Wertvolle Zeit für Gesundheit verloren?
Auf die „vergessene“ gesundheitliche Situation von geflüchteten Menschen mit Behinderung machte vor kurzem die Volljuristin Hülya Turhan aufmerksam. Die Referentin für Soziales Recht und Projekte beim Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen beleuchtet in einem Fachbeitrag im Rechtsdienst der Bundesvereinigung Lebenshilfe die besonderen Probleme. Die Redaktion von Sozial.de sprach mit ihr.
Redaktion Sozial.de: Frau Turhan, wie gut oder nicht gut sind geflüchtete Menschen mit Behinderung in Deutschland in den ersten Monaten gesundheitlich versorgt?
Hülya Turhan: Grundsätzlich haben geflüchtete Menschen in den ersten 15 Monaten in Deutschland einen sehr eingeschränkten Anspruch auf gesundheitliche Versorgung. Es besteht nur bei akuter Erkrankung ein Anspruch auf ärztliche Behandlung. (vgl. Paragraph 4 Asylbewerberleistungsgesetz - AsylbLG). Sonstige Leistungen können nur auf dem Ermessenswege gewährt werden, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich sind (vgl. Paragraph 6 AsylbLG).
Bezogen auf geflüchtete Menschen mit Behinderung, wissen wir nicht einmal, um wie viele Menschen es sich handelt, da bei der Erstaufnahme und auch bei der Verteilung auf die Bundesländer keine Datenerhebung über die Behinderungen der Menschen erfolgt.
Besondere Regelungen gelten hingegen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Sie unterliegen nicht dem AsylbLG, sondern werden von den Landesjugendämtern der ersten Anlaufstelle in Deutschland vorläufig in Obhut genommen. Das Jugendamt hat für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen zu sorgen und dabei auch die Krankenhilfe sicherzustellen. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge mit oder ohne Behinderung haben einen Anspruch auf medizinische sowie gesundheitsbezogene Leistungen im Umfang der gesetzlichen Krankenversicherung.
Redaktion Sozial.de: Völkerrechtlich sind eingeschränkte Zugangsmöglichkeiten zum Gesundheitssystem umstritten. Europaweit ist Deutschland mit den Regelungen eine Ausnahme. Was ist aus fachlicher Sicht des BVKM zu befürchten?
Hülya Turhan: Versorgungslücken können zu chronischen Krankheiten und zu weiteren Beeinträchtigungen führen, die im Nachgang nicht mehr behoben werden können.
Gerade bei Kindern und Jugendlichen ist eine schnelle Versorgung von besonderer Bedeutung, um ihre Entwicklungsphasen zu sichern und ihre Teilhabe in der Gesellschaft, Kindergarten, Schule ohne gravierende Verzögerung zu ermöglichen.
Geflüchtete Menschen haben schwerste Menschenrechtsverletzungen erlebt. Körperliche Genesung durch Behandlung und Versorgung ist die Grundvoraussetzung um ihnen den Glauben und das Vertrauen in die Zukunft und auch eine gute Integration in Deutschland zu ermöglichen.
Redaktion Sozial.de: Ist mit Veränderungen der Regelungen zu rechnen? Welche Wege gäbe es aus Ihrer Sicht?
Hülya Turhan: Änderungen wurden Ende 2015 im Rahmen des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes vorgenommen. Leider wurde dabei die besonders dringliche Umsetzung der sogenannten Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU versäumt. Die Umsetzungsfrist ist bereits zum Juli 2015 abgelaufen und es läuft ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland. Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedsstaaten, die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen wie beispielsweise „Behinderten“, „Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen“, „Personen mit psychischen Störungen“ bei der Umsetzung in die nationalen Gesetze zu berücksichtigen. Zur wirksamen Umsetzung müssen die Mitgliedstaaten beurteilen, ob der Antragsteller ein Antragsteller mit besonderen Bedürfnissen ist und welche Art diese Bedürfnisse sind. Die Mitgliedsstaaten haben den Antragstellern bei der Aufnahme alle erforderlichen medizinischen und sonstigen Hilfen zu gewähren. Die vollständige Umsetzung dieser Richtlinie in Deutschland ist maßgeblich. Dass dies bald geschieht, ist leider nicht ersichtlich.
Vielen Dank für das Gespräch. Das Interview führte Ines Nowack, Chefredakteurin von Sozial.de