Warum brauchen wir „selbstbestimmte Therapie“?
Ich habe im Alter von 0 bis 6 Jahren eine Therapie erhalten, die sich Vojta nennt. Sie besteht daraus, dass der/ die Patient:in in bestimmte Positionen gelegt wird und dort über längere Zeit gehalten. Es werden Punkte am Körper gedrückt, die bestimmte Muskeln anregen, sodass automatisierte Prozesse ausgelöst werden. Das Ganze ist enorm anstrengend, häufig unangenehm, insbesondere je länger es dauert und entzieht sich vollständig der Kontrolle des zu Behandelnden. Nun versteht man als Kind nun mal leider nicht, was da mit einem gemacht wird und dass es einem eigentlich helfen soll. Alles, was man versteht und mit der Zeit verinnerlicht, ist, dass diese/r Therapeut:in scheinbar das Recht besitzt, sich über die eigenen Bedürfnisse und körperliche Integrität hinweg zu setzen. Man erlebt immer wieder eine erzwungene, physisch sehr unangenehme Situation, ohne dass man zuvor um Einverständnis gefragt wurde oder auch nur eine Erklärung stattgefunden hat. Das soziale Umfeld gibt einem die Rückmeldung, dies sei richtig und normal.
Es kommt zu einem dauerhaften Lernprozess. Wenn man sich immer wieder über die Bedürfnisse eines Kindes hinwegsetzt, beginnt es infrage zu stellen, ob diese berechtigt sind. Je jünger das Kind ist und je weniger Erinnerung es an gegenteilige Erfahrungen hat, desto mehr manifestiert sich der Gedanke, dass es kein Recht auf seine Bedürfnisse habe. Kinder brauchen eine Rückmeldung, dass ihre Gefühle und instinktiven Reaktionen adäquat und berechtigt sind. Dieser Prozess wird im psychotherapeutischen Zusammenhang „Validierung" genannt. Geschieht dies nicht, trainieren sich Kinder falsche Verhaltensmuster an. Außerdem verlieren sie mitunter ihren Bezug zu bestimmten Gefühlen und Bedürfnissen, sodass sie ihnen nicht mehr als Informationsquelle zur Verfügung stehen. Hinzu kommt die Lernerfahrung, dass es nichts gebracht hat, seine Gefühle und Bedürfnisse zu artikulieren. Hat man diese Erfahrung oft genug gemacht, kommt es zur sogenannten erlernten Hilflosigkeit: Man verharrt in der unangenehmen Situation selbst dann, wenn man theoretisch die Möglichkeit hat, sich zu befreien. Somit braucht man nicht mal mehr die implizite Überzeugung zu haben, die Grenzüberschreitung sei berechtigt, um sie zu dulden.
Ableismus und Therapie
Das beschriebene Beispiel macht deutlich, wie schmal der Grad zwischen therapeutischer Behandlung und Gewalt sein kann und das, ganz ohne dass es zu einem objektiv missbräuchlichen Verhalten gekommen ist und wie weitreichend die psychischen Konsequenzen einer vermeintlich harmlosen Situationen sein können.
Menschen mit Behinderung befinden sich in Deutschland häufig in einem Teufelskreis aus Entmündigung, fehlender Teilhabe, fehlender öffentlichen Repräsentation und politischer Unsichtbarkeit, die wieder zu Entmündigung und ein Über-den Kopf-hinweg-bestimmen in der Frage der Bedarfe von Menschen mit Behinderung führt.
Ein Bereich, in dem dieser Mechanismus besonders fatal ist, ist der Bereich der Therapieangebote.
Menschen mit den verschiedensten Behinderungen sind in vielen Lebensbereichen auf verschiedenste Therapien angewiesen. Dabei sind Therapien konventioneller Weise von einem sehr defizitorientierten Blickwinkel, verbunden mit einem starken Hierarchiegefälle geprägt. Damit repräsentieren sie ein Setting, das ableistische Einstellungen und Handlungsweisen prädestiniert. Da das Konzept Therapie aber im Leben von Menschen mit Behinderungen so zentral ist, so viel Macht hat und Schlüssel zu vielen Teilhabemöglichkeiten und Ermächtigungen ist, bedarf es für die Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft einer anti-ableistischen Einstellung der Therapeut:innen und einer „selbstbestimmten Therapie".
Was ist selbstbestimmte Therapie?
Wenn man davon ausgeht, dass das Ziel einer jeden Therapie eine möglichst umfassende Stärkung der Lebensqualität, sowie der Teilhabemöglichkeiten ist, so müssen für eine erfolgreiche Therapie alle wesentliche Aspekte im Leben und Alltag eines erwachsenen Menschen berücksichtigt werden. Was als wesentlich zu definieren ist, kann vor allem der/die zu Behandelnde selbst entscheiden.
Eine selbstbestimmte Therapie definiere ich als eine, an den alltäglichen Bedarfen und langfristigen Zielen des Klienten oder der Klientin orientierte Therapie. Was für Außenstehende vielleicht selbstverständlich klingen mag, ist in der Praxis oft nicht so: Auch und gerade in Therapiesettings werden Menschen mit Behinderung häufig entmündigt und mit einem sehr biologistischen und defizitorientierten Bild von Behinderung konfrontiert. Therapie besteht häufig daraus, dass außenstehende, nicht behinderte Personen entscheiden, wie man den Menschen mit Behinderung möglichst nah an die nichtbehinderte Norm heran therapieren kann. Dabei rückt zu häufig in den Hintergrund, ob diese Annäherung an die Norm einen praktischen Nutzen für den Menschen mit Behinderung hat und damit eine Verbesserung der Lebensqualität bedeutet.
Warum ist das wichtig?
Es fällt einem als Mensch mit Behinderung ungemein schwer, sich vom defizitorientierten Blickwinkel der Therapeut:innen zu distanzieren und eine selbstbestimmte Therapie einzufordern. Das liegt daran, dass alle Menschen in einem ableistischen System sozialisiert sind. Das bedeutet, dass sie den Gedanken der Minderwertigkeit und der verminderten Rechte von Menschen mit Behinderungen internalisiert haben. – Auch, und grade, wenn sie selbst eine Behinderung haben. Oft haben sie das Gefühl, bei unterstützenden Personen oder bei „der Gesellschaft" in der Schuld zu stehen und wollen deswegen in der Unterstützung keine „zusätzlichen Ansprüche" erheben. Außerdem kann die dauerhafte Konfrontation mit dem defizitorientierten Blick des Normvergleiches in der Therapie zu einer Überdeckung der eigenen, tatsächlichen Bedürfnisse führen. Dadurch kann kein Raum für eine selbstbestimmte Exploration der eigenen Bedarfe, Wünsche und Ziele entstehen. Therapie wird damit zum Motor der Aufrechterhaltung eines ableistischen Fremd- und Selbstbildes!
Was gehört zu selbstbestimmter Therapie?
Raum zum Grenzensetzen - physisch und psychisch
Der erste Schritt hinzu einer Therapie die selbstbestimmt und empowernd im Sinne der Menschen mit Behinderung ist, ist Räume für persönliche Grenzen zu schaffen. Persönliche Grenzen einzufordern, egal ob sie physischer oder psychischer Natur sind, fällt allen Menschen schwer. Für Menschen, die in ihrem Alltag ständig auf Hilfe angewiesen sind, häufig Schuldgefühle haben und gewohnt sind, dass andere Personen über sie bestimmen oder ihren Alltag zumindest maßgeblich mitbestimmen, ist es noch schwerer, Grenzen zu setzen. trotzdem und gerade deswegen ist es so wichtig, in der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen darauf zu achten, dem gegenüber zu signalisieren, das Grenzsetzung das gute Recht eines jeden Menschen ist.
Raum für eigene Prioritäten
Im nächsten Schritt bedeutet Selbstbestimmung in der Therapie, selber entscheiden zu können, woran man in der Therapie arbeiten möchte, welche Bereiche einem wichtig sind und wie diese vielleicht auch praktisch mit dem täglichen Leben verwoben sind. Ich habe mich zum Beispiel lange Zeit geärgert über den x-ten Physiotherapeuten, der mit mir Geh-Übungen machen wollte, wenngleich vollkommen klar war, dass ich nie an die von ihm angestrebte Norm einer gehenden Person heran käme und mir diese Übungen ab einem bestimmten Punkt des Trainings keinerlei Nutzen mehr für meinen Alltag bringen würden. Andere Bewegungsabläufe, wie auf den Knien sitzen zu können oder stabil frei sitzen zu können, mich ohne Rollstuhl auf dem Boden fortbewegen zu können, die mich persönlich interessiert hätten waren für viele Therapeutinnen zweitrangig. Sie waren zu oft verbissen fokussiert auf die oberflächliche und offensichtliche Annäherung an die Norm einer gehenden Person.
Ressourcenorientierung und intraindividueller Vergleich
Neben der Zielsetzung, welche durch den zu behandelnden Menschen festgelegt werden sollte, ist auch die Perspektive auf das eigene Selbst, die eigenen Fähigkeiten und die eigenen Prozesse und Veränderungen essenziell. Wenn man den Blick auf die Möglichkeiten und Entwicklungsperspektiven lenkt, wenn man Raum für ausprobieren, sich selbst kennenlernen und Grenzen austesten lässt, ohne den Druck der Norm-Annäherung wie ein Damoklesschwert über sich schweben zu haben, kann eine gute Therapie neue Türen öffnen und Manchmal sogar Raum für eine Aussöhnung mit einem Teil von sich selbst bieten.
Raum für Tabus
Therapie sollte also ein sicherer Ort des Ausprobierens und neuer Erfahrung sein. In der Therapie sind Menschen ständig mit ihrem physischen oder psychischen Grenzen konfrontiert. Darum ist es wichtig, Raum für sensible und persönliche Themen zu schaffen, weil gerade die tabuisiert sind und zum Ausschluss aus der Gesellschaft führen. Wer Teilhabe nachhaltig fördern möchte muss Tabus mitdenken. Dazu gehören zum Beispiel Sexualität, die Beziehung zum eigenen Körper, Körperausscheidungen, Behinderungsmerkmale die mit Stigmatisierung verbunden werden, Gewalterfahrungen und vieles mehr. Wir wollen mit unserem Logopäden über Speichelfluss beim Küssen reden können. Wir wollen mit unserer Ergotherapeutin darüber reden können, wofür wir die Feinmotorik im Bett brauchen. Und mit unserer Psychotherapeutin über diskriminierende Erfahrungen im Datingleben oder Grauzonen sexueller und körperlicher Gewalt in der Pflege oder im Alltag.