Erdverwachsen“, wie die Niedersachsen in ihrer Landeshymne singen, davon könnten auch die Stiftländer reden. Auch geologisch ist das Stiftland interessant. Dort bebt öfter im Jahr die Erde. Mit der Kontinentalen Bohrung im Waldnaabtal (Windischeschenbach) haben Geologen 9.101 Meter in die Tiefe gebohrt, um die Beschaffenheit der Erdkruste zu erkunden. Die aufsteigenden heißen (kohlenstoff-und radonhaltigen) Quellen haben schon vor Jahrhunderten das „Böhmische Bäderdreieck“ mit den Kurorten Mariánské Lázne (Marienbad), Karlovy Vary (Karlsbad) und Frantiskovy Lázne (Franzensbad), entstehen lassen. Und: In den1980er Jahren wurden auch in Bad Neualbenreuth, direkt an der tschechischen Grenze gelegen, Radonquellen entdeckt, und mit dem „Sibyllenbad“ ein deutsch-tschechisches Bäderviereck aufgebaut. Heute gehört das Stiftland zur „Euregio Egrensis“, einem europäischen, kulturellen und wirtschaftlichen Zusammenschluss des internationalen Projektes „Europa der Regionen“. Von Waldsassen nach Eger (Cheb) sind es 7 Kilometer. Stiftländer Schülerinnen und Schüler lernen in der Schule Tschechisch, und tschechische Deutsch. Noch einige andere Besonderheiten im Stiftland sind zu vermelden: Die Oberpfälzer, die immer schon als Völkchen kritisch und skeptisch auf Obrigkeiten und vor allem auf die oberbayerischen Herrlichkeiten geschaut haben (siehe z. B. auch die Widerstände in Wackersdorf gegen das Atomendlager), haben sich auch ein eigenes Bier gebraut: „Zoigl“, das als ein spezielles, obergäriges, naturtrübes „Stiftland-Getränk“ giltvii. In den zahlreichen Teiche im Stiftland wird der „fettarme Karpfen“ gezüchtet, ein begehrtes Fleisch in dem ansonsten nicht gerade „fettarmen“ Stiftland. So nämlich entstehen auch so mancherlei Vorurteile gegen die Stiftländerviii.
Fazit
Dem Stiftländer Dialekt kann man gut nahe kommen, wenn man die Sprichwörter betrachtet, mit denen sich die Menschen in ihrer Landschaft ausdrücken: „Wer niad goud doud, haod kan Oard“ (Wer nicht gut tut, hat keine Art)ix. Deshalb sind die Stiftländer stolz auf ihren Dialekt, mit den „Wouh“-Lauten und den derben, alltäglichen Ausdrücken, die nach wie vor in familiären und Freundes-Zusammenkünften benutzt und in der Sprachforschung thematisiert werdenx.
i „logos“, Ch. Horn, in: Otfried Höffe, Hrsg., Aristoteles-Lexikon, 2005, S. 329ff
ii Deutsche UNESCO-Kommission, Übereinkommen über Schutz und Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen. Magna Charta der Internationalen Kulturpolitik, Bonn <2005/2006>, 111 S.
iii Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte. Internationale Dokumente, Bonn 1981, S. 48
iv „Reichtum der Sprachen, UNESCO-Kurier 7/1983; sowie: Martin Kuckenburg, Die Entstehung von Sprache und Schrift. Ein kulturgeschichtlicher Überblick, dumont Tb 232, Köln 1989, 295 S.
v z. B.: Hans Obereder, Im Drautål herobm. Gedichte in Oberdrautaler Mundart, Carinthia Verlag, Klagenfurt 1992
vi Goethes sämmtliche Werke. Vollständige Ausgabe in sechs Bänden, vierter Band, Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung, Stuttgart 1869, S. 91f
vii Martin Stangl, Das Buch vom Zoigl, Weiden 2008, 144 S.
viii Jos Schnurer, Bei den Ostfriesen in Ostbayern, ZEIT Online, 2. 3. 1979
ix Wolfgang Ernst, Hrsg., 365 Oberpfälzer Sprichwörter, Weiden 2007, S. 17
x Martin Stangl, Neis Wörterböijchl Oberpfälzisch, Weiden 2005, 128 S.¸ Hubert Treml, Hawadehre! Oberpfälzisch in 30 x 2 Minuten, 2009, 128 S.