Wer hasst, verliert die eigene Orientierung - Eine didaktische Herausforderung

von Dr. Jos Schnurer
09.10.2015

Collage, zusammengestellt von Dr. Jos Schnurer
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Warum gibt es soviel Hass in der Welt? Im Individuellen wie im Gesellschaftlichen? Im Lokalen wie im Globalen? Das Hässliche als das Böse und als Gegenteil des Guten, wird in der anthropologischen, abendländischen Philosophie immer mit der Abwesenheit des Göttlichen und der Erdhaftigkeit des Menschlichen bezeichnet. Der griechische Philosoph Platon hat im aischrón, dem Hässlichen, das Minderwertige und Verabscheuungswürdige gesehen[1], und Aristoteles sprach dem anthrôpos, dem Menschen, durch seine Vernunftbegabung die Fähigkeit zu, zwischen Gut und Böse unterscheiden und darauf sein Streben nach einem guten, gelingenden Leben ausrichten zu können[2]. Weil aber der Mensch nach dem neueren philosophischen Denken kein gottähnliches Wesen, „grundlegend nicht ein weltfremdes, sondern ein welthaftes Wesen“ ist, ausgestattet mit dem Grundsein des Evolutionären, ist es auch notwendig, die Sinnhaftigkeit des homo mundanus nicht im Göttlichen, sondern in den Prozessen und Wirklichkeiten der Welt zu suchen[3]. Dadurch wird es möglich, nach den vielfältigen Formen des menschlichen Hasses als dem Disharmonischen und gleichzeitig Realistischen im lokalen und globalen Dasein der Menschheit zu fragen[4]  Weil Hass überall ist, sich als Aggression, Gewalt, Macht, Herrschaft, Fanatismus, Fundamentalismus und Ideologie im Gesellschaftlichen und Politischen, bis hin zu individuellen und narzisstischen Formen darstellt und bewusst und unbewusst ausgeübt wird, kommt es darauf an, die Tatsache des menschlichen Hassens nicht zu tabuisieren, sondern bewusst zu machen. Wo, wenn nicht in der familialen und institutionalisierten Bildung und Erziehung ist der Ort, sich mit den Bedeutungen, Wirkungen und Wirklichkeiten des Hassens auseinander zu setzen? [5]. Dass dies keine hergeholte oder weit weg liegende Problematik darstellt, sondern Hass mitten in unserer Gesellschaft ist, zeigen nicht zuletzt die ansteigenden Zahlen von hasserfüllten, rassistischen und unmenschlichen Aktivitäten hier in unserem Land[6], wie auch Amokläufe und Schoolshootings[7] Es wird hier der Versuch unternommen, auf den (neueren)  – durchaus subjektiv wahrgenommenen - wissenschaftlichen Diskurs um fehlgeleitetes Verhalten und menschliche Fehlentwicklungen aufmerksam zu machen und auf Literatur zum Themenkomplex  zu verweisen. Überwiegend werden dabei Forschungsansätze und –ergebnisse vorgestellt, die im Internet-Rezensionsdienst www.socialnet.devom Autor besprochen wurden. Dass dabei immer wieder Wiederholungen und Mehrfachnennungen zu den Themenbereichen erfolgen, dafür bittet der Autor um Nachsicht! Auch darum, dass zahlreiche Veröffentlichungen, die für die Einschätzung, Bewertung und Handhabung zum Thema „Hass“ bedeutsam sind, nicht genannt werden!

Aus dem Gefängnis der eigenen Sinnlichkeit heraustreten

Über Sinnfragen haben Philosophen, Anthropologen, Psychologen, Pädagogen und Theologen immer wieder nachgedacht. Und sie sind, je nach zeitlichen, kulturellen, weltanschaulichen, individuellen und kollektiven Wirklichkeiten, natürlich zu unterschiedlichen Auffassungen und Interpretationen gekommen[8]. Der Mensch als vernunftbegabtes, nach einem guten, gelingenden Leben strebendes Lebewesen, ist darauf angewiesen, nach dem Woher, dem Jetztsein und dem Wohin zu fragen und die eigene Identität zu bilden[9]. Da liegen Suchen und Finden ganz nah beieinander, und Vergewisserungen und Irrungen ebenso. Es sind existenzphilosophische, anthropologische Fragestellungen, die insbesondere bei den Ethnografen und Psychoanalytikern auf ein besonderes Interesse stoßen, weil bei Sinnsuchen das Freudsche „dritte Ohr“ eine besondere Aufmerksamkeit erfordert[10], und in der Ethnografie „die wahrnehmende Einlassung auf die Perspektive des Anderen, ebenso wie die Sensibilität für deren Widerhall im Eigenen“ bedeutsam sind. Wenn es um Sinnes- und Gefühlsäußerungen geht, bedarf es des Bewusstseins, dass „die Sinne ( ) blind  (sind) ohne die Wegweisungen des kollektiven Gedächtnisses, ...stumm ohne das Erzählen, taub ohne die Erfahrung, die materielle Wahrnehmungen zu Alltagspraxen formt“[11].

Veränderung ist menschlich

Die traditio humana als ein bedeutsamer Strang in der historisch-anthropologischen Forschung geht davon aus, dass „das Menschen Mögliche ( ) erkennbar (ist) an dem, was Menschen bisher möglich war, aber dieses ist nicht sein endgültiges Maß. Alles Dagewesene ist Menschen möglich, aber es ist keinesfalls schon alles Mögliche da gewesen“. Es geht also in der historischen Anthropologie darum, „Wissen von und über Menschen aus verschiedensten Epochen und Kulturen gleichsam zu einem Album des Menschlichen zusammenzufügen zu einer Erkundung des Menschlichen“, und zwar „im Rückblick auf geschichtlich und im Hinblick auf gegenwärtig verwirklichte Menschlichkeiten den reflexiven Horizont der Gegenwärtigen auf die Vielfalt der Möglichkeiten menschlicher Existenzweisen hin auszuweiten“[12].

Die Mystifizierung der Aggression kann und muss beendet werden

Ist der Mensch ein Lebewesen, das Macht, Kampf und Gewalt in sich trägt und die Herrschaft über andere Menschen anstrebt, gewissermaßen also ausgestattet mit dem „Gewalt“- Gen? Und geboren mit dem (göttlichen) Auftrag: „Mache dir die Erde und alles was um dich herum und mit dir ist, untertan“? Ist der Mensch eine „Bestie“ oder ein „Gott“? Ein „Mutter-Teresa“- Typ oder ein Tyrann? Ist „Gewalttätigkeit“ ein Überlebensmerkmal? Oder ist der Gegensatz davon, die „Friedfertigkeit“, eine hoffnungslos veraltete und nostalgische Illusion? Angesichts der zunehmenden physischen, psychischen und machtorientierten, politischen und gesellschaftlichen Gewalt auf der Erde? Ist die „Gewaltenteilung“, die in der Demokratie zu den konstitutiven und unverzichtbaren Merkmalen gehört, eine überholte Einrichtung, angesichts der ökonomischen und politischen Zwänge, die in der globalisierten Welt herrschen? Der griechische Philosoph Aristoteles ist sich bei der Frage nicht sicher gewesen, ob das Gewaltsame im Menschen natürlich, also triebbestimmt angelegt oder widernatürlich sei. Und die Adepten und Kontrahenten in der Geschichte haben die Bedeutung der Gewalt, entweder als Aggressionspotential oder als Auswuchs, immer wieder thematisiert, bis hin zu den Fragen, wie mit der Gewalt im 21. Jahrhundert umgegangen werden solle. Die Frage, ob evolutionäre oder revolutionäre Einflüsse den Menschen zu einem Konfliktwesen gemacht haben, einem Aggressivo, einem Teufel; oder ob das Bild vom Angelus, dem friedfertigen, duldsamen und empathischen Engel, nur eine Märchenerzählung ist - diese Kontroversen ziehen sich durch die ganze Menschheitsgeschichte, genau so wie die Frage, was das „so genannte Böse“ (Konrad Lorenz) macht. Die zahlreichen Theorien um Macht, Gewalt, Aggression kreisen um zwei Angelpunkte, die sich entweder auf einen eher resignativen, „faktischen“ Grundtatbestand berufen, dass der Aggressionstrieb das Denken und Handeln des Menschen bestimme; oder ob die Auffassung gültig sei , dass aggressives und gewalttätiges Tun ein Prozess im kulturellen und zivilisatorischen Dasein der Menschen ist, also entsteht, nicht besteht. Es scheint wie ein Hoffnungsschimmer zu blinken, wenn die neueren neurobiologischen Erkenntnisse nachweisen wollen, dass „das menschliche Gehirn ( ) über einen neurobiologisch verankerten Sinn für Gerechtigkeit (verfügt)“, der Mensch also in der Lage und fähig ist, „gut“ zu sein und human zu handeln[13]. Ursprünge, Formen und Bedeutung von Vorurteilen bedürfen einer besonderen Aufmerksamkeit, um ein demokratisches, friedliches, freiheitliches und soziales Zusammenleben der Menschen in den nationalen Gesellschaften wie im globalen Rahmen zu ermöglichen. Weil mit den Worten von Albert Einstein „ein Vorurteil ( ) schwerer zu spalten (ist) als ein Atom“, bedarf es der wissenschaftlichen Auseinandersetzung und Forschung, um ein vorurteilsbewusstes Bewusstsein in die Köpfe und Herzen der Menschen zu bringen. Mit dem Handbuch „Vorurteile“ liefert Anton Pelinka Hinweise, pädagogische und didaktische Anregungen, wie mit den Problemen von Ablehnung, Antipathie, Diskriminierung, Stigmatisierung, Fremdenfeindlichkeit oder rassistischer Haltung gegenüber Individuen und Gemeinschaften umgegangen werden kann. Dabei geht es nicht darum, das Vorurteil per se zu verdammen oder gar ausmerzen zu wollen; vielmehr kommt es darauf an zu erkennen, dass „es Vorurteile und Vorurteile gibt“ und die komplexe Typologie von Vorurteilen und Stereotypen zu verdeutlichen; denn „Vorurteile sind das Produkt einer bestehenden Gesellschaft“. Sie werden also weder in die Gene noch in die Wiege gelegt. Damit wird gleichzeitig deutlich, dass es Aufgabe des zôon politikon, des politischen Lebewesens Mensch (Aristoteles) ist, sich der negativen Ausprägungen von Vorurteilsbildungen bewusst zu sein. Die wissenschaftliche Vorurteilsforschung liefert Hinweise dafür, dass es nicht darauf ankommt, Vorurteile zu negieren oder aus der Welt schaffen zu wollen, sondern „Wege zu finden, mit Vorurteilen umzugehen, sie zu reduzieren und ihre explosiven, ihre mörderischen Potentiale zu kontrollieren“. Um dies wirksam werden zu lassen, bedarf es keiner Rezepte, sondern eines ganzheitlichen Blicks, der sich interdisziplinär weitet und objektive Maßstäbe zur Bewertung und zum Umgang mit Vorurteilen liefert[14].

Der aufrechte Gang als Manifest des Gutseins?

Der anthrôpos, der Mensch, ist, so lernen wir bereits seit der griechischen Antike, eine „durch seine Zweibeinigkeit charakterisierte Gattung der Lebewesen“. Durch seine Vernunft- und Sprachbegabung habe er Anteil am unvergänglichen und göttlichen Geist. Durch seine aufrechte Körperhaltung stehe er auf der obersten Stufe der scala naturae und nehme dadurch eine Mittelstellung zwischen Gott und Tier ein. Er sei fähig, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, Allgemeinurteile zu fällen und sittlich zu handeln. Die kulturanthropologische Geschichte des aufrechten Gangs verweist auf die sittlichen und moralischen Grundzüge, die das Menschsein ausmachen und nicht nur eine „globale Ethik“ im Sinne der Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen von ihm fordern, sondern dies auch möglich machen. Diese optimistisch-auffordernde Auffassung stellt sich den pessimistischen und fatalistischen Einstellungen entgegen[15]. In den Kulturwissenschaften hat sich eine Verbrückung von psychologischen, pädagogischen und soziologischen Aspekten vollzogen, die humanistische Bildung und Existenz in der Epoche der Globalisierung als „Selbst-Bildung“ propagiert. „Der von der Natur losgerissene Mensch… muss sich eine Vorstellung von sich selbst formen, muss sagen und fühlen können: Ich bin ich“, so formulierte der große alte Mann der Psychoanalyse, Erich Fromm (1900 – 1980) seine Auffassung vom Menschsein. Weil Bildung und Erziehung immer den Zusammenhang mit gesellschaftlicher Wirklichkeit und Überlieferung spiegelt, kommt der alten, aber immer wieder neuen und aktuellen Frage nach Erziehen und/oder Wachsen lassen (Theodor Litt) eine unübersehbare und nicht zu ignorierende Bedeutung zu. Wer wollte leugnen, dass die neoliberalen, kapitalistischen „Haben“- Orientierungen Menschsein reduziert auf ein egoistisches Dasein, das der Vorstellung, der anthropos sei ein vernunftbegabtes, gemeinschaftsfähiges und ein gutes Leben anstrebendes Lebewesen, widerspricht. „Das Problem der Identität des Menschen“ innerhalb der von Menschenwürde gekennzeichneten Menschheitsfamilie besteht darin, dass Sein und Werden sich nicht (nur) instinktgemäß bestimmt, sondern sich im jeweiligen Sozialisationsprozess ereignet und ein humanes Verhältnis zu sich und zur Welt erst im Entwicklungsverlauf bilden kann. „Die zentrale Grundlage für einen humanisierenden Wandel ist die bedingungslose Akzeptanz eines jeden Menschen als Mitglied dieser Gesellschaft“[16].

Selbstachtung ist die Kunst des aufrechten Gangs

Zur Selbstachtung gehören immer mindestens zwei. Es muss eingebunden sein in das Bewusstsein, dass der Mensch in seiner Individualität auf eine friedliche und gerechte Gemeinschaft mit den Mitmenschen angewiesen und dafür verantwortlich ist. Seit der Frage Platons, was etwas in Wahrheit und Wirklichkeit ist (tí poté estín), wird die Suche nach der eigenen Identität und dem Sosein des Menschen in immer neuen Variationen und Denkkonstrukten bedacht und benannt. Selbstachtung hat also etwas zu tun mit dem individuellen Selbst- und Lebenswert und den kulturellen Identitäten der Menschen insgesamt, und dem Selbstbewusstsein, das stetig und mühsam entwickelt, erarbeitet und verteidigt werden muss. Im philosophischen und wissenschaftlichen Denken hat Selbstachtung selbst referentielle und selbst steuernde Bedeutung, die die Selbst- und Fremdbeobachtung bedingt. Es ist hilfreich, will man sich des eigenen Selbstwertgefühls versichern, der biologischen, anthropologischen und gesellschaftlichen wie persönlichen Voraussetzungen für Selbstachtung bewusst zu werden. Denn falsch verstandene, ideologisch gesetzte und historisch entstandene Formen von (so genannter) Selbstachtung können leicht (und sogar selbstverständlich und nicht problematisiert) zu negativen Ausprägungen, wie Egoismus, Überheblichkeit, Selbstüberschätzung und Höherwertigkeitsvorstellungen gerinnen. Da ist es gut, sich der philosophischen Bedeutung des Menschenwerts „Achtung“ bewusst zu werden und zu fragen, wie Selbstachtung von verwandten Begriffen unterschieden werden kann, wie sich die Eigenschaft in der menschlichen Natur ausprägt und sich rechtlich und moralisch darstellt, und welche Maßnahmen zu ergreifen sind, wenn sich die Fähigkeit zur Selbstachtung durch negative Entwicklungen entweder nicht entfalten kann, oder ge- und zerstört wird. Am besten beginnt man dabei mit den individuellen, alltäglichen Erfahrungen, und greift aus auf die lokalen und globalen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen in der Welt. Weil der grundsätzlich selbstverständlich erscheinende kategorische Imperativ – dass, wie es im Volksmund heißt, was du nicht willst, dass man dir tu´, das füg´ auch keinen andern zu – nicht selbstverständlich ist, sondern in der Familie, Schule, Beruf und Alltagsleben erworben werden muss, bedarf es der Bildung zur Selbstachtung. Der Philosoph und Ethiker Franz Josef Wetz, geht mit seinem Buch „Rebellion der Selbstachtung“ die Thematik praktisch-pädagogisch und didaktisch an. In einer Zeitanalyse nimmt er sich vier aktuelle Krisensituationen als „Leiden der Gegenwart“ vor: Den islamistischen Terror, die globalen Aufstände gegen Entmündigung und Staatswillkür, den überreizten und ausgreifenden Individualismus in den westlichen Kulturen, und die Gleichgewichtsstörungen im Work-Life-Balance. Das Bild vom aufrechten Gang ist ein gutes und passendes Zeichen für die Bedeutung, die Selbstachtung im individuellen und kollektiven Leben der Menschen hat[17].

Mobbing als ungeschehenes Geschehen

Mit dem aus dem Englischen übernommenen Begriff “Mobbing“ sollen Verhaltensweisen benannt werden, bei denen Menschen von anderen Menschen insgeheim angegriffen werden, indem über sie schlecht geredet wird oder Gerüchte verbreitet werden. Ursprünglich benutzte der Verhaltensforscher Konrad Lorenz den Begriff, indem er das Konkurrenz- und Revierverhalten von Tieren als das „sogenannte Böse“ beschreibt. Übertragen auf menschliches Verhalten fragt Margarete Mitscherlich „Müssen wir hassen?“[18]. Benannt wird also ein Konflikt, der beim menschlichen Zusammenleben entsteht und nicht offen und fair ausgetragen wird, sondern sich hinter der vorgehaltenen Hand und unter Ausschluss der Betroffenen ereignet. Mobbing geschieht in allen Lebensbereichen, in der Nachbarschaft, der Schule, am Arbeitsplatz, in den Medien und in der Freizeit. Weil die Angriffe immer als „Hörensagen“ verbreitet werden und das Mobbingopfer keine Chance hat, sich zur Wehr zu setzen und Gerüchte richtig zu stellen, sind die psychischen Auswirkungen von Mobbing gravierend. In der Soziologie, Pädagogik und Psychologie werden die Ursachen und Folgen des sozial abweichenden Verhaltens erforscht und Präventions- und Therapiekonzepte entwickelt. Die Annahme, dass in Deutschland mehr als eine Million Menschen gemobbt werden – und zwar so, dass psychische, persönlichkeitsverändernde und krankmachende Auswirkungen entstehen – muss die Theorie und Praxis der Sozialwissenschaften, insbesondere der Psychologie, Psychotherapie und Mediation auf den Plan rufen. Der in Gelsenkirchen als Pädagoge und Psychotherapeut tätige Holger Wyrwa outet sich in seinem Buch „Konfliktsystem Mobbing“ als jemand, der lange Zeit selbst gemobbt wurde und sich erfolgreich zur Wehr gesetzt hat. Sein Theorie- und Praxismodell für Therapie und Beratung gründet auf „einem systemisch orientierten biopsychosozialen Verständnis vom Menschen, der als Homo construens – ein differenzstrukturierendes und ein ordnungs- bzw. individuell wie sozial sicherheitsherstellendes Wesen – zu betrachten ist“.[19].

Mit Würde geboren – In Würde leben

„Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte (bildet) die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“. Diese in der Präambel der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung zuvorderst postulierte Definition des Menschseins  und der in Artikel 1 eindeutig gesetzte Grundsatz – „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“ – gilt als globale Ethik und Verpflichtung für alle Menschen. Grundlegende, gesetzte, erworbene und „gefühlte“ Werte und Normen, die ein gerechtes und friedliches Zusammenleben aller Menschen auf der Erde fordern und regeln wollen, unterliegen freilich immer auch der Misere, dass die dabei implizierten Annahmen von Einsicht, Verantwortungsbewusstsein und Friedfertigkeit allzu oft nicht vorhanden sind und von Egoismen, Opportunismen und Inhumanismen überlagert werden. Es gilt, den einerseits eindeutigen und gleichzeitig unterschiedlich gedeuteten Begriff der Würde auf den Prüfstand menschlichen Denkens und Handelns zu stellen, und zwar mit den drei bekannten philosophischen Fragen: Wie werde ich von anderen Menschen behandelt? – Wie behandle ich andere Menschen? – „Wie stehe ich zu mir selbst?. Herauskommen kann dabei die Erkenntnis, dass Würde Wahrhaftigkeit ist, eine im wahrsten Sinne des Wortes wahrhafte Bedeutsamkeit. Es geht um Aufrichtigkeit und ihre Grenzen im menschlichen Miteinander, aber auch um das Bemühen, in Auseinandersetzungen über unterschiedliche Meinungen und Positionen das eigene Gesicht und das des anderen zu wahren; zum zweiten, dass Würde Selbstachtung im Sinne der individuellen und kulturellen Identität erfordert; und zum dritten Würde moralische Integrität als Kennzeichen moralischer Achtung und Handelns ist[20].

„Ist die Unterscheidung zwischen Handeln und Unterlassen moralisch bedeutsam?“

Der Philosoph und Ethiker von der Universität Düsseldorf, Dieter Birnbacher, denkt darüber nach, wie sich die Kontroversen „Tun und Unterlassen“ sowohl im individuellen, als auch im lokal- und globalgesellschaftlichen Denken und Handeln der Menschen auswirken. Mit der Definition - „Eine Unterlassung setzt … voraus, dass eine Norm gilt, die ein bestimmtes Handeln fordert und der Unterlassene diese Handlung nicht ausführt“ – diskutiert er die Fallstricke, Sackgassen, Wegegabelungen, aber auch die Richtungen bei dieser philosophischen Nachschau nach den Bedeutungen und Wirkungen dieses Begriffspaares. Dabei ist es hilfreich, erst einmal dem Volk aufs Maul zu schauen. In den Sprichwörtern nämlich zeigen sich die Imponderabilien: „Achte nicht bloß auf das, was andere tun, sondern auch auf das, was sie unterlassen!“ – „Alles Tun zu seiner Zeit!“ – „Jedermann recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann!“. Er fragt nach den moralischen Begründungen und Konventionen, die sich bei der Betrachtung der an sich wohlvertrauten, individuellen und universalen  Verhaltensweisen des menschlichen, moralischen Denkens und Handelns ergeben, und wie es sein kann, „Tun und Unterlassen, Handeln und Geschehenlassen, aktives Eingreifen und passives Untätigbleiben moralisch deutlich verschieden zu beurteilen“. Er belegt dies mit der Erfahrung, die auch ein Sprichwort sein könnte: „Wer einen anderen vorsätzlich belügt oder betrügt, indem er ihm Märchen auftischt, wird gemeinhin strenger moralisch verurteilt als wer einen anderen durch das Verschweigen wichtiger Tatsachen wissentlich im Irrtum lässt“. Er verweist auf die vielfältigen Ausprägungen und Begriffsverwirrungen, etwa bei den Unterscheidungen beim „Unterlassen und Geschehenlassen“, wie auch bei der Bewertung, Wahrnehmung und Ausübung der Diskrepanzen zwischen  dem Prinzip „der Pflicht zur Nicht-Schädigung gegenüber der Pflicht zum Wohltun“ und der Auffassung, dass auch „Unterlassungen als Schädigungen gelten können“.Die Formel „Geschehenlassen = Unterlassen“ greift auf, was z. B. vom „aktiven Staatsbürger“ gefordert wird und sich im kategorischen Imperativ in der volksmundartigen Interpretation ausdrückt: „Was du nicht willst, das man dir tu´, das füg´ auch keinen andern zu!“. Darin steckt die Fähigkeit, Wissen und Wollen als humanes Denken und Tun zu praktizieren[21].

Angst ist ein Gefühl mit schwankendem Boden

Hass kann, so haben wir es bereits verdeutlicht, auch aus Angst vor Veränderungen, nicht eingestandenen Unsicherheiten und Identitätsverzerrungen entstehen und sich entwickeln. „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann…?“ – mit diesem Kinderspiel, das wir heute eher in die Ecke von unbedachtem, rassistischem Denken und Handeln stellen, kommen wir beim Nachdenken zu Fragen, ob „Angst“, wie wir dies aus der Evolutionstheorie erfahren, „eine ursprünglich zum Überleben notwendige Reaktion“ ist, oder ob es sich dabei um ein Gefühl von „verlockender wie bedrohlicher Erfahrung menschlicher Freiheit“ handelt, wie dies Søren Aabye Kierkegaard formuliert hat. In dieser Diktion wird, anthropologisch, philosophisch und psychologisch unterschieden zwischen Angst als einem „Gefühl umfassender Unsicherheit und Bedrohtheit“ und Furcht, dem ein konkretes, bedrohliches Ereignis zugrunde liegt. Das Meinungsforschungsinstitut Emnid hat festgestellt, dass die Ängste von Jahr zu Jahr zunehmen. Die Forscher unterscheiden dabei zwischen realen Ängsten und der so genannten „Signalangst“. Zur „Realangst“ etwa gehören Ängste vor Krankheiten, vor Unfällen, vor dem Tod, vor Umweltbelastungen, Kriegen, usw., während die rote Ampel vor einem unbeschrankten Bahnübergang, an einer verkehrsreichen Straßenkreuzung uns ein Signal gibt, stehen zu bleiben, um nicht in Gefahr zu geraten. Gehen wir soziologisch und gesellschaftspolitisch an die Frage heran, bedarf es der Kompetenz, „den Leuten aufs Maul zu schauen“ und ihre Gefühle, Mentalitäten, Hoffnungen und Befürchtungen lesen zu können. In dem Kurzfilm aus dem Jahr 2002 – „Angst isst Seele auf“ – wird eine Situation dargestellt, in die ein als „Fremder“ von einer Gruppe von Rechtsradikalen Identifizierter angepöbelt und zusammengeschlagen wird; es ist ein Schauspieler, der sich auf dem Weg zu einer Theateraufführung befindet und im Stück von Rainer Werner Fassbinder – „Angst essen Seele auf“ – als Hauptdarsteller auftreten soll. Die Begriffe zeigen schon auf, mit welchen komplexen Zusammenhängen wir es zu tun haben, wenn wir von „Angst“ sprechen: Von „Urangst“ ist die Rede, biologisch, entwicklungspsychologisch und gehirnphysiologisch; „Lebens“ – und „Todes“- Angst kann Menschen aus ihrem Gleichgewicht bringen; „Flugangst“ kann Passagiere veranlassen, niemals in ein Flugzeug zu steigen; „Schulangst“ Kinder vom Unterricht abhalten; „Bindungsangst“ gemeinschafts- und empathieunfähig machen; „Inflationsangst“ Wirtschaften zum Absturz bringen. Das Gefühl wird sogar als Befindlichkeit einem ganzen Volk zugeschrieben: „German Angst“. Der Soziologe vom Hamburger Institut für Sozialforschung und Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel, Heinz Bude, stellt fest: „In Begriffen der Angst fühlt sich die Gesellschaft selbst den Puls“. Angst kennt weder nationale noch soziale Grenzen; diese Einschätzung ist Bestandteil der Systemtheorie von Niklas Luhmann, die Heinz Bude als eine der Referenzen heranzieht, um das Phänomen soziologisch und erfahrungswissenschaftlich zu analysieren. In diese Analyse schleicht sich „das Unbehagen mit dem eigenen Typ“ ein, das sich ja mit der philosophischen Frage danach, wie ich geworden bin was ich bin, trefflich kommunizieren lässt. Nur: Die Angst macht sich dabei ebenfalls bemerkbar, etwa, wenn es um die Frage geht, wie ich meinen eigenen, gesellschaftlichen Auf-, oder gar Abstieg begründen, erklären oder auch vor den anderen geheim halten kann: „Während der soziale Aufsteiger alten Typs mit dem Publikum der Anderen kämpft, die ihn seiner Meinung nach am Boden sehen wollen, hadert der soziale Aufsteiger neuen Typs mit sich selbst, weil für ihn der Weg das Ziel ist“. Da zeigen sich Wut und Aggression, und es tun sich Fragen auf: Wer aber veranlasst das alles? Ist es der Herr „Niemand“?[22].

Mobilisierung der Zivilgesellschaften für Frieden und menschliche Sicherheit

Frieden ist das höchste Gut der Menschheit, aber auch das fragilste und gefährdetste. Die theoretischen und praktischen Bemühungen, die Friedfertigkeit der Menschen zu begründen und zu fördern, „Duldsamkeit zu üben und als gute Nachbarn in Frieden miteinander zu leben, unsere Kräfte zu vereinen, um den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren“, wie dies in der Präambel der Charta der Vereinten Nationen vom 26. 6. 1945 der Menschheit aufgegeben wird, ist und bleibt eine immerwährende, in der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (Einen?) Welt immer dringlicher werdende Herausforderung[23]. Weil „Kriege“, wie dies in der Präambel der Verfassung der UNESCO vom 16. 11. 1945 zum Ausdruck kommt, „im Geiste der Menschen entstehen, (müssen) auch die Bollwerke des Friedens im Geiste der Menschen errichtet werden“. Konflikte sind menschlich und sie zeigen sich überall, im Alltag wie im Globalen. Neben den Anforderungen, individuell und innergesellschaftlich konflikt- und friedensfähig zu sein, kommt der zivilen Konfliktbearbeitung beim interkulturellen und internationalen Zusammenleben der Menschen eine wachsende Bedeutung zu. Spätestens seit sich Deutschland an den Aktivitäten zur internationalen Friedenssicherung durch die Einrichtung des Zivilen Friedensdienstes beteiligt, kommt der Aus- und Weiterbildung von Expertinnen und Experten zur gewaltfreien Bearbeitung von nationalen und internationalen Konflikten eine besondere Bedeutung zu. Das 1996 gebildete Forum Ziviler Friedensdienst, bei dem mehrere Institutionen und Einrichtungen zusammen arbeiten, vermittelt in der Kölner Akademie für Konflikttransformation im Forum Ziviler Friedensdienst e.V. (forumZFD) praxisnahes Handlungswissen für zivile Konfliktbearbeitung und den Zivilen Friedensdienst, bietet lebens- und berufserfahrenen Menschen Qualifizierungskurse zur Friedensfachkraft und Trainings zu Themen der zivilen Konfliktbearbeitung an, informiert über Fragen der zivilen Konfliktbearbeitung, forscht zur Transformation von Gewaltkonflikten und berät politische Entscheidungsträger. Die Herausforderung muss bestimmt sein von der Überzeugung, dass Friedensarbeit professionell geschehen muss – und „Zivile Konfliktbearbeitung braucht Zeit“. Dabei ist besonders bedeutsam: Vertrauen herstellen![24], und es bedarf der Einsicht, dass Konflikte weder per ordre mufti, noch mit materiellen Mitteln und Effektivitätsansprüchen allein aus der Welt geschafft werden können[25], sondern eine lebensweltliche, gesamtgesellschaftliche. Herausforderung darstellen[26].

Eine konflikttheoretische Perspektive gegen Hass, Radikalisierung, Fundamentalismus und Terrorismus

Die Ausrufung des Dschihad als Lebens- und Rechtsform stellt mittlerweile nicht mehr nur eine weltanschauliche Programmatik im Islam und für Gläubige dieser Religion dar, sondern hat als antiwestliche und antimodernistische Bewegung längst globale Bedeutung erlangt. Der Anspruch der Salafisten, die ursprünglich eine geistige, sufistische und politikabgewandte Richtung im Islam vertraten, die Menschen mit Macht und Gewalt zum „wahren“ Glauben zu prügeln und zu bomben, hat einerseits insbesondere in den westlichen, pluralistischen Ländern zu einem Zulauf von vor allem jungen, in ihrer Identität nicht gefestigten Menschen geführt; zum anderen in den Mehrheitsgesellschaften eine massive Ablehnung und Unverständnis bewirkt. Der öffentliche Diskurs über salafistische Aktivitäten bewegt sich dabei zwischen mehrheitsgesellschaftlichen Meinungen, die nicht selten durch fremdenfeindliche und rassistische Parolen aufgeheizt werden, und einem eher wegschauenden Verhalten: „Was gehen mich die Salafisten an!“. Beide Positionen sind abzulehnen und widersprechen einem demokratischen und toleranten Bewusstsein. Vielmehr muss es darum gehen, sich mit den ideologischen und fundamentalistischen Formen eines Denkens und Handelns auseinander zu setzen, das bestimmt sein muss von dem Willen und der Kompetenz zur Information und Konfliktregulierung: „Ohne Wissen voneinander gibt es kein Verständnis füreinander“[27]. Die Auseinandersetzung über islamistische Entwicklungen als lokale und globale Herausforderung vollzieht sich im wissenschaftlichen Diskurs in vielfältiger Weise. Mit dem Titel „Gefährliche Nähe“ setzen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in differenzierter und sachgemäßer Weise auseinander. Sie gehen davon aus, dass die Forderung, Demokratie müsse wehrhaft gegenüber demokratiefeindlichen, menschenverachtenden und dominanten Ideologien sein, nicht bedeuten kann und darf, andere Meinungen und Verhaltensweisen in einer Gesellschaft in jedweder Form nicht zuzulassen oder sie zu verbieten. Immerhin gebietet das Menschenrecht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit eine besondere Aufmerksamkeit darauf, Toleranz zu üben. Die Grenzen freilich sind erreicht und Widerstand ist gefordert, wenn Meinungen intolerant vertreten werden und der kategorische Imperativ, die Grundlage des humanen, friedlichen und gerechten Zusammenlebens der Menschen auf der Erde, aus den Angeln gehoben wird. Um Zuschreibungen, Meinungsbildungen und Alarmismen nicht nur emotional und allzu oberflächlich wirksam werden zu lassen, bedarf es einer objektiven, wissenschaftlichen Betrachtung des Phänomens. „die die Existenz salafistischer und islam(ist)ischer Bewegungen in Deutschland als Herausforderung sieht, sich als pluralistische, von Diversität geprägte Gesellschaft in Anbetracht weltpolitischer Umbrüche und sozialen Wandels über gemeinsame Werte und Normen auszutauschen und zu verständigen“, aber auch, sich fundamentalistischer, demokratie- und gemeinschaftszerstörender Ideologien mit effektiven und tauglichen wissenschaftlichen und rechtlichen Mitteln zu erwehren[28].

Destruktive Kräfte korrigieren

Die Erkenntnis, dass der Mensch ein zôon politikon, ein politisch denkendes, sprach- und vernunftbegabtes Lebewesen ist, das nach eu zên, einem guten Leben strebt und dazu fähig ist, wie dies Aristoteles postuliert hat, lässt sich als die eine (gute) Seite menschlichen Daseins auf der Erde denken. Auf der anderen Seite ist die Aggression, als Zwang und Zerstörungsneigung, ein „typisches Artmerkmal des Menschen“ (Alexander Mitscherlich); aber auch: „Das Gewaltsame ist widernatürlich“, wie dies Aristoteles in De Caelo (Über den Himmel) feststellt. In diesem Zwiespalt befinden wir uns, wenn wir über Gewaltprävention reden, also über die moralische, erziehliche, didaktische und methodische Absicht, gewaltsames Denken und Tun aus den Köpfen und Fäusten der Mitmenschen zu bringen. Insbesondere in der sozialpädagogischen Arbeit gibt es vielfältige theoretische und praktische Überlegungen, wie der (steigenden?) Aggression von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen begegnet werden kann, und zwar sowohl in lokalen, als auch in globalen Bezügen. Die beiden Sozialwissenschaftlerinnen von der Fachhochschule Bielefeld, Cornelia Muth und Annette Nauerth, informieren über eine Forschungs- / Seminararbeit, das als „Dante-Projekt“ in einem dreijährigen Lern- und Aufklärungsprozess realisiert wurde. Weil dort, wo Vertrauen als authentischer Dialog grundgelegt ist, negative Gewalt nicht stattfindet, so die erkenntnisleitende Annahme, können sich Erkenntnisstrukturen entwickeln, die auf dem dialogischen Prinzip Martin Bubers und Konzepten der Gestaltpsychologie beruhen. Die Auswahl von Dante Alighieris „Göttliche Komödie“ als didaktischer Dreischritt - Hölle – Läuterung - Einsicht – kann als geschickte Motivation zur Erfahrung von Aggression – Misstrauen – Vertrauen gewertet werden. Auf dem Weg von der Hölle über den Läuterungsberg zum Ideal verbinden sich Fiktion und Wirklichkeit. Es sind die zementierten und fundamentalen Ursachen für aggressives, zerstörerisches Verhalten, die sich z. B. bei der Jugendkriminalität in einem Scham-Wut-Zyklus auswachsen und Formen von Beschämung und Läuterung so erschweren; die aber mit Hilfe der Gewaltprävention durchbrochen werden müssen.[29]

Die Macht der Eliten

Kapitalismus- und Neoliberalismuskritik gilt in der globalisierten, scheinbar „Alles-Machbar-Welt“ als Kontrapunkt und, je nach Mentalität, politischem Bewusstsein und Ideologie, als wehrhafte bis machtbewusste Alternative: Eine bessere, humane und soziale Welt ist möglich! Es ist die Frage, wie Macht entsteht und Ohnmacht wird, und wie Macht legitim ausgeübt und Machtmissbrauch benannt und verhindert werden kann[30]. Der Soziologe Hans-Jürgen Krysmanski gehört dem Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an. Er engagiert sich als Wissenschaftlicher Beirats bei Attac und der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Mit zahlreichen Expertisen, Auftrags- und Forschungsarbeiten meldet sich Krysmanski immer wieder zu Wort; nicht aus dem elitären und geschützten Elfenbeinturm heraus, sondern als beobachtender Zeitgenosse und engagierter Veränderer „auf den Straßen und Plätzen der Welt“. Er deckt die Strukturen und Praktiken der Macht- und Geldeliten in der Welt auf und macht Mut für „kollektive investigative Forschung von unten – grassroots research“. Angesichts der kapitalistischen Entwicklungen sei „aus den Resten einer bürgerlichen Gesellschaft, die sich zivilgesellschaftlich zurechtgestutzt hat, … eine reale und doch von Derivaten abgeleitete Aktien-Gesellschaft geworden“. Aus der „aufgeplusterte(n ) Elitemacht, die sich zu globaler Imperialität aufschwingen wollte…, ist ein zerfallendes Feudalreich schein-souveräner Superreicher und ‚Vermögender‘ geworden“, die, nach Meinung des Autors, nur noch ein, zwei Krisen überleben könne, und das auch nur, weil es die Profiteure der Elitemacht „über Gebühr mit Boni aller Art überhäuft“. So lassen sich die in verschiedenen Zusammenhängen entstandenen Texte und Analysen als „Abgesang“ der „heutigen kapitalismusbasierten High-Tech-Refeudalisierung“ lesen, die den Blick und die Ermunterung lenkt auf „do-it-yourself Power Structure Research“[31].

Eine neue Weltordnung gegen Hass

Ob, wie und von wem die Welt geordnet ist, darüber gibt es seit Jahrtausenden Aussagen, Visionen, Ge- und Verbotsdiktate. Mit dem Begriff der (neuen) Weltordnung kommt zum Ausdruck, dass die Menschheit endlich von einer „Kultur des Krieges zu einer Kultur des Friedens“ kommen (Federico Mayor) und im Bewusstsein der Menschen eine universelle Verantwortungsethik Einzug halten müsse. Diese Forderung als Konjunktiv bedeutet ja, dass diese Hoffnung besteht, aber längst noch nicht Wirklichkeit geworden ist. Damit sind wir bei der großen Herausforderung an die Menschheit, sich gemeinsam eine allgemeingültige, nicht relativierbare Ordnung, also eine „globale Ethik“ zu geben, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 als „Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte, (die) die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“ grundgelegt ist. Der Politikwissenschaftler und Lehrstuhlinhaber für Internationale Beziehungen und Vergleichende Regierungslehre an der TU in Braunschweig, Ulrich Menzel, legt ein umfangreiches und anspruchsvolles Buch vor, mit dem er nicht mehr und nicht weniger als „die Welt erklären“ will. „Es soll darin gezeigt werden, was die Welt im Innersten zusammenhält, wer für Ordnung sorgt in der Anarchie der Staatenwelt, in der es keine übergeordnete Instanz, keinen Weltstaat gibt, der mit einem internationalen Gewaltmonopol ausgestattet ist“. Er formuliert bereits zu Beginn: „Die Ordnung in der Anarchie der Staatenwelt resultiert aus der Hierarchie der Staatenwelt“ und begründet damit den Untertitel seines Buches; und er verweist auf seine jahrzehntelangen Forschungen und (Fall-)Studien zu Fragen nach einer (neuen) Weltordnung. Nicht ohne Grund, sondern eher selbstverständlich kreisen Menzels Forschungsarbeiten um die Frage, wie Mächte, Imperien und Reiche internationale Ordnungen bestimmen und sich Zentrismen bilden konnten und können. Weil diese überwiegend nicht auf Zufälligkeiten oder natürlichen Entwicklungen beruhen, sondern von Menschen „gemacht“ sind, bedarf es bei der gesellschaftspolitischen und -historischen Analyse des hermeneutischen Blicks. Der Autor benutzt dabei die von ihm im Laufe der mehr als 30jährigen Lehr- und Forschungsarbeit entwickelte und angewandte historisch-komparative Methode, u. a. bei der Infragestellung und Aufkündigung der im politischen Diskurs üblichen Gliederung in „Erste", „Zweite“, „Dritte“ und „Vierte“ Welt, mit der Feststellung, dass die großen (Entwicklungs-)Theorien gescheitert seien. Der Vergleich der Fallstudien zu den ausgewählten Idealtypen von Imperium und Hegemonie soll die Antwort auf die Frage geben, „ob und wie die großen Mächte in der Lage waren, für internationale Ordnung zu sorgen und die Anarchie der Staatenwelt einzuhegen“. Menzel entwickelt daraus drei typologische Kombinationen, die ihm als Grundlage für seine „Theorie der internationalen Ordnung“ dienen. Seine Ausblick auf das Jahr 2035 ist sicherlich spektakulär, aber auch mit einer nicht unrealistischen Vermutung verbunden, ob „die USA ab etwa 2035 von China und womöglich China eines zukünftigen Tages von Indien als Ordnungsmacht abgelöst wird oder ob eine Rückkehr zur Anarchie der Staatenwelt eines möglichen Hegemoniekonflikts zwischen den USA und China ist“[32].

Fazit

Hass als individuelles wie globales[33] Fehlverhalten und menschengemachte Fehlentwicklung bedarf der Habacht im menschlichen Dasein.. “Ohne-mich-Standpunkte“ oder „Egal“- Positionen sind dabei fehl am Platz. Es braucht des humanen Standpunktes und der Einmischung überall da, wo Hass wirkt; nicht mit dem erhobenen pädagogischen Zeigefinger, sondern das Bewusstsein, dass grundsätzlich kein Mensch vor eigenem und fremdem Hass gefeit ist. Der persische Mystiker Dschalal ad-Din Muhammad Rumi (1207 – 1273) gibt uns dafür eine Denk- und Handlungshilfe: Vor der Vorstellung
von
recht machen
und falsch
machen
ist ein Feld.
Da will ich mich mit Dir treffen. Die afro-lateinamerikanische Lyrikerin hat in dem Gedicht „Aufruf an alle schweigenden Minderheiten“ (1989) einen weiteren Rat erteilt, wie es gelingen kann, eine bessere, friedlichere und gerechtere EINE Welt zu schaffen: He!
du dort
mach dich auf
wo immer du bist
wir müssen zusammenkommen
unter diesem Baum
der nicht mal
gepflanzt ist. Und schließlich: Anlässlich des vom Europa-Parlament in Straßburg 1991 durchgeführten Kolloquiums „Das Universelle und Europa“ hat der damalige Parlamentspräsident Enrique Barón Crespo die Frage: „Warum Universalität?“ beantwortet mit: „Zweifellos deswegen, weil jeder einzelne von uns tagtäglich die Verantwortung für die Zukunft der gesamten Menschheit trägt“[34]. Autor
Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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[1] Arbogast Schmitt, Die Moderne und Platon. Zwei Grundformen europäischer Rationalität, 2008, zur Rezension

[2] Hellmut Flashar, Aristoteles. Lehrer des Abendlandes, 2013, zur Rezension

[3] Wolfgang Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, 2012, zur Rezension

[4] Elisabeth Raether, Feuer im Kopf, in: DIE ZEIT, Nr. 33 vom 13. 8. 2015, S. 11ff

[5] Jos Schnurer, „Kein Mensch kann ein Volk hassen, von dem er mehrere Einzelmenschen zu Freunden hat“, 22.04.2014; sowie ders.: „Woher kommt das Gute?“, 11.8.2015, in: www.sozial.de/ (Schnurers Beiträge)

[6] Klaus J. Bade, Kritik und Gewalt. Sarrazin-Debatte, "Islamkritik" und Terror in der Einwanderungsgesellschaft, 2013, zur Rezension

[7] Robert Brumme, School Shootings. Soziologische Analysen, 2010, zur Rezension

[8] Jos Schnurer, Wer philosophiert – lebt!, 28.1.2014, in: zur socialnet Materialie

[9] Volker Gerhardt, Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, zur Rezension

[10] Alcira Mariam Alizade, Weibliche Sinnlichkeit, 2014, zur Rezension

[11] Lydia Maria Arantes / Elisa Rieger, Hrsg., Ethnographien der Sinne. Wahrnehmung und Methode in empirisch-kulturwissenschaftlichen Forschungen, 2014, zur Rezension

[12] Bernhard Rathmayr, Selbstzwang und Selbstverwirklichung. Bausteine zu einer historischen Anthropologie der abendländischen Menschen, 2011, zur Rezension

[13] Joachim Bauer, Schmerzgrenze. Vom Ursprung alltäglicher und globaler Gewalt, 2011, zur Rezension

[14] Anton Pelinka,  Hrsg., Vorurteile. Ursprünge, Formen, Bedeutung, 2012, zur Rezension

[15] Kurt Bayertz, Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens, 2013, zur Rezension

[16] Burkhard Bierhoff, Kritisch-Humanistische Erziehung, 2012, zur Rezension

[17] Franz Josef Wetz, Rebellion der Selbstachtung. Gegen Demütigung, 2014, zur Rezension

[18] Margarete Mitscherlich, Müssen wir hassen? Über den Konflikt zwischen innerer und äußerer Realität, München 1972, 296 S.

[19] Holger Wyrwa, Konfliktsystem Mobbing, 2012, https://www.socialnet.de/rezensionen/13511.php

[20] Peter Bieri, Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde, 2013, zur Rezension

[21] Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, 2014, zur Rezension

[22] Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, 2014, zur Rezension; sowie: Martha Nussbaum, Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angs, 2014, zur Rezension

[23] Matthias Lutz-Bachmann / Andreas Niederberger, Hrsg., Krieg und Frieden im Prozess der Globalisierung, 2009, zur Rezension; sowie: Rudolph Bauer, Hrsg., Kriege im 21. Jahrhundert. Neue Herausforderungen der Friedensbewegung, 2015, zur Rezension

[24] Markus Weingardt, Hrsg., Vertrauen in der Krise. Zugänge verschiedener Wissenschaften, 2011, zur Rezension

[25] Wilhelm Berger / Brigitte Hipfl / Kirstin Mertlitsch / Viktoria Ratkovic, Hrsg., Kulturelle Dimensionen von Konflikten, 2010, zur Rezension

[26] Andreas Heinemann-Grüder / Isabella Bauer, Hrsg., Zivile Konfliktbearbeitung. Vom Anspruch zur Wirklichkeit, 2013, zur Rezension

[27]Guido Knopp / Stefan Brauburger / Peter Arens, Der Heilige Krieg. Mohammed, die Kreuzritter und der 11. September, 2011, zur Rezension

[28] Klaus Hummel / Michail Logvinov, Hrsg., Gefährliche Nähe. Salafismus und Dschihadismus in Deutschland, 2014, zur Rezension; Kai Hafez, Freiheit, Gleichheit und Intoleranz. Der Islam in der liberalen Gesellschaft Deutschlands und Europas, 2013, zur Rezension; Katajun Amirpur, Den Islam neu denken. Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte, 2013, zur Rezension; Imad Mustafa, Der politische Islam. Zwischen Muslimbrüdern, Hamas und Hizbollah, 2013, zur Rezension;

[29] Cornelia Muth / Annette Nauerth, Hrsg., Vertrauen gegen Aggression. Das dialogische Prinzip als Mittel der Gewaltprävention, 2010, zur Rezension

[30] Jos Schnurer, Ist Geld die Quelle allen Übels – oder hat Geld immer recht?, 22. 11. 2013, zur socialnet Materialie

[31] Hans Jürgen Krysmanski, Hirten & Woelfe. Wie Geld- und Machteliten sich die Welt aneignen oder: Einladung zum Power Structure Research, 2014, zur Rezension

[32] Ulrich Menzel, Die Ordnung der Welt. Imperium oder Hegemonie in der Hierarchie der Staatenwelt, 2015, zur Rezension

[33] Jean Ziegler, Der Hass auf den Westen. Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren, 2009, zur Rezension

[34] Enrique Barón Crespo, Das Doppelgesicht Europas, in: UNESCO-Kurier7/8 1992, S. 5