©iStockphoto.com/arturbo
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Sonderrechte für die Kirchen oder Verfassungsrechte für alle?

von Dr. Franz Segbers
12.04.2011 | Sozialpolitik, Sozialmanagement | Schwerpunkte Kommentare (0)

Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen – nach dem Motto scheint die Bundesregierung zu handeln, wenn es um Arbeitsverhältnisse in den Kirchen geht.

Auf eine Anfrage der Abgeordneten Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) reagierte die Bundesregierung monoton mit der Auskunft „keine Informationen“: So kannte sie nicht die Anzahl der Beschäftigten in den Kirchen und ihren zugeordneten Wohlfahrtsverbänden (Diakonie, Caritas) – dabei geben die Kirchen in ihren Statistiken darüber selber Auskunft; sie weiß nichts über die Arbeitsweise der Arbeitsrechtlichen Kommission, die in den Kirchen die Arbeitsbedingungen aushandelt – dabei hätten die Gremien und ihre bundesweiten Organe gern darüber Auskunft gegeben; über wettbewerbliche Folgen durch Entgeltdifferenzen zwischen Entgeltdifferenzen zwischen kirchlichen, privaten und öffentlichen Einrichtungen weiß sie ebenso wenig wie über das Durchschnittseinkommen in kirchlichen Einrichtungen. Sogar über die hoch umstrittene Auseinandersetzung um Leiharbeit in kirchlichen Einrichtungen liegen ihr keine Informationen vor, obwohl sogar das oberste Kirchengericht bereits darüber befunden hat. Nur zu offensichtlich ist das Bemühen der Bundesregierung, sich taub zu stellen.

Über eine Millionen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sind in den kirchlichen Einrichtungen von Caritas und Diakonie beschäftigt. Deshalb irritiert die nichtssagende Antwort der Bundesregierung auf die parlamentarische Anfrage umso mehr, gehören doch die kirchlichen Arbeitgebern zu den größten Arbeitgebern in Deutschland. Die Bundesregierung unterstreicht deren kirchlichen Sonderrechte und verweist auf die Garantie des kirchlichen Selbstbestimmungsrechtes, wie sie sich in der Weimarer Reichverfassung findet (Art. 137 WRV). Doch aus der verfassungsrechtlichen Statuierung des Endes des Staatskirchenwesens hat sich ein paralleler Rechtsraum entwickelt, den die Bundesregierung nicht bereit ist, genauer anzuschauen – geschweige denn in Frage zu stellen. Stattdessen verfolgt sie die Absicht, das Arbeitsrecht „im Licht des verfassungsrechtlichen Selbstbestimmungsrechts der Kirchen auszulegen“. Bezeichnend ist, dass die Bundesregierung keineswegs darauf hinweist, dass dieses kirchliche Selbstbestimmungsrecht nicht schrankenlos gelten, sondern nur verfassungsrechtlich nur „im Rahmen der für alle geltenden Gesetze“. Es wäre deshalb Aufgabe des Gesetzgebers und der Bundesregierung gewesen, die Grundrechte auch der in kirchlichen Einrichtungen beschäftigten Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zu stärken und auf die Einschränkung des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts zu verweisen, wie es der Europäische Menschengerichtshof erst unlängst getan hatte, als er sich für die Wiederbeschäftigung eines kirchlichen Arbeitnehmers ausgesprochen hatte. Während die Bundesregierung den Kirchen das Selbstbestimmungsrecht zuerkennt, einen Arbeitnehmer dann zu entlassen, wenn er „sich in seiner Lebensführung nicht an den tragenden Grundsätzen der kirchlichen Glaubens- und Sittenlehre hält“, hatte der Menschengerichtshof, die Wiederbeschäftigung in einem entsprechenden Streitfall verfügt. Offensichtlich ist: Die Bundesregierung räumt dem Kirchenrecht offensichtlich einen größeren Vorrang vor verfassungsrechtlich garantierten Grundrechten als europäische Gerichte ein und will sich nicht in die kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen einmischen.

Die Bundesregierung nennt die kirchlichen Arbeitsrechtregelungen Vereinbarungen, „die nach Inhalt und Aufbau Tarifvertragen ähnlich sind.“ Doch das sind sie keineswegs. Auch wenn sie in paritätisch von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite besetzt sind, fehlt ihnen die materielle Parität. Dem Dritten Weg fehlt die für eine faire Aushandlung von Arbeitsbedingungen unabdingbare Grundvoraussetzung der materiellen Parität. Solange die Kirchen die ausgehandelten Tarifverträge nachahmten, wurden die Defizite des Dritten Wegs nicht weiter auffällig oder problematisch, denn man bezog man sich auf eine „geliehene Parität“. Indem die Kirchen jedoch nun über den Dritten Weg auch Tarifverhandlungen kopieren, ignorieren sie das Verhandlungsungleichgewicht ihrer abhängig Beschäftigten. Mit dem Instrument des Dritten Weges haben die Kirchen bislang Tarifverträge kopiert und wollen jetzt mit dem gleichen Instrument auch die Tarifverhandlungen selber kopieren. Sie sprechen zwar von Parität, können sie aber nicht erreichen. Formal paritätisch besetzte Kommissionen sind nämlich strukturell überfordert und können nicht jene Parität herstellen, welcher erst die Gerechtigkeitsgewähr von Tarifverträgen begründet. Dabei hatte die Rechtsprechung bislang die Beschlüsse der arbeitsrechtlichen Kommissionen des Dritten Weges weder den Tarifverträgen gleichgestellt noch versieht sie diese mit einer Tarifvertragsqualität. Ihnen fehlt nach Urteilen des Bundesarbeitsgerichts 2002 und 2005 die Richtigkeitsgewähr, die den Tarifverträgen eigen ist. Wiederholt haben höchstrichterliche Entscheidungen bestätigt, dass Tarifverträge den Dritten Weg konstituieren. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass allein Tarifverträge eine hinreichende Gewähr für einen angemessenen Interessenausgleich zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite bieten, weil sie von gleichberechtigten, unabhängigen Partnern mit gleichem Durchsetzungsvermögen aufgrund von Verhandlungen geschlossen werden, und verzichtet daher auf eine Inhaltskontrolle tarifvertraglicher Regelungen. Hier liegt die Brisanz der Antwort der Bundesregierung. Sie scheint eine Öffnung erreichen zu wollen, auch den im Selbstbestimmungsrecht der Kirchen verankerten Dritten Weg die gleiche Rechtsqualität wie Tarifverträge zusprechen zu wollen. Doch dadurch schwächt sie das verfassungsrechtlich garantierte Tarifvertragsrecht für alle.

Dabei machen die Funktionäre der Diakonischen Arbeitgeber selber keinen Hehl daraus, dass sie die staatlich gewährten Privilegien als Wettbewerbsvorteil nutzen wollen. So nennt Ingo Dreyer, Geschäftsführer des Verbandes diakonischer Dienstgeber (VdDD,) die Tarifverträge „suboptimal“ und bezeichnet den Dritten Weg als einen „Wettbewerbsvorteil“ im Bereich der Personalkosten. Ein Tarifvergleich zwischen dem TVöD und den Arbeitsrechtsregelungen im DWHN zeigt demnach auch, dass beispielsweise eine examinierte Krankenschwester in der Diakonie 12 Prozent und eine Erzieherin 5 Prozent weniger gegenüber dem öffentlichen Dienst verdient. Doch die Bundesregierung nimmt diese Entwicklung nicht wahr, sondern meint, dass ihr keinerlei Informationen darüber vorliegen, dass „die Entgeltfindung im Rahmen der arbeitsrechtlichen Kommissionen der Kirchen auf Wettbewerber im Bereich soziale Dienstleistungen außerhalb der Kirchen Lohndruck ausübt.“ Diese Lohnsenkung war durchaus beabsichtigt, denn vor der Synode der EKD hatte Jürgen Gohde, der frühere Präsident des Diakonischen Werkes der EKD, im Jahr 2005 die Entwicklung eines eigenständigen, kirchengemäßen Tarifsystems gefordert, das die bisherige Bindung an den BAT und damit ein Tarifwerk verlässt, das alle Anbieter umfasst und für alle auch vergleiche Bedingungen schaffen könnte: „Wir brauchen ein kircheneigenes System, das die Chance einer positiven Beschäftigungsentwicklung in der Diakonie bietet und partnerschaftlich gestaltet wird.“

Die Bundesregierung gesteht den Kirchen das Sonderrecht zu, „ein Stück ihres Auftrags der Kirchen wahrzunehmen und zu erfüllen“. Hätte sie sich jedoch die Sicht des Landesarbeitsgerichts Hamm über die Besonderheiten des kirchlichen Dienstes zu eigen gemacht, wäre es zu einer anderen Sicht gekommen. Das LAG Hamm hat unterschieden zwischen dem „Dienstes am Nächsten“ und dem Aushandeln von Vertragsbedingungen: „Anschaulich vollzieht sich der ‚Dienst am Nächsten‘ an diesem, nicht hingegen am kirchlichen Dienstgeber bzw. Arbeitgeber als Gläubiger der vertraglich geschuldeten Leistung.“ (LAG Hamm 8 SA 788/10 )

Wenn die Kirchen eine arbeitsrechtliche Sonderstellung in Anspruch, dann müssen sie diese Sonderstellung durch eigenes Handeln rechtfertigen und darlegen. Kirche ohne Kirchlichkeit ist gewiss nicht Kirche. Wenn kirchliche Unternehmen aber Kirchlichkeit nicht mehr gewährleisten können, dann können sie auch den kirchlichen Status nicht mehr für sich beanspruchen. Kirchliche Unternehmen, die sich von kirchlichen Grundsätzen entfernen, betreiben damit objektiv das Geschäft derjenigen, denen die kirchliche Sonderstellung schon immer ein Dorn im Auge war. Deshalb sollte die Bundesregierung gerade dann, wenn sie die kirchlichen Sonderrechte so offensiv verteidigt, auch ein Interesse daran haben, wie die Arbeitsbedingungen tatsächlich sind.

Art 9 Abs. 3 GG schützt sowohl die Koalitionsfreiheit des einzelnen Arbeitnehmers als auch die Koalition selbst und ihren Zweck, nämlich den Abschluss von Tarifverträgen und die dazu erforderlichen Mittel einschließlich des Streikrechts. Denn Tarifverhandlungen ohne jedes Druckmittel, um Veränderungen der Arbeitsverhältnisse anzustreben, sind „kollektives Betteln“, wie das Bundesarbeitsgericht in einem Urteil festgestellt hat. Es sollte doch zu denken geben, dass die Kirchen kein Problem haben, das individuelle Arbeitsrecht zu akzeptieren. Doch wenn es um das kollektive Arbeitsrecht geht, dann argumentieren sie theologisch und erwarten für sich Sonderrechte. Die Verfassung spricht den Kirchen das Recht zu, ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes zu ordnen und zu verwalten (Art .137 Abs 3). Die Konstituierung eines arbeitsrechtlichen Sonderweges hat Art. 137 WRV nicht zum Ziel gehabt. Auch während der Weimarer Republik unterlagen die Kirchen dem für alle geltende Arbeitsrecht – einschließlich des Rechts auf Streiks und Tarifverträge. Die Verweigerung des Tarifvertrags und das Streikverbot, auf das kirchliche Arbeitgeber dringen, sind weder sozialethisch noch verfassungsrechtlich begründet. Tarifverträge sind der verfassungsrechtlich garantierte Weg „zur Wahrung und Förderung der Arbeitsbedingungen“ (Art 3 GG).

Solange kirchliche Arbeitnehmer jedoch keine gewerkschaftliche Organisationskraft entwickeln, werden sie auch ihr Recht kaum durchsetzen können. Damit die kirchlichen Arbeitgeber wie andere Arbeitgeber auch diese Ordnungsfunktion von Tarifverträgen schätzen lernen, werden die kirchlichen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen deshalb ihrerseits den Druck erhöhen müssen.

Autor
Prof. Dr. Franz Segbers
Professor für Sozialethik an der Universität Marburg
http://www.franz-segbers.de
Franz.Segbers@online.de 

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