Soziale Arbeit und Migration in Russland und Deutschland. Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede

von Dr. Carsten Kolbe-Weber, DIPLOMA Hochschule
19.11.2017 | Soziale Arbeit, Studium, Forschung | Veranstaltungsberichte

Für Deutschland bedeutet Einwanderung etwas anderes als für Russland. Wie diese durch Soziale Arbeit gelingen kann, damit hat sich vor wenigen Tagen eine deutsch-russische Tagung im hessischen Bad Sooden-Allendorf beschäftigt. Rund 70 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Studierende der privaten deutschen DIPLOMA Hochschule und der Staatlichen Landesuniversität Moskau (MGOU) tauschten sich mit weiteren Expertinnen und Experten aus ganz Deutschland an der DIPLOMA Hochschule dazu aus. 
Russische Delegation mit ihren deutschen Gastgebern der DIPLOMA Hochschule, Foto: DIPLOMA

Deutlich wurde, dass beide Länder vor ähnlich großen Herausforderungen in den Bereichen soziale Ungleichheit, Kinderschutz und Migration stehen. Der Spracherwerb und das Erlernen der kulturellen Gepflogenheiten tragen entscheidend für eine Integration von Migranten in das jeweilige Land bei. In Deutschland ist die Kenntnis der rechtlichen Situation zum Schutz unbegleiteter Jugendlicher sehr wichtig. Diese Form der Migration gibt es in Russland so gut wie gar nicht. Betont wurde, dass in beiden Länder ein Augenmerk der Sozialen Arbeit bei der Migration auf Familien und Minderjährige gelegt werden sollte. „Wir wollen den Versuch wagen, dass Thema Migration von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Von der fachwissenschaftlichen genauso wie beispielsweise von der
, kulturellen und philosophischen Seite", so die Präsidentin der DIPLOMA Hochschule, Prof. Dr. Michaela Zilling zum Auftakt der Veranstaltung.

Die Kooperation mit der staatlichen Landesuniversität Moskau ermögliche einen spannenden Ländervergleich zur Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit in Russland und Deutschland, so Zilling weiter. Dr. Valeryi Makarchenko, vom Rektorat für internationale Fragen der MGOU betonte bei seiner Begrüßung, dass beide Seiten viel voneinander lernen können. Die Vorträge und Workshops beschäftigten sich wissenschaftlich und praxisbezogen mit solchen Fragen wie der soziokulturellen Adaption und Integration von Migranten in Russland, mit Rahmenbedingungen für die Integration in Deutschland einschließlich Beruf, Bildung und sozialmedizinischen Diensten sowie der Arbeit mit Kindern. Zum Auftakt der Tagung fand eine Analyse über die aktuelle Migrationssituation in beiden Ländern statt.

Migrant ist nicht gleich Migrant

Nach Deutschland kommen Migranten aus Ländern der EU und aus aller Welt, insbesondere aus Syrien, Afghanistan und dem Irak, den Maghreb-Staaten sowie einigen afrikanischen Staaten. Sie gehören sehr unterschiedlichen Kulturkreisen an und sind in der Regel ohne Deutschkenntnisse. „Dem gegenüber stammen 85 Prozent der russischen Einwandererinnen und Einwanderer aus ehemaligen Sowjetrepubliken wie zum Beispiel Tadschikistan, Usbekistan oder Kasachstan, den heutigen GUS Staaten (Gemeinschaft unabhängiger Staaten). Von diesen Einwanderern sprächen rund 60 Prozent russisch," so Prof. Dr. Nataly Komarova, Lehrstuhlinhaberin für Soziale Arbeit an der MGOU. Insgesamt gäbe es in Russland rund zehn Millionen Einwanderer bei einer Gesamtbevölkerung von rund 142 Millionen. Ein Problem sei die illegale Beschäftigung. So arbeiten in Moskau rund eine Millionen Zuwanderer, aber nur rund 400.000 seien auch offiziell gemeldet, so Komarova weiter. Russen mit einem höheren Bildungsabschluss verlassen ihre Heimat Richtung Westen, junge Männer mit einem niedrigeren Bildungsabschluss wandern aus den GUS-Staaten ein.

Ähnlichkeiten bei Problemen

Ein wesentliches Ergebnis des deutsch-russischen Austausches war, dass sowohl in Russland als auch in Deutschland ähnlich große Probleme in den Bereichen soziale Ungleichheit, Kinderschutz und Migration bestünden. Dabei sei die Migration eine besonders drängende Herausforderung für beide Länder, so Prof. Dr. Birgit Wartenpfuhl, Studiendekanin für Soziale Arbeit (B.A.) an der DIPLOMA Hochschule. Gemeinsam erkannte man auf der Tagung, wie entscheidend der Spracherwerb und das Erlernen der kulturellen Gepflogenheiten für eine Integration der Migranten in das jeweilige Land ist. Ein Augenmerk der Sozialen Arbeit sollte auf Familien gelegt werden. Dabei sind Kinder und Jugendliche besonders verwundbar. Während die Eltern noch stark mit der Heimat verbunden sind, befinden sich Kinder und Jugendliche in einem Spannungsfeld der alten und neuen Heimat. Dies kann zu erheblichen Konflikten in den Familien und zu großen Problemen für die Heranwachsenden führen. Deshalb sollte besonders die Familienarbeit mit Blick auf das Kindeswohl neben anderen Hilfen für Migranten gestärkt werden.

Schützt unbegleitete Kinder und Jugendliche!

Egal, ob in Russland oder Deutschland, ab der Geburt haben alle Kinder Grundrechte. Diese sind in der UN-Kinderrechtskonvention festgelegt. „Dadurch ergibt sich weltweit eine relativ gleiche Perspektive auf Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren unabhängig von der Nationalität," so der Jurist Prof. Dr. Kurt-Peter Merk in seinem Vortrag. Für Deutschland gilt außerdem die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als primäres Recht und schließlich auch das Grundgesetz, welches eine Altersdiskriminierung verbiete. Das Sozialrecht stellt soziale Aspekte in den Vordergrund und hat fördernden Charakter, das Asylrecht stammt jedoch aus dem Sicherheitsrecht mit einem abwehrenden Charakter. Die Soziale Arbeit mit minderjährigen Migranten in Deutschland findet an der Nahtstelle von diesen zwei Rechtsgebieten statt. Das EU-Recht verlangt bei unbegleiteten Minderjährigen eine Vertretung im Asylverfahren. Dies ist in der Regel der Vormund, also ein Vertreter oder eine Vertreterin aus der Sozialen Arbeit. Plötzlich stünden diese in zwei Rechtswelten – fördern und abwehren. „Sozialarbeiter müssen sich deshalb unbedingt in den rechtlichen Verfahren auskennen. Nur so können sie advokatorisch für die Minderjährigen tätig und konfliktfähig in den Asylverfahren werden. Sie müssen zum Beispiel kindgerechte Asylverfahren rechtlich begründet gegenüber dem ermittelnden Entscheider durchsetzen. Deutschland verletzt in diesem Bereich bei Asylverfahren massiv EU-Recht, Sozialarbeiter müssen rechtlich fit sein," so Merk weiter. Deshalb seien rechtliche Qualifikationen und Fortbildungen im Bereich der Sozialen Arbeit dringend notwendig.

Familie, Schule und jugendliche Einwanderer

Prof. Dr. Nesterova, Lehrstuhl für Soziale Arbeit an der MGOU untersucht Migrantenfamilien in Russland. Dabei hat sie festgestellt, dass die Anpassungsprozesse für jedes Familienmitglied anders verlaufe. Generell passen sich Kinder schneller an als ihre Eltern. Für die Familien sei die Hilfe von anderen Migranten sehr wichtig. „Einwandererfamilien haben enorme pädagogische, soziale und kulturelle Herausforderungen zu bewältigen. Einwanderer aus Usbekistan und Kirgistan lassen ihre gesamten kulturellen Eigenarten und Netzwerke aus Freunden und Verwandten zurück. Eltern sind in dieser Situation oft überfordert und können ihren Erziehungs- und Schutzfunktionen nicht so nachkommen, dass eine kindgerechte geschützte Umgebung in der neuen Heimat entsteht," so Nesterova. Deshalb sei die Soziale Arbeit gerade in diesem Bereich sehr wichtig.

Aber auch Jugendliche haben es nicht einfach. Nestorava und ihr Team befragten an einem Gymnasium in Moskau rund 330 Schüler zu ihrem Verhältnis untereinander (Migranten und Einheimische). So gaben nur 14 Prozent der russischen Schüler an, engen Kontakt mit den Migranten in ihrer Klasse zu haben. Weiterhin wurden sie nach ihrer Einstellung gegenüber den eingewanderten Schülern gefragt. Ein Fünftel der russischen Schüler sähe die Zuwanderer positiv, rund ein Viertel negativ und gut die Hälfte der Schüler sei es egal (55 Prozent). Viele der eingewanderten Jugendliche habe Sehnsucht nach ihrer Heimat und würden gern zurückkehren (35 Prozent). „Auf beiden Seiten besteht eine gewisse Fremdheit", so Nestorava.

Neue Erkenntnisse und gute Perspektiven

Die Tagung ist Teil einer Kooperation zwischen den beiden Hochschulen, die seit etwa einem Jahr besteht. Die erste gemeinsame Tagung fand im Jahr 2016 in Moskau statt. Die Studiendekanin für Soziale Arbeit (B.A.) Prof. Dr. Birgit Wartenpfuhl richtete mit ihrem Team die fachwissenschaftliche Tagung aus. Astrid Henrisken, Leiterin des Sozialamtes Bremerhaven empfand die Tagung als sehr bereichernd, da Forschung und Praxis Hand in Hand mit Lösungsansätzen gingen. Susanne Bauholzer, Studentin der Sozialen Arbeit an der DIPLOMA im siebten Semester wiederum stellte fest: „Für mich waren die Unterschiede in der Migration in manchen Bereichen erstaunlich, beispielsweise dass es in Russland kaum unbegleitete jugendliche Flüchtlinge gebe." Die Wissenschaftlerin Ngan Nguyen-Meyer von der Hochschule für angewandte Wissenschaften München sah die Konferenz in einem größeren Rahmen „Ländervergleiche sind spannend. Sozialistisch geprägte Länder wie Vietnam und Russland haben in der Vergangenheit einen anderen Weg in der Sozialen Arbeit als der Westen beschritten. Heute findet eine Annäherung statt, da sich die Probleme mehr ähneln." „Die russische Perspektive kommt auf Konferenzen und Tagungen selten vor. Es ist interessant zu hören, vor welchen Herausforderungen Russland bei der Sozialen Arbeit steht," meinte Sandra Rheinhardt, Sozialarbeiterin sowie Dozentin und merkte weiter an, dass es aufschlussreich für das Verständnis sei, welche Unterschiede es in der Migration gäbe.

Makarchenko von der russischen Seite freue sich besonders, dass Studierende der MGOU aus Russland zusammen mit Studierenden der DIPLOMA Hochschule an der Tagung teilnähmen. Sofia Demenkova, Studentin an der MGOU empfand den mehrtägigen Besuch von Einrichtungen der Sozialen Arbeit vorher in Leipzig als gute Vorbereitung auf die wissenschaftliche Fachtagung an der DIPLOMA Hochschule. Der Student Aleksei Bondareko meinte, dass damit das Verständnis für die Soziale Arbeit in Deutschland und Russland gefördert und besser vergleichbar werde. Von dem wissenschaftlichen und persönlichen Austausch profitieren natürlich auch die Studierenden des DIPLOMA Studiengang Soziale Arbeit (B.A.). Beide Hochschulen wollen den Austausch und die Zusammenarbeit fortsetzen. Dazu gehörten nicht nur wissenschaftliche Tagungen, sondern auch gemeinsame Projekte, Studentenaustausche und Publikationen.

Zur Tagung wird im Jahr 2018 ein Tagungsband publiziert. Bei Interesse wenden Sie sich an Prof. Dr. Birgit Wartenpfuhl, E-Mail: soziale.arbeit@diploma.de