Weg zur gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben noch weit

Bundesvereinigung Lebenshilfe legt Bevölkerungsumfrage zur Inklusion und Wahrnehmung von Menschen mit geistiger Behinderung vor – Ulla Schmidt: Koalitionsvereinbarung zum Bundesteilhabegesetz muss eingehalten werden

Berlin. Für Menschen mit einer geistigen Behinderung ist der Weg zur gleichberechtigten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nach Einschätzung der deutschen Bevölkerung noch weit. Das zeigt eine bevölkerungs-repräsentative Allensbach-Umfrage im Auftrag der Bundesvereinigung Lebenshilfe mehr als fünf Jahre nach dem In-Kraft-Treten der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Der Studie zu Folge hat jeder fünfte Bürger (22 Prozent) Kontakt zu Menschen mit einer geistigen Behinderung, sei es in der eigenen Familie, dem Verwandten- oder Bekanntenkreis. Weiten Teilen der Bevölkerung ist die UN-BRK als Auslöser für die Inklusionsdebatte weitgehend unbekannt. Nur 22 Prozent der Bevölkerung haben von der UN-BRK gehört. Im Mai 2011 waren es 14 Prozent. Aus Sicht der Befragten sind Menschen mit geistiger Behinderung in erster Linie „hilfsbedürftig“ (88 Prozent). An zweiter Stelle folgt mit 57 Prozent der Begriff „lebensfroh“, knapp dahinter liegen „ausgegrenzt“ und „Mitleid“ mit jeweils 56 Prozent. Jeder zweite Bürger denkt an Berührungsängste. Nur wenige Befragte glauben, dass Menschen mit geistiger Behinderung „selbstständig“ oder „gut integriert“ (jeweils 18 Prozent) sind. Personen, die in ihrem Umfeld Menschen mit einer geistigen Behinderung kennen, nennen diese positiven Begriffe häufiger. Die Bevölkerung ist ganz überwiegend der Auffassung, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung nur eingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Bei der Freizeitgestaltung (Sport, kulturelle Aktivitäten) meinen immerhin 19 Prozent der Befragten, dass dies uneingeschränkt möglich ist. Die große Mehrheit (62 Prozent) glaubt, dass die Teilhabe in diesem Bereich nur eingeschränkt möglich ist. Lediglich 14 Prozent halten es für kaum oder gar nicht möglich, dass Menschen mit geistiger Behinderung ihre Freizeit selbstständig gestalten. Ein ähnliches Bild ergibt sich für das selbstständige Wohnen, den Besuch einer regulären Schule, eigenständige Urlaubsreisen oder die Teilnahme am regulären Arbeitsleben. In diesen Bereichen halten jeweils vier bis neun Prozent der Bevölkerung die uneingeschränkte Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung am gesellschaftlichen Leben für möglich. 61 bis 75 Prozent sehen eine eingeschränkte Partizipationsmöglichkeit. Dass Menschen mit geistiger Behinderung von vorneherein ausgeschlossen sind, glauben je nach Bereich lediglich zwischen 18 und 28 Prozent. „Die persönliche Situation von Menschen mit geistiger Behinderung hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert. Die Ergebnisse der Umfrage zeigen jedoch, dass bei der umfassenden gesellschaftlichen Teilhabe noch erheblicher Nachholbedarf besteht“, sagte Ulla Schmidt, Bundesvorsitzende der Lebenshilfe und Bundestagsvizepräsidentin, bei der Vorstellung der Studie. „Daher muss das im Koalitionsvertrag vereinbarte Bundesteilhabegesetz noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden. Wichtig ist: Die finanzielle Entlastung der Kommunen in Höhe von 5 Milliarden Euro jährlich darf nicht zweckentfremdet werden, sondern muss die Teilhabesituation von Menschen mit Behinderung weiter verbessern.“ Zur Einschätzung von Menschen mit geistiger Behinderung durch die Bevölkerung als überwiegend hilfsbedürftig sagte Ulla Schmidt: „Dieses Bild deckt sich nur noch sehr bedingt mit der Wirklichkeit, die wir als Lebenshilfe wahrnehmen. Danach nehmen immer mehr Menschen mit Behinderung ihre Interessen selbstbewusst in die eigene Hand, ob am Arbeitsplatz, im Wohnumfeld oder in Vereinen. Mitleid oder Berührungsängste sind unbegründet.“ Die Allensbach-Umfrage greift auch die Diskussion um schulische Inklusion von Kindern mit geistiger Behinderung auf. Weite Teile der Bevölkerung (77 Prozent) haben diese Debatte zumindest am Rande mitbekommen. 20 Prozent der Bürger verfolgen die Diskussion um schulische Inklusion näher. Die Bevölkerung insgesamt und speziell die Gruppe der Eltern mit schulpflichtigen Kindern haben große Zweifel daran, ob Schulen ausreichend darauf vorbereitet sind, Schüler mit Behinderung zu integrieren. 66 Prozent der Bevölkerung und 76 Prozent der Eltern sehen hier größere Probleme. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung (71 Prozent) – auch diejenigen, die in ihrem Umfeld Menschen mit einer geistigen Behinderung kennen (64 Prozent) – ist der Auffassung, dass der Besuch einer speziellen Förderschule für Kinder mit geistiger Behinderung am besten sei. Auf die Frage, wer letztlich darüber entscheiden sollte, ob ein Kind mit einer geistigen Behinderung auf eine Regelschule oder eine Förderschule gehen sollte, plädiert eine relative Mehrheit der Bevölkerung (42 Prozent) für den Elternwillen. Nur eine Minderheit meint, die Schulbehörde oder die Schule (26 Prozent) solle diese Entscheidung treffen. Die Bundesvereinigung Lebenshilfe hat grundsätzliches Verständnis für diese Einstellung der Bevölkerung. „So lange die Rahmenbedingungen wie zusätzliche Lehrer und eine Ausrichtung der Pädagogik auf heterogene Gruppen noch nicht stimmen, sollte das Förderschulsystem erhalten bleiben, damit Eltern eine Wahlmöglichkeit haben“, sagte Ulla Schmidt. Mittelfristig sei die Lebenshilfe aber für eine Schule für alle Kinder. Die Parallelsysteme müssten endlich aufgelöst werden. Die Allensbach-Untersuchung im Auftrag der Bundesvereinigung Lebenshilfe stützt sich auf insgesamt 1.574 mündlich-persönliche Interviews mit einem repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung ab 16 Jahre. Die Interviews wurden zwischen dem 14. und 26. August durchgeführt.

Quelle: Pressemitteilung der Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V. vom 13.11.2014
www.lebenshilfe.de