Vorbilder oder Abziehbilder

von Dr. Jos Schnurer
27.06.2020

Im Bildungs-, Erziehungs- und Lebensprozess der Menschen hat vorbildhaftes Verhalten einen hohen Stellenwert. Etwas nachzuahmen, was andere Menschen vorgedacht und vorgemacht haben, ist grundlegender Bestandteil des Lernens.

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Im Bildungs-, Erziehungs- und Lebensprozess der Menschen hat vorbildhaftes Verhalten einen hohen Stellenwert. Etwas nachzuahmen, was andere Menschen vorgedacht und vorgemacht haben, ist grundlegender Bestandteil des Lernens. Es sind die psychodynamischen Prozesse, die im Spannungsfeld von Individualität und Kollektivität vorherrschen und z. B. in der Curriculumrevision (S. B. Robinsohn) einen hohen Fragen- und Stellenwert einnehmen.

In den Kinder- und Jugendstudien kommt der Frage, ob und ggf. welche Vorbilder die Einstellungen und Verhaltensweisen der Heranwachsenden prägen und sie beeinflussen. Dabei kommt heraus, dass im Durchschnitt etwas mehr als die Hälfte der Jugendlichen sich an Vorbildern orientieren. Dabei kann nachgefragt werden: Warum so viel oder: Warum so wenige? Wenn wir einen Blick auf den schulischen Lehrplan- und Kanon-Diskurs richten, drängt sich zuallererst der Eindruck auf, der sich in der Curriculumkritik äußert: Lehrpläne und Lehrbücher entstehen, weil sie von Lehrplänen und Lehrbüchern abgeschrieben werden, die von Lehrplänen und Lehrbüchern abgeschrieben werden, die …  Diese Praxis zeugt von grundsätzlich zwei unterschiedlichen Einstellungen: Da ist zum einen die konservative Haltung, dass das (Alt-)bewährte gut ist und als Wertmaßstab weiterhin gelten soll: „Keine Experimente!“ – „Das haben wir schon immer so gemacht!“; und zum anderen die Erkenntnis, dass „alles fließt“ und sich verändern muss und Neues entsteht.

Im Lernprozess werden dabei die grundlegenden Theorien und Praxen des „Modelllernens“ und des „Entdeckenden Lernens“ thematisiert. In der Bildungs- und Erziehungspraxis bilden diese didaktischen und methodischen Grundsätze keinen Gegensatz, sondern sind Ergänzung und Vademecum. So kann ein Vorbild helfen, sich ein eigenes Bild von sich und seinen Kompetenzen zu machen; es kann aber auch verführen und diktieren, das eigene Denken und Handeln an andere zu delegieren[i]. Es sind die uralten, immer wieder neuen aktuellen  Aufforderungen zu fragen: „Wer bin ich?“ – „Was kann ich wissen?“ – „Was soll ich tun?“ – Was darf ich hoffen?“ (Immanuel Kant), und diese intellektuell im Alltag und im gesellschaftlichen Zusammenleben existentiell selbst zu beantworten: „Sapere aude – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“.

So ist ein Vorbild eben kein Abziehbild, das in allen Einzelheiten Form, Gestalt und Ausführung vorgibt und eigene, kreative Ideen und Veränderungen ausschließt. Im individuellen wie im institutionalisierten Lernen werden Fragen nach der Entstehung und Wirkung von Meinungsbildung viel zu wenig thematisiert[ii]. Dadurch entstehen Fake News, Manipulationen und Indoktrinationen, und die politischen und gesellschaftlichen Abziehbilder gewinnen an Macht und Einfluss. In dieser Situation, in der die Kakophonien und Abziehbilder der Ego-, Ethnozentristen, Rassisten, Faschisten und Populisten weltweit zunehmen, kommt es darauf an, dass sich der zôon politikon, der politisch denkende und handelnde Mensch, sich auf seine Kompetenz zum Selbstdenken, des Willens zur Führung eines guten, gelingenden Lebens für sich und die Menschheit, der Fähigkeit zur Bildung von Allgemeinurteilen und zur Unterscheidung von Gut und Böse besinnt[iii].   

Utopie und Wirklichkeit

Die Fragen nach den aktuellen Bedeutungen und Wirkungen von utopischen Vorstellungen müssen konsequenterweise sowohl realistische als auch unrealistische Denkweisen berücksichtigen, wobei im gesellschaftspolitischen Diskurs sicherlich ein Schwerpunkt darauf gelegt werden kann, welche Alternativen sich anbieten. Sind es Paradigmen der politischen, negativen Alternativlosigkeit, oder hoffnungsvolle, positive Denkmodelle? Je nach dem Definitionsansatz über utopisches Denken wird deshalb von intentionalen, anthropologisch begründeten, von totalitären, konfrontativen und von klassischen, innerweltlichen Begriffsauslegungen gesprochen.

Die Kölner Politikwissenschaftlerin Ina-Maria Maahs verweist darauf, dass das Menschen- und Weltbild des heutigen Menschen im Anthropozän „als grundsätzlich selbstgestalterisch… verstanden, gleichzeitig aber auch …, dass er sich in seiner freien Entfaltung stets mit strukturellen Hemmnissen und Ungerechtigkeiten konfrontiert sieht, seine prinzipielle Gestaltungsmöglichkeit… durch äußere Kräfte und Umstände beeinträchtigt wird“. Utopien definiert sie als „Produkte menschlicher Kreativität mit der Intention, durch die eigene Vorstellungskraft den Weg zu einem besseren Leben für alle innerhalb einer bestimmten Sozietät zu suchen“. Es sind somit in einer Gesellschaft bisher nicht oder nicht ausreichend realisierte Möglichkeiten für ein anderes, besseres, menschenwürdigeres, individuelles, lokales und globales Dasein. Damit wird deutlich, dass hier nicht in erster Linie individuelle oder gar egoistische Glückserwartungen, sondern kollektive, menschenrechtliche Grundlagen und Voraussetzungen gemeint sind.

Zur Verwirklichung dieser Ansprüche ist Kreativität gefordert, wie sie im alltäglichen und gesellschaftlichen Leben notwendig ist, eingeübt und erfahren werden muss[iv]. Es sind Phantasmen, die sowohl als positive Vorstellungs-, wie auch als Zerrbilder wirken können; es sind die Einstellungen, wie sie sich als positives, negatives, fatalistisches, skeptisches, kritisches … Denken und Handeln darstellt; und es sind idealistische oder realistische Vorstellungen, die eine Suche nach Idealbildern erleichtern oder erschweren. Die Autorin stellt einige aktuelle, zeitkritische Entwürfe aus dem literarischen und medialen Schaffen der Menschen vor, analysiert ihre utopischen Zielsetzungen und vergleicht sie mit alternativen Forderungen und Modellen in den Bereichen der lokal- und globalgesellschaftlichen Kontroversen. So kommen Utopien zutage, bei denen es um verantwortungsvollen oder verantwortungslosen Umgang mit der Umwelt geht; um Verwendung oder Verschwendung von Ressourcen; um Hierarchien oder Gleichheiten; um aktive oder passive gesellschaftliche Beteiligung; um Be- oder Entwertung von materiellen und immateriellen Werten; um Toleranz oder Intoleranz; um Bildung oder Einbildung. Es sind die alltäglichen Herausforderungen, nicht dem Diktat und dem Common Sense zu folgen, sondern den Dialog als die urmenschliche Form eines humanen Miteinanders zu pflegen[v].

Realität und Reaktion

Im anthropologischen, biologischen und philosophischen Diskurs wird die menschliche Existenz in ihrem Entstehen und Vergehen als endlich und unvollständig betrachtet. Der anthrôpos ist ein „Mängelwesen“ (Plessner). Es sind die Unbestimmtheiten, die im menschlichen Werden sowohl Chancen zur Selbstwerdung, als auch Schwierigkeiten der Fremdbestimmung bewirken können. Es ist die Unterscheidung, dass der anthropologische Anspruch der Ganzheitlichkeit und Vollständigkeit, der korreliert mit der Differenz und der Fehlerhaftigkeit des Menschen. Das Dilemma freilich lässt sich nur auflösen, wenn es gelingt, die gegebene Vielfalt des Menschseins nicht als Manko, sondern als Chance zu verstehen, wie dies die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 zum Ausdruck bringt[vi].

Die Frage – „Inwiefern kann Verletzbarkeit als ein Moment der conditio humana verstanden werden?“ – hat ohne Zweifel im theoretischen und praktischen pädagogischen Diskurs eine grundlegende Bedeutung; und zwar in physischer und psychischer, individueller, lokaler und globaler Hinsicht. Die Tübinger Anthropologin Angela Janssen geht den Fragen nach Verletzbarkeit und Abhängigkeit nach, indem sie Verletzbarkeit als eine Bedingung des Menschseins aufweist und als ambivalentes Phänomen darstellt, „das nicht allein negativ konnotiert als Verwundbarkeit verstanden werden darf, sondern das allgemeiner als Ausgesetztsein Anderen gegenüber zu verstehen ist“. Die Bedingungen des Menschseins als conditio humana sollen ja nicht als naturgegebene und gengesteuerte, automatische Verfasstheiten, sondern als verantwortungsgefordertes, aktives Tun verstanden werden. Als Grundlage dafür kann nur die „globale Ethik“ gelten, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 als „Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte (als) Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“[vii], zum  Ausdruck kommt. Das „verletzbare Subjekt“ ist eine anthopologische und ontologische Wirklichkeit. Es ist aber kein Schicksal, das unabwendbar hereinbricht und Ohnmacht erzeugt; vielmehr kommt es darauf an, in pädagogischen, bildungs- und erziehungswissenschaftlichen Prozessen Bewusstsein und Handlungskompetenzen zu vermitteln auf „unsere Verwiesenheit auf Andere, unser Ausgesetzt-Sein Anderen gegenüber und damit unsere Verletzbarkeit nicht aus den Blick zu verlieren“[viii].

Freiheit und Sicherheit

In seiner Begrenztheit bringt der Homo Faber Güter hervor, die ihn zum Konstrukteur von Welt machen und die Überzeugung hervorrufen: „Ich kann alles, und das sofort!“. Es sind die Ansprüche, die Egoismen schaffen, Überheblichkeiten bewirken und Macht erzeugen[ix], aber auch Lebenslehren wachsen lassen, dass eine humane, gerechte, demokratische menschliche Existenz nur im Gleichgewicht von Freiheit und Sicherheit möglich ist. Die „offene Gesellschaft“ ist für all jene, die in eingeschlossenen, hierarchischen, ideologischen und traditionalistischen Gesellschaften leben wollen, Graus und Chaos. Die intellektuelle, theoretische und praktische Suche danach gehört zu den faszinierende, intellektuellen Herausforderungen in allen Zeiten der Conditio Humana. Der sächsische Ökonom und Psychiater Stefan Brunnhuber nimmt die vom Philosophen Karl Popper (1902 – 1992), vom Soziologen Ralf Dahrendorf (1929 – 2009) und anderen Denkern entwickelten, sozialen und ethischen Grundsätze für ein menschenwürdiges Zusammenleben der Menschen auf, indem er für eine offene Gesellschaft plädiert und auf der einen Seite feststellt: „Nichts ist sicher, gar nichts, auch der Weg hin zu einer Offenen Gesellschaft nicht“, und andererseits mit der Frage: „Was ist eine offene Gesellschaft?“ darauf verweist: „Es geht in der Offenen Gesellschaft, welche immer unfertig und unvollkommen ist, … um das richtige Verhältnis von Kritik, Freiheit und Ordnung“[x].

Wie findet man Vorbilder?

Fragt man 10 erwachsene Personen nach ihren Vorbildern, so erhält man 10 verschiedene Antworten, aus denen sich kaum eine systematische Antwort entwickeln lässt. Es sind meist  individuelle, prägende, auf Erinnerungen bezogene, manchmal sogar idealisierte Situationen, die zur persönlichen Entwicklung beigetragen haben. Dabei ist nicht einmal sicher, ob es die Begegnung, der Einfluss, die Haltung oder die Informationen waren, die vorbildlich wirkten und möglicherweise einen individuellen Perspektivenwechsel hervorgerufen haben. Nehmen wir als Beispiel die Lehrerin und den Lehrer: Die Erzählungen, Berichte, Schilderungen, Biografien, Analysen und Witze über LehrerInnen füllen Bibliotheken und Schulmuseen. Seitenweise werden im Internet Literaturhinweise und Zitate über Lehrerinnen und Lehrer veröffentlicht – weil jeder Mensch, wenn es die Lebensumstände zulassen, Lehrpersonen erlebt hat.

Lehrer sind, so kann man es deuten, die Prellböcke der Nation, oder die Schallmauern, die ein Echo wiedergeben. Sie sind aber auch die Packesel, denen all das aufgebürdet wird, was in der Gesellschaft im Argen liegt. Lehrerinnen und Lehrer aber sind, wenn sie gut ausgebildet, professionell und verantwortungsbewusst tätig sind, Funktionsträger der Gesellschaft. Eltern, Erziehungsberechtigte, ErzieherInnen, LehrerInnen für die Grundschule, die weiterführende Schule, Berufsschule und Erwachsenenbildung sind gesellschaftlich beauftragt, zu bilden und zu erziehen. In der UNESCO-Empfehlung zur internationalen Erziehung (1974) wird diese Herausforderung so definiert: „Der Begriff ‚Erziehung‘ umfasst den Gesamtprozess des sozialen Lebens, innerhalb dessen Einzelpersonen und gesellschaftliche Gruppen es lernen, in ihrer Gesellschaft und im Rahmen der gesamten Weltgemeinschaft ihre persönlichen Fähigkeiten und Einstellungen, ihr Können und ihr Wissen bewusst und bestmöglich zu entfalten“[xi]. Die Aus- und Fortbildung von Lehrkräften wird in Deutschland nach der demokratischen, föderativen Verfassung geregelt. Zuständig sind die Bildungs- und Kultusministerien der Bundesländer. In der wissenschaftlichen Professionsforschung wird der „Lehrerhabitus“ thematisiert: Was ist ein Lehrer? Wie wird er/sie zum Lehrer oder zur Lehrerin? Welche Tätigkeiten übt er/sie aus? Welche Aufgaben und Verantwortlichkeiten werden ihm/ihr übertragen?  Rolf-Torsten Krämer, Professor für Schulpädagogik und Schulforschung und die Schulpädagogin Hilke Pallesen, beide an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg tätig, legen mit dem Sammelband „Lehrerhabitus“ eine interdisziplinäre Betrachtung der individuell und kollektiv vielfältigen, unterschiedlichen, subsumierten, professionell pädagogischen Tätigkeiten und Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern vor. Für ihre praxeologische Zielsetzung greifen sie auf Bourdieus Habituskonzept zurück. Daraus entsteht eine  theoretische und praktische „Praxeologie des Lehrerberufs“. Es entsteht ein LehrerInnen-Bild, das nicht mehr bestimmt ist vom pädagogischen Zeigefinger und vom Nürnberger Trichter, sondern von einer helfenden, vorbildhaften, partnerschaftlichen Bildung[xii].

Fazit 

Bei der Frage nach Vor- oder Abziehbildern im individuellen und lokal- und globalgesellschaftlichen Entwicklungs- und Veränderungsprozessen sind wir exemplarisch beim Vorbild Lehrer/Lehrerin gelandet. Dabei wird das Vorbild im Rahmen von Bildungs- und Erziehungsfunktionen als Motor des Wandels verstanden[xiii]. Diese Zuordnung lässt sich auf alle Vorbildformen übertragen: Es ist die Verantwortung, die Vorbild schafft!



[i] Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12903.php

[ii] Tali Sharot, Die Meinung der Anderen. Wie sie unser Denken und Handeln bestimmt – und wie wir sie beeinflussen, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22651.php

[iii] Otfried Höffe, Hrsg., Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, 640 S.

[iv] siehe dazu auch: Timon Beyes/Jörg Metelmann, Hrsg., Der Kreativitätskomplex. Ein Vademecum der Gegenwartsgesellschaft, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25118.php

[v] Ina-Maria Maahs, Utopie und Politik. Potenziale kreativer Politikgestaltung, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26573.php

[vi] Deutsche UNESCO-Kommission, Unsere kreative Vielfalt, 2., erweit. Ausg., Bonn 1997, 76 S.

[vii] Deutsche UNESCO-Kommission, Menschenrechte. Internationale Dokumente, Bonn 1981, S. 48

[viii] Angela Janssen, Verletzbare Subjekte. Grundlagentheoretische Überlegungen zur conditio humana, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25043.php

[ix] Joseph Nye, Macht im 21. Jahrhundert. Politische Strategien für ein neues Zeitalter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13126.php

[x] Stefan Brunnhuber, Die offene Gesellschaft. Ein Plädoyer für Freiheit und Ordnung im 21. Jahrhundert, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25426.php  

[xi] Deutsche UNESCO-Kommission, Empfehlung zur „Internationalen Erziehung“, Bonn 1990, S. 16

[xii] Rolf-Torsten Kramer / Hilke Pallesen, Hrsg., Lehrerhabitus. Theoretische und empirische Beiträge zu einer Praxeologie des Lehrerberufs, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26159.php 

[xiii] Michael Stralla, Lehrpersonen als Change Agents. Eine rekonstruktive Studie zu Orientierungen von Lehrerinnen und Lehrern in extern induzierten schulischen Innovationsprozessen, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25810.php