Wenig Inhalt – große Wirkung: der Diskurs über die Abgrenzung von rechtlicher und sozialer Betreuung
Welche Konsequenzen sind aus den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention für das Verständnis von Betreuung zu ziehen? Alexander Laviziano zur Frage der Abgrenzung zwischen rechtlicher und sozialer Betreuung.
Die Gründungsmütter und -väter der Behindertenrechtskonvention (BRK) wussten, dass ein Wandel der gesellschaftlichen Situation eine Veränderung der Einstellungen und Sichtweisen voraussetzt. Der „Bewusstseinsbildung“ widmeten sie einen eigenen Artikel (Art. 8 BRK):
„Die Vertragsstaaten verpflichten sich, sofortige, wirksame und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um a) in der gesamten Gesellschaft […] das Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen zu schärfen und die Achtung ihrer Rechte und Würde zu fördern; b) Klischees, Vorurteile und schädliche Praktiken gegenüber Menschen mit Behinderungen […] zu bekämpfen; c) das Bewusstsein für die Fähigkeiten und den Beitrag von Menschen mit Behinderungen zu fördern.“
Artikel 8 der BRK lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die kulturellen Orientierungssysteme – Begriffe von Normalität und Abweichung, Freiheit und Behinderung, Autonomie und Abhängigkeit. Die gesamte Gesellschaft ist angesprochen ihr Bewusstsein zu schärfen, Wissenschaftler und Fachleute inklusive – zumal jene, die Unterstützungsbedarfe und Hilfesysteme definieren. Der Blick in die Geschichte zeigt, dass Klischees und Vorteile um die Wissenschaft herum keinen Bogen machen: Die „Entmündigung von Geisteskranken“ war kein volkstümliches Ritual sondern professionelle Praxis auf der Grundlage von Expertendiskursen. Und es wäre vermessen zu glauben, unser heutiges Betreuungssystem ist frei von paternalistischen und abwertenden Konzeptionen, die eine inklusive Gesellschaft behindern. Artikel 8 ist eine Herausforderung (auch) an die Fachleute, ihre begrifflichen und theoretischen Gewohnheiten auf ihren ethischen Gehalt hin zu überprüfen und mit den Zielen der BRK abzugleichen: z.B. Betreuung als „Rechtsfürsorge“, Betreuung als Ausgleich für die „partielle Geschäftsunfähigkeit“ oder die Annahme, eine behinderte Person benötigt eine „rechtliche“ Vertretung und keine soziale Unterstützung, um geschäftsfähig zu bleiben. Mit dem Betreuungskonzept der BRK (Artikel 12) – Unterstützung der Rechts- und Handlungsfähigkeit – wird die alte Debatte über die Transformation der Betreuung zu einem sozialen Unterstützungssystem neu entflammt, allerdings haben Betreuungsexperten im Zusammenspiel mit der Politik Argumente für die Bewahrung des Systems der Rechtsfürsorge und der gerichtlichen Betreuung aufgebaut. Dafür gab es konzeptionelle Unterstützung vom Deutschen Verein: Die „Abgrenzung von rechtlicher Betreuung und Sozialleistungen“ (so auch die gleichnamige Publikation aus dem Jahre 2007) ist zu einem konservativen Leitmotiv geworden. Dabei mangelt es der Rede über die Grenze zwischen dem sozialen Bereich und der rechtlichen Betreuung an sprachlicher Klarheit und substanziellen Argumenten: „Die Hilfen, die geboten sind, sollen in Kooperation aller Beteiligten definiert werden. Sie bestimmen sich inhaltlich an den zu verrichtenden Tätigkeiten und richten sich an den Betroffenen und dessen Bedürfnissen aus. […] Wegen der Vielschichtigkeit der Tätigkeiten muss auf den Schwerpunkt der Hilfestellung abgestellt werden – gemessen an Sinn, Zweck und Zielrichtung der Tätigkeit. Ziele und vertragliche bzw. gesetzliche Verpflichtungen […] müssen ausgelegt, definiert und letztlich mit Inhalten ausgefüllt werden. Liegen die Voraussetzungen für die Erbringung von Betreuung als Sozialleistung vor, sind diese Leistungen zu bewilligen und zu erbringen.“ (Walter Dörrer und Gerold Oeschger in Betrifft Betreuung 11). Soziale Betreuung ist Betreuung als Sozialleistung – eine pragmatische Definition. Die Sinnhaftigkeit der Grenze bleibt im Dunkeln: Warum ist die Unterstützung der Rechts- und Handlungsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen eine rechtliche und keine soziale Arbeit? Rechtliche Betreuer helfen Menschen mit intellektuellen oder emotionalen Beeinträchtigungen bei der Gestaltung ihrer Rechtsverhältnisse – dabei sind rechtliche Handlungen nur ein Nebenaspekt. Willenserkundung, Förderung einer selbstständigen Gestaltung der Rechtsbeziehungen, Unterstützung bei der Umsetzung individueller Präferenzen und Entscheidungen gegenüber möglichen Vertragspartnern erfordern Kompetenzen in der Beratung, Sozialdiagnostik und der Steuerung sozialer Systeme. „Rechtlich“ ist allenfalls das Ziel aber nicht der Weg dorthin. Schon 2003 beklagte sich Gisela Zenz über die absurden Versuche, den sozialen Charakter und die soziale Intention der rechtlichen Betreuung zu negieren. Schließlich sollte die Jahrhundertreform 1992 das „vormundschaftsrechtliche Verwaltungsverhältnis“ in eine „betreuungsrechtliche Sozialbeziehung“ verwandeln. Daran, so Gisela Zenz, gelte es zu erinnern, „angesichts heutiger Bemühungen, in pathologisch anmutender Manier ein rechtliches Skelett aus dem sozialen Ganzen der Betreuung herauszupräparieren und dieses dann als lebensfähig zu präsentieren.“ „Betreuung darf nicht sozial sein“: dieser Denkansatz ist inkompatibel mit dem Anspruch, eine persönliche Unterstützung zu leisten, Kompetenzen zu stärken und Fähigkeiten zu entfalten. Jeder Mensch ist rechts- und handlungsfähig: Ausgangspunkt von Betreuung im Verständnis der BRK (Artikel 12) ist die Handlungsfähigkeit des behinderten Menschen und nicht sein Vertretungsbedarf aufgrund von Handlungsdefiziten. Ein feiner Unterschied, der deutlich macht, dass die BRK Grundüberzeugungen in der Betreuungsfachwelt berührt. Deshalb ist „Bewusstseinsbildung“ ein wichtiges Thema. Autor
Alexander Laviziano M.A.
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundesverband der Berufsbetreuer/innen (BdB) und leitet das neu gegründete Institut für Innovation und Praxistransfer in der Betreuung (ipb)
web: http://www.bdb-ev.de/233_Institut.php Kontakt:
alexander.laviziano@bdb-ev.de
Tel. 040 - 3862903 - 94
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