Spielend durch die Krise – Gesellschaftsspiele in der Kinder- und Jugendarbeit
Viele Einrichtungen in der Kinder- und Jugendhilfe müssen derzeit auf die bei den Kindern und Jugendlichen so beliebten Erkundungen und Ausflüge verzichten. Was hilft gegen den Lagerkoller? Spielen! Doch nicht alle Gesellschaftsspiele eignen sich gleich gut für die pädagogische Arbeit. Ein Gastbeitrag von der Sozialpädagogin und Spieleexpertin Petra Fuchs.
„Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“. Schon Friedrich Schiller stellte fest, dass Spielen seit jeher einen Teil des Menschseins ausmacht. Und tatsächlich: Archäologische Funde belegen, dass Gesellschaftsspiele bereits seit ca. 4500 Jahren gespielt werden. Das Spielen zieht sich durch alle Epochen der Menschheit hindurch und wird nicht umsonst als Kulturgut bezeichnet (auch wenn die offizielle Anerkennung durch die UNESCO noch auf sich warten lässt).
Heute scheint die Relevanz von Gesellschaftsspielen weit unterschätzt. Oft hört man Sätze wie: „Spielen ist nur etwas für Kinder“ oder „Da spielt man nur“. Dabei kann das Spiel – allen voran das Gesellschaftsspiel – weit mehr als viele vermuten. Gerade für die Soziale Arbeit kann das Spiel ein Medium sein, das verbindet. Denn im Spiel kann jede*r sein, wie er*sie ist. Es ist unerheblich, welches Alter, welche Herkunft oder welche Fähigkeiten vorliegen. Einigt man sich auf ein Spiel mit einem gemeinsamen Nenner, kann jede*r teilhaben. Denn es geht um nichts anderes als das Spiel. Das Spiel ist die gemeinsame Sprache und das gemeinsame Ziel.Gesellschaftsspiele eignen sich schon aufgrund dieser Eigenschaften als Medium für die Soziale Arbeit und könnten ein ideales Kommunikationsmittel sein. Denn Soziale Arbeit ist Kommunikation. Einen guten Kontakt zu seinen Klient*innen aufzubauen ist schließlich die Basis für eine gelingende Zusammenarbeit. Ohne gelingende Kommunikation ist Soziale Arbeit nicht möglich.
Ein Drittel der Bevölkerung spielt gerne Gesellschaftsspiele
Dass Gesellschaftsspiele laut Studien von über 1/3 der Bevölkerung in Deutschland gerne gespielt werden, unterstreicht die hohe Bedeutung und die Möglichkeiten für Tätige der Sozialen Arbeit. Wenn viele Menschen durch das Spielen von Gesellschaftsspielen begeistert werden können, ist die Chance groß, dass sich das Gegenüber nicht gelangweilt umdreht, wenn man ein Spiel auf den Tisch packt. Und die Praxisbeispiele geben uns Recht. Gerade jetzt, in Zeiten von Corona, kann das Spielen von Gesellschaftsspielen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe dem „Lagerkoller“ entgegenwirken. Werden die richtigen Spiele angeboten, können gerade Kinder- und Jugendliche begeistert werden. Und darauf kommt es an: Spiele herauszusuchen, die Interesse und Neugier wecken, mit hohem Wiederspielwert. Klassiker wie Mensch-Ärgere-Dich nicht und Monopoly scheinen für die Jugendarbeit eher ungeeignet, da sie schnell frustrieren und zu lange dauern. Dies erhöht die Gefahr, an Spielfreude zu verlieren. Bei über 1000 Neuerscheinungen jährlich ist es aber wahrscheinlich, dass Spiele dabei sind, die zu begeistern vermögen. Schließlich liegen teilweise viele Jahre Entwicklungsarbeit in Gesellschaftsspielen, die auf Erfahrungen der letzten Jahrzehnte aufbauen. Sich in diesem ‚Spieledschungel‘ zurechtzufinden, ist zugegebenermaßen eine Herausforderung.
Spiele bieten in der Krise pädagogisch sinnvolle Alternativen
Dass Gesellschaftsspiele bei Kindern und Jugendlichen gut ankommen, erkennt man nicht nur anhand „überfüllter“ Brettspiel-AGs an Schulen, die es deutschlandweit leider noch viel zu selten gibt, sondern auch in der stationären Kinder- und Jugendhilfe.Im Antoniushaus in Marktl wird z. B. gerne gespielt. Es ist eine heilpädagogische Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe mit 54 vollstationären Plätzen für männliche Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Die Einschränkungen um das Coronavirus haben auch vor dem Antoniushaus keinen Halt gemacht. Für die Kinder und Jugendlichen ist es besonders schwer, dass keine Ausflüge, Heimfahrten oder gemeinsames Einkaufen stattfinden können. Da kann ihnen die Decke schnell auf den Kopf fallen und das Risiko erhöht sich, dass Konflikte entstehen. Schach, Siedler und Biberbande sind hoch im Kurs. Doch Gesellschaftsspiele werden nicht nur als lustiger Zeitvertreib gesehen. Sie helfen den Kindern dabei, sich miteinander zu beschäftigten, sie lernen bei kooperativen Spielen, was Zusammenarbeit bedeutet und vor allem wird viel miteinander gesprochen – und wenn es nur über das Spiel ist, das gerade gespielt wird. Das fördert nicht nur kognitive und soziale Fähigkeiten, sondern verbindet.
Doch Gesellschaftsspiele können noch weit mehr: Sie ermöglichen einen gelingenden Erstkontakt. Jeder weiß, dass gerade für neue Mitarbeiter*innen in den ersten Wochen der Aufbau eines vertrauensvollen Kontakts zu den Kindern und Jugendlichen elementar ist. Nur so können Bindungen entstehen, die es Sozialarbeiter*innen und Erzieher*innen ermöglichen, Kinder und Jugendliche auf ihren Wegen zu begleiten. Das Spiel scheint – richtig ausgewählt – eine magische Anziehungskraft auf Kinder und Jugendliche auszuüben. Wichtig ist, dass zu Beginn keine komplexen Spiele gespielt werden. Diese können überfordern und die anfängliche Neugier wieder schmälern. Lieber sanft einsteigen und dann je nach Fähigkeiten der Jugendlichen den Anspruch später erhöhen.
Verschiedene Spiele erzeugen verschiedene Dynamiken
Das Spiel, das zu Beginn meist alle Kinder und Jugendlichen begeistern kann, heißt „King of Tokio“ vom Huch! Verlag. Das Würfel- und Brettspiel ist entgegen der Altersangabe durchaus bereits ab 8 Jahren geeignet und kann mit bis zu 6 Spieler*innen gespielt werden. Für das Spiel spricht nicht nur die kurze Spieldauer von 30 Minuten (denn ‚Sitzfleisch‘ ist in der Kinder- und Jugendhilfe leider nicht die Regel), sondern auch das Thema fasziniert. Die Spieler*innen spielen verschiedene Monster, die versuchen, die Stadt Tokio zu erobern (angelehnt an den Film Godzilla). Mit Würfeln, die in Kniffel-Manier geworfen werden, können verschiedene Aktionen ausgeführt werden. Nicht nur Energie (die man gegen Aktionskarten tauschen kann) oder Siegpunkte werden gesammelt, es geht auch darum, die anderen Monster anzugreifen. Fantasievoll und spielerisch verpackt begeistert „King of Tokio“ viele Kinder. Dass Kinder und Jugendliche dabei lernen Wahrscheinlichkeiten einzuschätzen, auf Nummer sicher zu gehen, etwas zu wagen und natürlich auch mit Misserfolg umgehen zu müssen, ist eine schöne Nebensache.
Wem „King of Tokio“ noch zu lange dauert, dem sei „L.A.M.A.“ von Amigo ans Herz gelegt. Ein schnelles und verrücktes Kartenspiel, das ein wenig an „UNO“ erinnert. Wer es kooperativ mag, sollte sich zum Einstieg „Concept“ von Asmodee anschauen. Gerade wenn man die Variante ab 10 Jahren ohne Punkte oder in Teams spielt, kommt beim Raten der Begriffe schnell ein Gemeinschaftsgefühl auf. Für jüngere Kinder ist „Concept Kids Tiere“ empfehlenswert. Wenn es dann etwas anspruchsvoller werden darf, kann gerne „Azul“, ein Taktikspiel von Pegasus, auf den Tisch kommen oder das App-unterstützte, kooperative Spiel „Herr der Ringe“ von Asmodee. Bei vielen der App-unterstützten Spiele wird mit kleinen Miniaturen gespielt. Gerade diese begeistern Jugendliche und dass die kleinen Figuren sogar angemalt werden können, weckt künstlerische Talente in den jungen SpielerInnen.
Gemeinsames Spielen schafft Vertrauen
All diese Spiele machen nicht nur Spaß, sie bauen auch Brücken. In kürzester Zeit lernen Kinder die Pädagog*innen einzuschätzen und umgekehrt. Sie lernen einander in Situationen des Gewinnens und Verlierens kennen und erleben sich gegenseitig in der spielerischen Zusammenarbeit. Und da jede*r sein darf, wie er*sie ist (im Rahmen der Spielregeln), fühlen sich alle Spielenden ernstgenommen und respektiert. Und genau das schafft Vertrauen und ermöglicht es, über die Stufe des vorsichtigen Beschnupperns relativ schnell auf eine vertrauensvolle Ebene zu gelangen.
Auch sogenannte Pen-&-Paper-Rollenspiele kommen im Antoniushaus gut an. Denn hier wird mit nichts als Stift, Papier und Fantasie gespielt. Eine Person, idealweise der*die Betreuer*in übernimmt dabei die Rolle des Erzählers/der Erzählerin und führt die anderen Spieler*innen mit ihren fiktiven Charakteren durch ein spannendes Abenteuer. Als Zauberer oder Kriegerin, Elf oder Zwergin werden die Kinder und Jugendlichen mit den dunklen Geheimnissen einer fantasievollen Welt konfrontiert, auf die sie – erzählend – reagieren können.
Rollenspiele beflügeln Fantasie und fördern Kooperation
Ein gutes Beispiel ist das Spiel „So nicht, Schurke!“ von Pegasus. Es ist ab 5 Jahren geeignet und bietet daher einen leichten Einstieg für alle Beteiligten. Auch Jugendlichen gefällt die Welt des Spiels namens Fabula, zumal die Abenteuer mit höchstens 30 Minuten nicht so langatmig sind, wie in anderen Rollenspielsystemen. Wenn sich die Kinder und Jugendlichen nach längeren und anspruchsvolleren Welten sehnen, kann nach einiger Zeit auf Systeme wie z. B. „1W6 Freunde“, oder „Äventyr“ umgestiegen werden (beide sind derzeit übrigens gratis erhältlich).
Was ist nun das Faszinierende an Rollenspielen für die Kinder- und Jugendarbeit? Sie sind ein Motor der Fantasie. Denn es gibt weder Spielbrett noch viele Bilder. Allein in der Vorstellung werden Abenteuer bestritten. Das kann Anfangs herausfordernd sein. Doch mit der Zeit lernen die Kinder und Jugendlichen ihre Vorstellungen zu verbalisieren. Und das Großartige dabei ist: Fast alles ist erlaubt. So können die Spieler*innen den Charakter ihrer Träume spielen, superstark sein, fliegen oder zaubern. Dies weckt Begeisterung. Neben der Fantasie sind im Rollenspiel zwei weitere Dinge tragend: Sprache und Kooperation. Die Kinder und Jugendlichen lernen nach und nach sich zu äußern, Vorstellungen in Sprache zu wandeln und Wünsche zu benennen. Dabei hilft bei Bedarf der*die Spielleiter*in. Denn wer leitet, spielt auch die Nicht-Spieler-Charaktere. Je realistischer diese gespielt werden, desto eher können sich die Kinder und Jugendlichen abschauen, wie mit Sprache gespielt werden kann. Aber auch Kooperation hat in Rollenspielen einen sehr hohen Stellenwert: Die Kinder ziehen mit ihren Charakteren immer als befreundete Gruppe ins Abenteuer. Es gilt, eine oder mehrere Aufgaben zu lösen und das gelingt nur gemeinsam. Jeder Charakter hat andere vorteilhafte Fähigkeiten, so dass es unabdingbar ist, sich gegenseitig zu unterstützen. Zudem muss sich beraten und Entscheidungen getroffen werden. Das ist nicht im Alleingang möglich. Rollenspiele sind daher prädestiniert dafür, damit Kinder und Jugendliche Kooperation erlernen, üben und vertiefen.
Doch im Grunde ist auch dies nur ein schöner „Nebeneffekt“. Denn Ziel des Spielens sollte es sein, gemeinsam Zeit zu verbringen, Abenteuer zu erleben, Spaß und Begeisterung zu empfinden. Alles andere ist ein „Kann“, aber kein „Muss“ und dann ist auch das Wesen des Spiels, nämlich dem, „keinem Zweck zu dienen“, erfüllt.
Weitere Spieleideen können hier eingesehen werden: www.jungundaltspielt.de
Zur Autorin:
Petra Fuchs ist Sozialpädagogin, Spieleexpertin und Studentin im Masterstudiengang 'Soziale Arbeit und Forschung' an der Fachhochschule Münster.