Vernachlässigung im Kindesalter beeinträchtigt psychische Gesundheit
Stark vernachlässigte Kinder, die in jungen Jahren viele Entbehrungen ertragen müssen, leiden auch im frühen Erwachsenenalter noch unter den psychologischen Konsequenzen. Das ist das Ergebnis einer Langzeitstudie, die eine Gruppe von 165 adoptierten Kindern begleitet, welche in den 1990er-Jahren aus rumänischen Heimen in britische Familien kamen. Wie lange die Kinder im Heim gelebt hatten, war ein entscheidender Faktor für ihre künftige psychische Gesundheit. Die Autoren verweisen darauf, dass die Ergebnisse für eine große Zahl von Kindern relevant sein könnten, die heute überall auf der Welt vernachlässigt heranwachsen – wegen Krieg, Terrorismus oder Fluchterfahrung. Ansetzen wollen die Wissenschaftler in Zukunft an der Erkenntnis, dass immerhin ein von fünf vernachlässigten Kindern keinerlei Auffälligkeiten zeigte.
Ein Team um Prof. Dr. Edmund Sonuga-Barke vom King's College in London berichtet in der Zeitschrift „The Lancet" über die groß angelegte Studie, die psychische Gesundheit und kognitive Fähigkeiten der Heranwachsenden beobachtete. Beteiligt waren auch die University of Southampton, die Ruhr-Universität Bochum und das Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt. Die „English and Romanian Adoptees Study" begann 1990, kurz nach dem Sturz des kommunistischen Regimes in Rumänien. Sie beinhaltet Daten von 165 Kindern, die britische Familien aus rumänischen Heimen adoptierten, nachdem die Kinder dort bis zu 43 Monate verbracht hatten. In Großbritannien lebten sie anschließend in stabilen, sozioökonomisch gut aufgestellten Familien, die sich liebevoll kümmerten und die Kinder unterstützten. Diese Gruppe verglichen die Forscher mit 52 Kindern, die innerhalb von Großbritannien adoptiert worden waren. Die Wissenschaftler analysierten soziale, emotionale und kognitive Auffälligkeiten im Alter von 6, 11, und 15 Jahren. Im Alter von 22 bis 25 Jahren nahmen die Studienleiter noch einmal Kontakt zu den Teilnehmern auf; rund Dreiviertel von ihnen erklärten sich zu weiteren Tests bereit.
Rumänische Adoptivkinder, die weniger als sechs Monate im Heim verbracht hatten, waren psychisch ähnlich gesund wie die britische Vergleichsgruppe. Anders war es mit rumänischen Adoptivkindern, die mehr als sechs Monate in einer Einrichtung gelebt hatten. Soziale, emotionale und kognitive Probleme begleiteten sie ihr Leben lang. Zum Beispiel zeigten sie autistische Züge, der soziale Umgang mit anderen fiel ihnen schwer, sie waren unaufmerksam oder überaktiv. Außerdem erreichten sie ein schlechteres Bildungsniveau und waren häufiger arbeitslos. Diejenigen, die mehr als sechs Monate im Heim gelebt hatten, hatten als Kinder durchschnittlich einen IQ von weniger als 80, der sich jedoch im frühen Erwachsenenalter normalisierte. Das interpretierten die Forscher als verzögerte Entwicklung.
Trotz der oben beschriebenen Befunde ergab sich auch: Eines von fünf längerfristig im Heim untergebrachten Kindern hatte keinerlei psychische Probleme. An dieser Stelle wollen die Forscher in Zukunft anknüpfen. „Wir wissen immer noch sehr wenig darüber, warum einige der Kinder trotz extremer Vernachlässigung keine Spätfolgen zeigen", sagt Prof. Dr. Robert Kumsta von der Bochumer Arbeitsgruppe Genetische Psychologie. „Wir planen derzeit Untersuchungen, um genetische und epigenetische Faktoren zu identifizieren, die möglicherweise schützend wirken."
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Quelle: Presseinformation der Ruhr Universität Bochum vom 23. Februar 2017