Charlotte Zach

Was die Welt von uns lernen kann

Im Alter von 18 bis 20 Jahren hatte ich eine Angststörung. Entzündet hatte sich meine Angst in dem Gedanken, ich könnte eine schlimme Krankheit haben, die mich noch abhängiger machen oder gar töten könnte. Die Angst wanderte dann aber auch hin zu den Gedanken, dass meine Eltern sterben könnten und wieder zurück. Auslöser meiner Angst war, dass ich mich in dem Alter mit meiner Behinderung und der damit verbundenen Abhängigkeit auseinandersetzen musste. Ich wollte gerne ausziehen oder dachte, dass ich und die Gesellschaft es von mir verlangen, dies zu tun und merkte bald, dass sich das ziemlich schwierig gestalten würde.

Abhängigkeit ist ein gruseliges Gefühl. Es ist Kontrollverlust. Es ist Verletzlichkeit. Es ist Vergänglichkeit. Es ist all das, was unsere Gesellschaft vorgibt, nicht zu sein. Wir leben in einer Gesellschaft, in der wir fast alles, was wir mit Ruhm und Status verbinden, dafür nutzen, zu demonstrieren, wie unverletzlich, unabhängig, unantastbar und unvergänglich wir doch sein. Und dann wundern wir uns am Ende, wenn wir uns einsam fühlen, abgeschnitten von der Welt.

Ich bin davon überzeugt, dass man sich als Mensch mit Behinderung der eigenen Verletzlichkeit und Vergänglichkeit auf einer Ebene stellen muss, auf der sich viele Menschen sonst erst im höheren Alter damit beschäftigen. Man schaut hinter diese Fassade aus Unantastbarkeit und muss anerkennen, was für ein großer Mumpitz sie ist. Wenn man das geschafft hat, hat man aber auch eine große Chance vor sich, denn man muss ja nicht mehr so tun, als sei man unantastbar. Man kann verletzlich sein und nahbar und Abhängigkeit zu akzeptieren bedeutet ja auch, Verbindung zuzulassen. Wenn man es so sehen möchte, ist Ableismus als Diskriminierungsform auch nur eine große Angst-Antwort einer individualistischen Gesellschaft von pseudo-Unsterblichen, die nicht mit dem eigenen Tod umgehen können.

Deswegen glaube ich auch, dass Ableismus im Gegensatz zu anderen Feindlichkeiten gegenüber marginalisierten Gruppen eine andere Dimension hat: Denn Behinderung hält den Menschen den Spiegel vor und sie können tatsächlich Angst haben, dass sie auch plötzlich zu dieser marginalisierten Gruppe gehören könnten. Man kann eines Tages aufwachen und behindert sein. Man wacht aber nicht eines Tages auf und ist BIPOC oder Muslim. Die meisten von uns werden auch nicht aufwachen und plötzlich geflüchtet sein und selbst das Erkennen einer anderen sexuellen Orientierung entsteht meistens doch schrittweise und man kann sich immerhin noch entscheiden, wann man das wie erzählt. Behinderungen hingegen spiegelt eine der tiefsten Ängste der Menschheit wider. Da fällt es einem nicht so leicht, sich politisch zu solidarisieren. Da macht es Sinn, die Menschen über Jahrhunderte zu verstecken, weil man sowieso nicht weiß, wie man mit ihnen umgehen soll, wenn man kaum genug Ressourcen für die Standardbevölkerung hat.

Ich glaube, Menschen ohne Behinderung können von uns Menschen mit Behinderung einige Dinge lernen . Aber eines der wichtigsten und zentralsten Erkenntnisse aus dem Leben mit Behinderung ist sicher der Umgang mit der eigenen Abhängigkeit und allem was dahinter steht. Und es kann so befreiend sein, zu entscheiden, aufzuhören einen Kampf zu kämpfen, der gegen die Grundlagen dieser Welt geht.