Wie wird man ein Fanatiker?
Die negative Eigenschaft “Fanatismus“ wird im Synonymwörterbuch (Duden) beschrieben als: Verbohrtheit, Besessenheit, Blindgläubigkeit und Blindwütigkeit, Glaubenseifer und Verbissenheit. Im philosophischen Wörterbuch wird erklärt, dass der Begriff vom Lateinischen „famus“, Opferhaus, Tempel abstammt und „das völlige Durchdringen von einer Idee“ bestimmt ist.
Es ist der leidenschaftlich-blinde Eifer für eine Sache, der im philosophischen und psychologischen Diskurs als eine Extremform menschlichen Handelns bezeichnet wird. Ein Fanatiker betrachtet den Andersdenkenden, Andersaussehenden und Andershandelnden als Feind: „Willst du nicht meiner Meinung sein, dann schlag‘ ich dir den Schädel ein!“. Über die Entstehung und Wirkung des Fanatismus wird immer wieder nachgedacht. Und in der menschlichen Geschichte und Gegenwart gibt es zahlreiche Entwicklungen und Vorfälle, bei denen Fanatismus zu unmenschlichen und verbrecherischen Taten führen. Immer wieder auch werden Ideen diskutiert, Konzepte, Modelle und Exempel entwickelt, wie der „Furie der Zerstörung“ entgegengewirkt werden kann: Gegen Fanatismus hilft nur Aufklärung!
Der französische Philosoph Christophe Bouton zeigt auf, wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) diese unversöhnliche Gegnerschaft, ebenso wie Immanuel Kant (1724 – 1804), gliedert in religiöses, psychisch-krankhaftes und politisches Denken: „Die lebenverachtende Schwärmerei kann sehr leicht in Fanatismus übergehen; denn um sich in ihrer Beziehungslosigkeit zu erhalten, muss sie dasjenige, von dem sie zerstört wird und das, sei es auch das Reinste, für sie unrein ist, zerstören, seinen Inhalt, oft die schönsten Beziehungen verletzen“ - was bedeute, dass sich der Fanatismus nicht damit begnüge, die Grenzen der Vernunft zu überschreiten, sondern auch die Welt zu reinigen, indem er alles zerstöre, was ihm aufgrund seiner eigenen abstrakten, leeren Reinheit an ihr unrein erscheine, und alles auslöschen wolle, was diese Reinheit zu beflecken drohe. Daraus entstehen Misstrauen gegenüber dem Leben, Hass gegen Gesetz und Staat, Leugnung von Wahrheiten und Wirklichkeiten[i].
Déjà vu?
Die vor mehr als 200 Jahren diskutierten, aufklärerischen Überlegungen klingen, als seien sie heute gedacht und für jetzt gemacht! Denn Fanatismen in den vielfältigen Formen des fundamentalistischen, extremistischen, ego-, ethnozentristischen, rassistischen und populistischen Denkens und Handelns sind unter uns, lokal und global! Und sie richten Schaden an[ii]. Dort nämlich, wo Fakten und Argumente nicht zählen, wo Toleranz fehlt und Unvernunft herrscht, regieren Aggression und Gewalt. Und es müssen Fake News herhalten, um das selbst definierte und beanspruchte Recht durchsetzen zu können. Es sind die zahlreichen Beispiele, wie sie sich in der Vergangenheit als nationalistische und faschistische Macht ereignet haben, und wie sie weiterhin in mehreren Ländern auf der Erde praktiziert werden[iii], die Bildung und Aufklärung notwendig machen[iv].
Sozial und intellektuell klug handeln
Ein soziales Feld scharfsinnig beobachten und kommunikativ erschließen. Ist das nicht die Zielsetzung, Erwartungshaltung, Absicht und Wunsch eines jeden, der sich aufmacht, Wissen und Lebenstüchtigkeit zu erwerben und weiter zu geben? Wir landen erst einmal bei dem römisch-aquinischen Begriff „prudentia“, und der antiken aristotelischen Bezeichnung phrónesis (φρόνησις), die als Klugheit und vernunftgemäßes Denken und Handeln verstanden wird. Mit dem Begriff „Sozioprudenz“ wird im soziologischen, sozialwissenschaftlichen Diskurs die Fähigkeit zum sozialen klugen Handeln bezeichnet. Wir sind bei der vornehmsten, bildungspolitischen Aufgabe und Herausforderung, uns und den Mitmenschen zu ermöglichen, „soziale Wirklichkeiten kommunizierend und handelnd (zu) erschließen“. Es sind die gleichen Paradigmen, wie sie uns mit dem Kantischen Sapere aude – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen – vermittelt werden, und in philosophischen, psychologischen, pädagogischen und soziologischen Theorien bereit liegen.
Es sind die verschiedenen Handlungsaspekte und -motive, die in den unterschiedlichen Wirkungen und Fakten deutlich werden und in den Verbildungen von Zweckrationalität und Klugheit zum sozioprudenten Verhalten zusammenwachsen: „Klugheit ist mehr als Rationalität. Sie schließt die Überlegung ein, wann es klug ist, auf Rationalität zu verzichten“ – oder sie zu relativieren. So ergeben sich bereits drei Anregungen für sozioprudentes Denken und Handeln: „Überschaue, was du nicht planen kannst: die Folgen deines Handelns. Vertraue deiner Erfahrung, verantworte deine Handlungen!“ - Ziel deines Handelns ist neben dem äußeren Erfolg auch das innere Ergebnis. Du übersiehst dich nicht, dein Handeln lässt sich nicht abschließen!“ - „Halte Maß. Bleib nicht auf ebenem Feld! Steig nicht zu hoch hinaus!“. Die Suche nach dem Gral, nach dem Ideal, nach der zufriedenstellenden Lösung bei Problemsituationen erfordert Charaktereigenschaften, die der Mensch, nicht selten in mühsamen Trial- und Error-Prozessen, erwerben muss. Es sind die Kompetenzen: Wissen – Besonnenheit – Taktgefühl – Anerkennung – Kompromissfähigkeit.
Beim sozioprudenten Umgang mit Fanatikern kommt es darauf an, Ausschau nach Positions-, Perspektiven- und Rollenwechsel zu halten. Es sind Anhaltspunkte, die nach moralischen Integritäten verlangen. Es ist eine „Klugheitsethik“ gefordert, die den individuellen Blick weitet hin zum Anderen: „Wie beurteilen andere die Handlung und welchen Werten folgen sie dabei?“ – „Welche Handlungsfolgen könnten meine gegenwärtige Bewertung verändern, auch, indem sich meine Wertigkeit verschiebt?“ – „Welche zusätzlichen Sphären der Bewertung gibt es, die zu anderen hinzukommen, sie überlagern, ohne sie zu ersetzen?“[v].
Fazit
Die individuelle und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Fanatikern ist notwendig, weil Fanatismus zerstört! Jeder ist dabei an seinem Platz, in jeder Lebenssituation und mit den jeweiligen Möglichkeiten gefordert.
[i] Christoph Bouton, Die Furie der Zerstörung. Hegel und das Phänomen des Fanatismus, in: Sinn und Form, 4/2007, S. 437ff; siehe auch: Oskar Negt, Politische Philosophie des Gemeinsinns, Bd. 2: Moral und Gesellschaft – Immanuel Kant, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27114.php
[ii] Julius Nida-Rümelin, Die gefährdete Rationalität der Demokratie, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/26507.php
[iii] Die unerträglichen Vorkommnisse, wie sie aktuell bei den politischen Auseinandersetzungen in den USA auftreten, sind nur ein Beispiel für menschen- und demokratiefeindliches Denken und Handeln
[iv] Jos Schnurer, Die Menschen motivieren, dass sie aufgeklärt und gebildet sein wollen, in: Pädagogische Rundschau, 3/2018, S. 363ff
[v] Clemens Albrecht, Sozioprudenz. Sozial klug handeln, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/27512.php