Seelische Misshandlung erkennen – und dann?
Wenn ich an den Oktober zurückdenke, habe ich das Bild von Herbstlaub, das zu einem Hügel zusammengefegt wurde und dann mit einem Windstoß wieder auf- und auseinandergewirbelt wird. Es ist bunt, verspielt und kräftig, nicht bedrohlich, eher eigenwillig.
Bei Arians Jugendhilfeträger biete ich jetzt alle zwei Monate ein Kinderschutzgespräch für das gesamte Team an. „Kinderschutzgespräch“, so nenne ich die trägerinternen Schulungen, die ich als Kinderschutzfachkraft vorbereite und moderiere. Ich informiere die Fachkräfte über relevante Gesetze, aktuelle Veröffentlichungen zum Thema Kindeswohl, gehe auf Inhalte des trägerinternen Kinderschutzkonzepts ein und gebe Fallbeispiele aus meiner Berufspraxis. Das passt, finde ich, denn bei Arian arbeiten überwiegend junge Menschen, mit wenig oder ohne Praxiserfahrung in den ambulanten Hilfen zur Erziehung.
Im Anschluss an das letzte Kinderschutzgespräch kamen eine Kollegin und ein Kollege auf mich zu, sie baten um Einzelfallberatungen zur Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen durch seelische Misshandlung.
In einem Fall ging es um ein Elternpaar, das offensichtlich seit vielen Jahren die Paarkonflikte „unter dem Teppich“ hält. Beide sind tief verletzt, gekränkt vom Verhalten des jeweils anderen und haben nie darüber miteinander gesprochen. Gefühle wurden weggedrückt und jetzt, wo die Tochter Probleme macht, kommt alles wieder hoch. Die Fachkraft meint, das Mädchen verhalte sich sehr gesund, die 12-Jährige zeige mit ihrem Verhalten, dass zuhause etwas nicht stimmt. Sie zerstöre Sachen und neige zu selbstverletzenden Handlungen, weil auch sie nicht gelernt habe, wie sie mit ihren Gefühlen gut umgehen kann. „Ich mag die Familie“, sagt die Kollegin. „Die Eltern sehen, dass es ihrer Tochter nicht gut geht, sie fühlen sich schuldig und hilflos. Ich komme an meine Grenzen und habe ihnen gesagt, sie sollen zur Paarberatung gehen. Aber das wollen sie nicht. Und anstatt miteinander zu reden oder eine Therapie in Anspruch zu nehmen, lassen sie ihre aufgestauten Gefühle dann einfach platzen und die Tochter ist immer wieder völlig unvermittelt der Traurigkeit des Vaters, der Enttäuschung der Mutter, und der Wut und dem Ärger von beiden ausgesetzt“.
Im anderen Fall ging es um einen Jugendlichen, der von seinen Eltern immer wieder gedemütigt und bloßgestellt wird, auch im Beisein des Betreuungshelfers.
Beide Fachkräfte formulierten im Anschluss an die Beratung, dass sie sich entlastet fühlen, dass sie ihre Beobachtungen nun besser einordnen können, und beide hatten auch Ideen für die nächsten Arbeitsschritte. Und ich war zufrieden darüber, dass die seelische Misshandlung erkannt wurde und dass die Fachkräfte in beiden Fällen wissen, wie sie die Zusammenarbeit mit der Familie fortsetzen können. Beide Fachkräfte möchten in vier bis sechs Wochen noch einmal mit mir sprechen und auswerten, was gelang und wo möglicherweise neue Hürden aufgetaucht sind. In einem Fall geht es darum, wie das Thema in den anstehenden Bericht aufgenommen werden kann und im anderen um die Abgrenzung der sozialpädagogischen zur familientherapeutischen Hilfe. Und ich denke, eine kombinierte Hilfe wäre eine gute Sache, ein Format, in dem die sozialpädagogische Hilfe um ein familientherapeutisches Angebot erweitert werden kann. Ich spreche mit Arian darüber. Er findet die Idee gut und fragt, ob ich ein Konzept dazu schreiben kann. Ich denke: Ja, kann ich. Aber ist das mein Job als Kinderschutzbeauftragte des Trägers? Ja und Nein, wenn ich es als kinderschutzsicherndes Angebot formuliere, wäre das denkbar. Ich werde den Gedanken in mein nächstes ISEF-Gruppentreffen mitnehmen.
Ihre Katja Änderlich*
*Pseudonym der Autorin