Tun wir die richtigen Dinge? Und: Tun wir die richtigen Dinge richtig? Qualitätsentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe
Bericht zur 100. Fachtagung der Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe (AGFJ)
„Nur wer sich ändert, bleibt sich treu.“ Prof. Martin zur Nedden, Wissenschaftlicher Direktor und Geschäftsführer, Deutsches Institut für Urbanistik (Difu), Berlin, sagte in seiner Eröffnungsrede, dass in den letzten 20 Jahren das Thema der Kinder- und Jugendhilfe einen Bedeutungszuwachs, gerade in der öffentlichen Wahrnehmung, erfahren habe. Neue Handlungsfelder und Kooperationspartner sind hinzugekommen, es wurden aber auch viele politisch wegweisende Entscheidungen getroffen, wie Gesetzesänderungen. Gerade deswegen habe der Titel der 100. Tagung auch eine symbolische Bedeutung. Er spiegelt diese Entwicklung und die Notwendigkeit, Rahmenbedingungen immer wieder zu überprüfen und Arbeitszusammenhänge und -felder weiterzuentwickeln. Dies zu diskutieren, war auch Anliegen dieser Tagung der Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe, die am 15./16. Mai 2014 in der Jerusalemkirche in Berlin mit einem interessierten Fachpublikum stattfand. Ein Brückenschlag zur kommunalen Praxis Dr. Heike Schmid-Obkirchner, Leiterin des Referates Rechtsfragen der Kinder- und Jugendhilfe, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin, sagte: „für uns im BMFSFJ sind die Fachtagungen der AGFJ ein Brückenschlag zur kommunalen Praxis der Kinder- und Jugendhilfe. Wir erhalten damit ungefilterte Rückmeldungen, wie bundesgesetzliche Regelungen in der Praxis umgesetzt werden, wie sie wirken, wo „der Schuh drückt“, wo Handlungs- und Änderungsbedarf besteht. Wir können unsere politischen Handlungsschwerpunkte unmittelbar in die Praxis der freien und öffentlichen Jugendhilfe hinein vermitteln und uns dazu austauschen.“ Die Herstellung von Chancengleichheit für alle jungen Menschen sei eine wichtige gesamtgesellschaftliche Aufgabe und vor allem eine aktuelle und künftige Herausforderung der Kinder- und Jugendhilfe. Deren zunehmende Bedeutung gehe mit einem expansiven Anstieg der kommunalen Ausgaben einher. Vor diesem Hintergrund sei es wichtig, auf einer Tagung wie dieser der Frage nachgehen, wo die Kinder- und Jugendhilfe aktuell steht, wie die Entwicklung verlaufen ist, wie sie in Zukunft verlaufen muss und welche Herausforderungen zu bewältigen sind, um die Zukunftsfähigkeit der Kinder- und Jugendhilfe sicherzustellen. Kinder- und Jugendhilfe unter (Handlungs-)Druck? Prof. Dr. Karin Böllert, Professorin für Erziehungswissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ, referierte zur Frage: „Kinder- und Jugendhilfe unter (Handlungs-)Druck? Veränderte Bedingungen des Aufwachsens in Deutschland – welche Auswirkungen hat dies auf die Kinder- und Jugendhilfe?“. Sie verwies zunächst darauf, dass die Kinder- und Jugendhilfe in den letzten 20 Jahren eine qualitätsvolle Arbeit geleistet habe. Dennoch sei es wichtig, auch die „Schattenseiten“ zu thematisieren. Was hat sich insgesamt verändert? „Wir erleben heute eine organisierte und betreute Kindheit von Anfang an, womit die Kinder- und Jugendhilfe auch für diese Altersgruppe eine erweiterte Verantwortung übernommen hat ...“ Es wird ein großes Schwergewicht auf „Bildung von Anfang an“ gelegt, Medien spielen eine größere Rolle, die Gruppe der jungen Erwachsenen erfährt wieder mehr Aufmerksamkeit, Familie ist ein öffentliches Thema geworden. Wenn auch ein großer Teil der Kinder sorgenfrei aufwächst, dürfen aber zugleich „die Ränder der Gesellschaft“ nicht aus den Augen verloren werden, fast jedes dritte Kind ist benachteiligt oder arm. Ein Blick auf die aktuelle Situation zeige, dass gegenwärtig 800.000 Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten und in diesem Bereich zuletzt 32 Milliarden Euro jährlich ausgegeben wurden. 2008 nahmen 0,5 Millionen Kinder und Jugendliche Hilfen zur Erziehung in Anspruch, 2012 war es bereits eine Million, davon 6% in der Altersgruppe der 0- bis 6-Jährigen. Bei den Fachkräften in der Kinder- und Jugendhilfe sei(en) eine zunehmende Akademisierung, Feminisierung, Teilzeitbeschäftigung und weniger Quereinsteiger/innen zu beobachten. Die Altersstruktur sei eher schwierig, es dominieren 45- bis 55-Jährige, es gebe aber – durch den gewachsenen Mehrbedarf – auch viele sehr junge Fachkräfte. Die Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe sei ein Lebensarbeitszeitberuf geworden. Um hier Professionalität zu sichern, sind qualitative und damit auch tarifrechtliche Elemente notwendig. Jugendämter sind das „organisatorische Herzstück“ der Kinder- und Jugendhilfe. Sie sind „die wichtigsten Institutionen für Fragen der Förderung und Hilfe für Kinder, Jugendliche und Familien, auf kommunaler Ebene als sozialpädagogische Fachbehörde anerkannt und haben sich als eine von der Bevölkerung eindeutig identifizierbare Behörde konsolidiert“. Eine zentrale und wichtige Frage sei auch, wie in Zukunft der ASD ausgestattet wird. Eine festgelegte Fallzahl-Fachkräfte-Relation könne nicht empfohlen werden, da die regionalen Bedarfe und Ausgangslagen zu unterschiedlich seien. Weitere Aussagen von Frau Prof. Böllert bezogen sich auf die Sicherstellung der personellen, organisatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen, die Berücksichtigung von fallspezifischen, fallübergreifenden und fallunspezifischen Aufgaben bei der Personalausstattung des ASD und die Stärkung der sozialpädagogischen Methodenkompetenz. Ein Blick zurück nach vorn Ein großer Themenblock der Tagung widmete sich den rechtlichen und fachlichen Veränderungen der letzten beiden Jahrzehnte mit Blick auf die Frage, wie sich die Steuerungsmöglichkeiten in der Kinder- und Jugendhilfe weiter entwickelt haben. Über die rechtliche Entwicklung sprach Dr. Heike Schmid-Obkirchner, Leiterin des Referates Rechtsfragen der Kinder- und Jugendhilfe, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin. Sie bilanzierte in ihrer Rede, dass es nach 1990 insgesamt 37 Gesetze bzw. Gesetzesänderungen im SGB VIII gab, und nannte beispielhaft einige wichtige, wie die Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz 1996, das KIFÖG, das KICK, das Gesetz zur Änderung der Vormundschaft/Betreuungsrecht sowie natürlich insbesondere auch das Bundeskinderschutzgesetz, das 2012 in Kraft getreten ist. Vor dem Hintergrund des Koalitionsvertrags und aktueller fachpolitischer Debatten stünden perspektivisch folgende Themen im Mittelpunkt der fachlichen und ggf. auch rechtlichen Entwicklung:- „Hilfen zur Erziehung zukunftsfest weiterentwickeln,
- Leistungen inklusiv gestalten,
- Ganztagsbetreuung von Schulkindern,
- Kinderschutz weiterentwickeln,
- ‚Jugend im Fokus‘.“
- Organisation des Jugendamtes (zersplitterte Zuständigkeiten wurden in einem Amt zusammengefasst),
- Einzelfallbearbeitung im ASD (mit einer Haltung arbeiten),
- Kinderschutz (Eingangs- und Fallmanagement),
- Zusammenarbeit mit Angebotsträgern der Hilfen zur Erziehung,
- Strukturelle Zusammenarbeit mit anderen Stellen.
- an der Erweiterung des fachlichen Selbstverständnisses,
- am Ausbau ambulanter Hilfen zur Erziehung, dies hat die Sozialraumorientierung freier Träger gefördert (betriebswirtschaftlich denken, arbeiten und das Personal so einsetzen),
- an der verstärkten Verzahnung der Regelsysteme Kita und Schule,
- am Ausbau der Vielfalt stationärer Settings,
- an der Entwicklung eines Angebotssegments für Krisenintervention,
- am Umgang mit Kinder und Jugendlichen mit psychiatrischen Krankheitsbildern/ bzw. psychisch kranken Eltern,
- an Partizipation von Kindern und Jugendlichen,
- an der Entwicklung vom Pflegesatz zum prospektiven Entgelt.
- Es gibt viel zu gestalten und man muss wissen, was man tut (Multioptionalität).
- Das Jugendamt steht immer im Zentrum widersprüchlicher öffentlicher Erwartungen, man kann es keinem wirklich recht machen (Legitimationsproblem).
- Wer steuert hier wen? (Leitung und Basis in der Qualitätsentwicklung).
- Jugendämter müssen politischer werden, d.h. vor allem der Jugendhilfeausschuss sollte aufgewertet werden.
- Jugendämter müssen sich als pädagogische Fachbehörde profilieren und auf sozialpädagogische Professionalität und die Mitarbeiter/innen setzen.
- Jugendämter müssen sich stärker um das Thema Qualität und Wirksamkeit der eigenen Leistungen kümmern („Verbraucherschutz“).
- Jugendämter brauchen mehr Lobbyarbeit auf Bundesebene.
- Frühe Hilfen/Frühe Förderung,
- Kitas und Familienzentren,
- Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule/Schulsozialarbeit/Ganztagsschule,
- Übergang Schule/Beruf sowie bei der Betreuung Junger Erwachsener.
Kerstin Landua
Leiterin der Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe
in der Deutsches Institut für Urbanistik gGmbH
landua@difu.de