Von Krokodilen lernen?
„Senkrecht hinunter schleudert der Jäger seine Harpune in den breiten Schädel. Die Metallspitze ist von der Stange losgerissen, steckt fest, das Tier wehrt sich wütend, wirft die Stange mit dem Schwimmer ab. Das verwundete Krokodil springt hoch, ich sehe im Licht der Lampe seinen weißen Bauch, das schaurige Gebiss...“, so schildert der Schweizer Reiseschriftsteller, Fotograf und Filmemacher René Gardi (1909 – 2000) in seinem Buch „Tschad“ seine Erlebnisse bei einer Krokodiljagd [1]. Es gibt unzählige Erzählungen, Dokumentationen, Filmberichte, in denen Krokodile als Monster oder heimtückische, gefährliche und unkalkulierbare Raubtiere dargestellt werden. In Krokodilfarmen, -ranches, Abenteuer- und Tierschauen kämpfen scheinbar todesmutige Menschen mit riesigen Krokodilen, stecken ihre Hände und Köpfe in die grauslich geöffneten Rachen der Tiere, reiten auf ihren geschuppten Rücken und belohnen die dressierten Kreaturen mit Fischen oder Fleischstücken.
Krokodile
Die Panzerechsen, wie Krokodile wegen ihres Knochenpanzers unter der Haut auch bezeichnet werden, sind mit den ausgestorbenen Archosaurieren verwandt. Es sind eierlegende Säugetiere, die in Flüssen und Seen der Tropen und Subtropen leben. An das Leben im Wasser und in den Ufer- und Sumpfgebieten ist ihr Körperbau perfekt angepasst. Je nach Art entwickeln sie sich von etwa ein bis zu mehr als sechs Meter Größe. Der charakteristische, langgezogene Kopf des Krokodils mit der breiten, flachen Schnauze, den nach vorne liegenden Nasenöffnungen ermöglichen dem Tier ein Atmen über und unter Wasser. Die Reiß- und Fangzähne sind reusenartig im Kiefer angeordnet und auch bei geschlossenem Maul sichtbar. Die auf dem Rücken schichtartig gegliederten Hornplatten und die Bauchschilde stellen Schutz- und Deckfunktionen dar; der stark verknöcherte, mit 35 bis 37 Wirbeln ausgestattete und geschuppte Schwanz dient als Steuer und Waffe. Die Wirbelsäule besteht aus neun Hals- und 17 Rumpfwirbeln. Die feingliedrig als fünffingrige Hand ausgebildeten Vorderbeine zeigen, dass sich das Krokodil entwicklungsgeschichtlich ursprünglich zweibeinig fortbewegte. Das große Lungensystem ermöglicht es dem Krokodil, sich lange unter Wasser aufzuhalten; das Herz besteht aus zwei Haupt- und zwei Vorkammern, die den Blutkreislauf steuern [2].
Das „Nutztier“ Krokodil
Krokodile wurden über Jahrhunderte hinweg von Menschen erbeutet; als Nahrungsmittel wegen ihres Fleisches, wegen ihrer widerständigen Haut als Material für die Herstellung von Schuhwerk, Kleidung und Gebrauchsgegenständen; den inneren Organen, Rückenschilden, Zähnen, Schwanzflossen als Medizin; als Zaubermittel. Durch das Washingtoner Artenschutzabkommen, der Convention on International Trade in Endangered Species of Wild Fauna and Flora, Übereinkommen über den internationalen Handel mit gefährdeten Arten freilebender Tiere und Pflanzen, CITES, sollen Tier- und Pflanzenarten vor dem Aussterben bewahrt werden. Bei Krokodilen sind es z. B. der Handel mit den Tieren und der Verkauf von Häuten und anderen Materialien. Die Zucht von Krokodilen in Farmen und Ranches und deren Vermarktung ist nach den Bestimmungen von CITES nur dann möglich, wenn die Überlebensfähigkeit der Tierarten nicht gefährdet ist. In einigen Ländern stehen die Krokodile unter strengem Schutz; in anderen freilich werden sie als Touristenattraktionen zum Abschuss freigegeben [3].
Mythos Krokodil
Im Alten Ägypten verkörperte der krokodilköpfige Gott Sobek das ewige Fortbestehen der Menschen. Als heilige Tiere wurden sie verehrt und waren auch nach ihrem Tod als Mumien präsent. In Schwarzafrika wurden (und werden teilweise heute noch, wie etwa in Burkina Faso) Krokodile in Teichen gehalten und mit Nahrung versorgt. In China stellt der doppelschwänzige Drache Long das Sinnbild des Krokodils dar und wird in der Literatur, in der Kunst, im Theater und bei Volksfesten vorgeführt. Die Aborigines in Australien stellen auch heute noch das Krokodil in ihren kunstvollen Rindenmalereien dar. Einige Indianerstämme in Nordamerika zeigen in ihren Mythologien die Urheberschaft des Krokodils für das Leben auf der Erde auf. In den griechisch-römischen Kulturen war das Krokodil überwiegend das brutale, listige und gefährliche Tier, das getötet werden musste. In den neueren westlichen Kulturen wurde das Bild des Krokodils zu einem Symbol für Brutalität und Tücke. Szenen von kämpfenden Menschen mit Krokodilen werden in Filmen dargestellt, und im Kasperltheater ist das Krokodil immer eine Figur, die listig und betrügerisch nach eigenen Vorteilen strebt. Der französische, international tätige Modekonzern Lacoste wirbt mit dem Krokodil als Firmenlogo.
Mit dem Krokodil philosophieren?
Geschlossene Augen, schläfrig wirkend, zwar die Zähne zeigend, aber eher nicht als gefährlich erscheinende Krokodil, das im Schilf des Lake Baringo im ostafrikanischen Kenia döst, dürfte hellwach und mit allen seinen Sinnen seine Umgebung wahrnehmen. Außer vom Menschen braucht es keine Gefahren befürchten; und es kann sich sicher (und vielleicht auch gesättigt) fühlen.... So kann man das eher friedliche Bild betrachten, auch wenn sich der Fotograf [4] sicherlich nur vorsichtig und mit gebührender Distanz dem Tier nähert. Das Foto soll uns anregen, sich mit dem Krokodil nicht als Schreckfigur und in Hab-Acht-Stellung auseinander zu setzen, sondern als zôon, als Lebewesen, das nach Aristoteles, nicht nur Instinkt, sondern auch – wie der anthrôpos, der Mensch – auch Seele hat; freilich ohne das Merkmal, das den Menschen von den Tieren unterscheidet, die Vernunft [5]. „Wer mit dem Zustand der Welt und mit sich selbst nicht zufrieden ist, muss philosophieren“ [6]; wer zufrieden ist, erst recht! Bilder können Wirklichkeiten spiegeln, Chancen und Gefahren reflektieren lassen und Möglichkeiten und Utopien aufzeigen; weil eben der Mensch mit Verstand, Vernunft und Sprache ausgestattet ist und (eigentlich) nach einem guten Leben in Gemeinschaft und Solidarität strebt. Haben oder Sein (Erich Fromm) als Alternative oder als Kompensation [7]. Es ist die Notwendigkeit, sich, als anthrôpos, anzuschauen, in sich hinein zu schauen, und sich mit sich und seiner Umwelt als zôon politikon, als gesellschaftlich denkendes und handelndes Lebewesen auseinander zu setzen [8]. Schauen wir auf das Krokodil: Natürlich ist das Kroko kein Teddybär und kein Streicheltier. Wir sehen auf dem Bild nur seinen Kopf mit der langen, charakteristischen Schnauze, den vorne liegenden Atmungsöffnungen, den (scheinbar) geschlossenen Augen und den gefährlich wirkenden Reiß- und Fangzähnen. Das Tier ruht sich auf einem Schilfbett aus, vielleicht gesättigt von einer Beute; vielleicht aber bewacht es (das Muttertier?) ein Nest, in dem sich Eier befinden, aus denen irgendwann ihre Jungen schlüpfen könnten. Es lässt sich vom Fotografen nicht stören. Ob ihr Instinkt signalisiert: „Keine Gefahr!“, oder ob es ihre Erfahrung ist, dass sie keine Feinde zu befürchten hat; vielleicht, weil Krokodile im und am Lake Baringo nicht gejagt werden dürfen? Und der menschliche Beobachter? Ist ihm bewusst, dass „Tiere auch nur Menschen sind“, wie ein Slogan der Tierschützer ausdrückt. Oder ist es das Bewusstsein, dass wir, im Zeitalter der Nachhaltigkeit [9], uns unseres „ökologischen Fußabdrucks“ bewusst werden müssen, um uns vom homo oeconomicus zum homo mundanus zu entwickeln, mit der Erkenntnis nämlich, dass der Mensch „nicht ein weltfremdes, sondern ein welthaftes Wesen“ ist [10]. Da kommen drei Aspekte ins (philosophische) Spiel, die unser Verhältnis zum Kroko auch bestimmen könnten: „Vertrauen ist ein Phänomen, das ... Komplexität reduzieren und Kooperation erleichtert oder überhaupt erst möglich macht“ [11]; nicht in dem Sinne, blindlings und voller Ahnungslosigkeit und Leichtfertigkeit sich dem Tier zu nähern, sondern das instinktgesteuerte Abwehr- und Fluchtverhalten des Krokodils zu kennen, zu berücksichtigen und zu respektieren. Denn das ist das zweite, was es beim Umgang mit Menschen, anderen Lebewesen und Sachen zu berücksichtigen gilt: Der Respekt, dem das Bewusstsein zugrunde liegt, dass Abhängigkeit und Autonomie, Macht und Ohnmacht, Achtung und Selbstachtung immer die beiden Seiten der gleichen, humanen Medaille sind [12]. Schließlich die dritte Erkenntnis, dass sich der Mensch durch denkendes Tun erschafft und wirkt [13]. Schauen wir wieder auf unser Kroko: Unsere antrainierten und erworbenen, besitzergreifenden Einstellungen und Erwartungshaltungen, dass der Mensch alles machen dürfe, was er könne [14] und dies auch zu rechtfertigen wisse [15], verführen uns allzu leicht dazu, den eher missinterpretierten Bibelspruch – „Macht euch die Erde untertan“ – buchstäblich zu nehmen und das Tier, das da vor uns im Schilf lebt, als Sache zu betrachten und uns Menschen als „Allmach(t)er“ zu produzieren [16]. Die Deutung der Welt als einen guten Lebensraum für alles, was auf der Erde existiert, hat ja nicht mehr und nicht weniger zur Folge, als das Leben zu lernen [17] und den Geheimnissen des Lebens auf die Spur zu kommen [18]. Dazu gehört auch, sich bewusst zu machen, dass es die evolutionäre Kraft des Lebens ist, die Mensch- und Tiersein zusammen hält, sie im Zeitlichen verbindet [19] und dem Wandel aussetzt [20]. Nur allzu leichtfertig benennen wir ein norm- und ethisch abweichendes, menschliches Verhalten als „Raubtier...“, etwa, wenn es darum geht, die ökonomischen, kapitalistischen und neoliberalen Immer-MehrEinstellungen zu geißeln [21], und dabei außer Acht zu lassen, dass es Dinge im Leben gibt, die man mit Geld und materiellem Tun nicht kaufen kann [22]. Wir sind angelangt beim Menschenbild, das unserem individuellem und gesellschaftlichen Verhalten und unseren Einstellungen zugrunde liegt [23], und der Frage: „Wem gehört die Welt?“. Ist es Besitzstreben, sind es Macht- und Ermächtigungseinstellungen, Gewaltverhalten [24], die uns in der Weltrisikogesellschaft [25] der Störanfälligkeiten, der Gefahren- und Bedrohungsrisiken des In-der-Welt-Lebens bewusst macht [26]? Vielleicht hätte unser Krokodil eine Antwort parat? Etwa die, dass es gilt, die Gemeingüter in der Welt zu entdecken und als Grundlage allen Lebens auf der Erde zu betrachten [27], und zu erkennen, was immerhin 2009 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wie wurde: „Was mehr wird, wenn wir teilen“ [28]; und für eine neue Gesellschaftspolitik einzutreten, lokal und global [29].
Die Bilder des Wirklichen
Auch mit geschlossenen Augen könnte uns unser Kroko die Augen öffnen, dass die scheinbaren, scheinbar selbstverständlichen und scheinbar nicht in Frage zu stellenden Wahrheiten nichts anderes als Widerspiegelungen von Dogmen und Lügen sind, etwa unser wenig hinterfragter Umgang mit anderen Lebewesen und Sachen. Da geben uns der Kybernetiker Heinz von Foerster (1911 – 2002) und der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen eine kategorische Antwort: „Handle stets so, dass die Anzahl der Möglichkeiten wächst“ [30], was ja, angewendet auf unser „Gespräch mit dem Krokodil“, nichts anderes bedeutet als:
- Nicht das Äußere ist es, was Einstellungen prägen darf!
- Misstraue Benennungen und Erzählungen, wenn sie sich nicht an der Humanität des Weltseins orientieren!
- Zeige Zähne dort, wo Menschlichkeit abhanden kommt!
- Hab Acht, wo Sozialität und Gerechtigkeit in Gefahr ist!
- Übe Nachsicht und Geduld, wo Eigeninitiative und gesellschaftliche Strukturen fehlen!
- Vertraue darauf, dass Solidarität wirkt!
- Halte Abstand und entmutige dein Gegenüber nicht durch Besserwisserei!
- Dränge deine Vorstellungen und Positionen nicht anderen auf!
- Erkenne kulturelle, religiöse und ethische Bräuche als Motoren des Seins an!
- Du brauchst kein Krokodil zu werden, um Mensch zu sein!
Autor
Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Fussnoten
[1] René Gardi, Tschad. Erlebnisse in der unbekannten Wildnis um den Tschadsee, Orell Füssli Verlag, Zürich 1952, S. 130
[2] de.wikipedia.org/wiki/Krokodil
[3] Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 14, 1975, S. 390
[4] Aufgenommen von Karl-Heinz Recklebe, Bad Pyrmont, am 20.12.2012
[5] weshalb der Mensch an der obersten Stufe der scala naturae stehe; Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 47 und 616ff
[6] Eberhard Straub, Zur Tyrannei der Werte, 2010, Rezension
[7] Harald Weinrich, Über das Haben. 33 Ansichten, 2012, Rezension
[8] Lawrence LeShan, Das Rätsel der Erkenntnis. Wie Realität entsteht, 2012, Rezension
[9] Ulrich Groeber, Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs, 2010, Rezension
[10] Wolfgang Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, 2012, Rezension
[11] Martin Hartmann, Die Praxis des Vertrauens, 2011, Rezension
[12] Richard Sennet, Respekt im Zeitalter der Ungleichheit, 2004, Rezension
[13] Richard Sennet, Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, 2012, Rezension
[14] Jost Hermand, Die Utopie des Fortschritts. 12 Versuche, 2007, Rezension
[15] Luc Boltanski / Laurent Thévenot, Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft, 2007, Rezension
[16] Thomas Metzinger, Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst, 2009, https://www.socialnet.de/9004.php
[17] Luc Ferry, Leben lernen. Eine philosophische Gebrauchsanweisung, 2009, https://www.socialnet.de/9345.php
[18] John Izzo, Die fünf Geheimnisse, die Sie entdecken sollten, bevor Sie sterben, 2008, https://www.socialnet.de/8910.php
[19] Nora Nebel, Ideen von der Zeit. Zeitvorstellungen aus kulturphilosophischer Perspektive, 2011, Rezension
[20] Matthias Horx, Das Buch des Wandels. Wie Menschen Zukunft gestalten, 2009, Rezension
[21] Peter Jüngst, „Raubtierkapitalismus“. Globalisierung, psychosoziale Destabilisierung und territoriale Konflikte, 2004, Rezension
[22] Michael J. Sandel, Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes, 2012, Rezension
[23] Siegfried Schumann, Individuelles Verhalten. Möglichkeiten der Erforschung durch Einstellungen, Werte und Persönlichkeit, 2012, Rezension
[24] Byung-Chul Han, Topologie der Gewalt, 2011, Rezension
[25] Ulrich Beck, Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit, 2007, Rezension
[26] Herfried Münkler, Hrsg., Handeln unter Risiko. Gestaltungsansätze zwischen Wagnis und Vorsorge, 2010, Rezension
[27] Heinrich-Böll-Stiftung / Silke Helfrich, Hrsg., Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter, 2009, Rezension
[28] Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, Rezension
[29] Silke Helfrich / Heinrich-Böll-Stiftung, Hrsg., Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, 2012, Rezension
[30] Heinz von Foerster / Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 2006, Rezension