Willst du ewig leben?
Kritik am Kapitalismus und seine Verteidiger – Eine Literaturschau von Dr. Jos Schnurer
Ich will mit diesem Beitrag nicht ansetzen bei den historischen Auseinandersetzungen, wie sie sich etwa im Marxismus-Leninismus darstellen und im dialektischen Materialismus als Kritik an den gewordenen Verhältnissen von Unterdrückung und Ausbeutung entwickelt haben und mit dem Slogan „Proletarier (Unterdrückte) aller Länder, vereinigt euch!“ die Welt verändert hat [1]. Ich will auch nicht eingehen auf den Entwurf für eine „Verfassung des sozialistischen Staates deutscher Nation“, der bei der 7. Tagung der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik den Bürgern der DDR vorgelegt wurde und in dem die Erwartung ausgesprochen wird, dass diese „Verfassung die demokratischste sein (wird), die es jemals in Deutschland gab“, mit der Aufforderung, „an der großen Volksaussprache ... teilzunehmen und Ihre Meinung und Ihre Gedanken der Kommission der Volkskammer mitzuteilen“ [2] . Es geht mir vielmehr darum, den immer intensiver sich vollziehenden Diskussionsprozess darzustellen, der sich seit den kürzlichen und derzeitigen Weltwirtschafts- und –finanzkrisen in den intellektuellen Zirkeln, im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs entwickelt hat. Die Schlüsselbegriffe dabei lassen sich identifizieren mit den Spannweiten: Wachstum versus Nachhaltigkeit; Ausbeutung versus Gleichheit; Gier versus Gerechtigkeit; Egoismus versus Solidarität.
Volkswirtschaftliches Denken
Der politische und wissenschaftliche Querdenker unserer Zeit, Peter Glotz, hat einmal das Bonmot benutzt: „Volkswirtschaften sind keine Automaten, bei denen man oben nur Geld hineinwerfen muss, damit unten Wachstum heraus kommt“. Der Mensch ist ein zôon politikon, ein politisches Lebewesen, das wusste schon der griechische Philosoph Aristoteles, und die dikaiosynê, die Gerechtigkeit, ist eine menschliche Tugend um ihrer selbst willen, weil eben der Mensch vernunftbegabt ist. Soweit wäre das also gut, auch in dem Sinne, dass der Mensch, wiederum nach Aristoteles, von Natur aus danach strebt, ein „gutes Leben“ zu führen - und denken kann. In den Zeiten der globalen und lokalen Kapital- und Wirtschaftskrisen werden die Stimmen lauter, die den Einzelnen in der Gesellschaft auffordern, sich nicht mehr (ausschließlich) auf Experten- und Marktmeinungen zu verlassen, sondern danach zu streben, die Zusammenhänge zwischen ökonomischen und politischen Fragestellungen und Problemen zu erkennen. Der Didaktiker für Sozialwissenschaften und Wirtschaftssoziologie an der Universität Bielefeld, Reinhold Hedtke, macht sich an das sicherlich nicht leichte Geschäft, eine Einführung in ökonomisches Denken und ökonomische Konzepte verständlich zu schreiben. Damit möchte er zu einem Perspektivenwechsel beitragen, indem er „ eine multiperspektivische Sichtweise auf wirtschaftliche Phänomene … (vornimmt), alternative ökonomische Erklärungsansätze vor(stellt) und zeigt, wie die jeweilige Sicht auf die ökonomischen Dinge diese in einem jeweils anderen Licht erscheinen lassen“; nach der bekannten, jedoch gerade bei ökonomischen Fragestellungen raren Anwendung: „Das Denken verändert die Dinge“ [3] . Der ehemalige Lehrstuhlinhaber für Allgemeine Wirtschaftslehre und ihre Didaktik an der Universität Hildesheim, Gerhard Kolb weist darauf hin, dass „wer wirtschaftliche und politische Diskussionen wirklich verstehen will und schon gar, wer sich als von der Wirtschaftspolitik Betroffener selbst in solche Diskussionen einbringen will..., sich einen Überblick über die unterschiedlichen Positionen des ökonomischen Denkens zu verschaffen“ muss [4] . Der an der Freien Universität Berlin moderne politische Theorie lehrende Bernd Ladwig legt eine „andere“ Einführung in Politische Wissenschaft vor. Er wendet sich dabei an Studienanfänger und alle diejenigen, die sich bewusst sind, dass sich „Politische Theorie ... nicht aus Lehrbüchern studieren (lässt); sie können nur zu ihr hinführen“. Der Autor will damit auch keine Geschichte der Politischen Theorien schreiben, sondern macht deutlich, dass für ihn moderne politische Theorie ( ) politische Theorie für und über moderne Gesellschaften (ist)“. Er legt die Begriffe „Politik“ und „politisch“ weit, also alltags- und staatstauglich aus, indem er darauf hinweist, dass der moderne Mensch ein Bedürfnis nach Selbstbestimmung hat und sich in eine gesellschaftliche und soziale Ordnung einfügen möchte, die sich als Gemeinschaft darstellt. Die verschiedenen Auffassungen, von der Antike bis zu den „Kritischen Theorien“, den Foucaultschen poststrukturalistischen Analysen, bis hin zu den liberalen Theorien etwa von John Rawls Gerechtigkeitstheorie und dem kommunitaristischen Denken, geben einen guten Überblick über die Frage, was ein gerechtes Gemeinwesen ist und sein kann [5] . „Ich bin im Sozialhilfesystem aufgewachsen und konnte ihm schließlich dank meiner eigenen Fähigkeiten entkommen“, so begründet der in einer ethnisch gemischten Enklave in Chicago aufgewachsene Sozialwissenschaftler und Philosoph Richard Sennet seine Überzeugung, dass der Respekt es ist, der, wenn er in einer lebendigen Demokratie vorhanden ist, Autonomie, Mut im Alltag und Zivilcourage ermöglicht; wenn er fehlt, Abhängigkeiten und Ausbeutung schafft [6].
Digitaler Kapitalismus
Wie kann soziale Gerechtigkeit verwirklicht werden, angesichts der Veränderungen, die sich national und global im letzten Jahrzehnt vollzogen haben und die sich darin zeigen, dass sich innerhalb der Gesellschaften, vor allem in den Industrieländern, eine Verschiebung im Alterungsprozess ergibt, mit den entsprechenden Folgen für Renten-, Krankenversicherung und wirtschaftliches Einkommen; die sich weiterhin darstellen in der Notwendigkeit zum Umdenken bei den Arbeitsprozessen und der Illusionen, dass in den Volkswirtschaften so etwas wie Vollbeschäftigung für alle arbeitsfähigen Menschen gewährleistet werden könne; und schließlich in den allumfassenden und überall wirksamen Einflüssen, die davon ausgehen, dass die Welt sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelt. Hier jedoch beginnt der Streit über die richtigen Wege. Auf der einen Seite sind das die so genannten Markttraditionalisten und Neoliberalisten, die gerne auch als „Propheten des globalen Kapitalismus“ bezeichnet werden; sie propagieren weiterhin wirtschaftliches Wachstum und die Auffassung, dass erfolgreich nur derjenige sein könne, der sein Leben und Handeln ganz der ökonomischen Rationalität unterwerfe und sich selbst zu einem Funktionselement des Marktes mache, wie dies z. B. in der erst kürzlich die CDU in ihr Grundsatzprogramm geschrieben hat: „Ohne Wachstum ist alles nichts“. Auf der anderen Seite sind es die Kritiker am Kapitalismus, wie etwa der Politologe und Schriftsteller, Johano Strasser, der mit seiner Frage „Was ist der Wert des Menschen?“ danach fragt, was ein „gutes“ und „erfülltes“, humanes Leben der Menschen ausmache. Es sei jedenfalls nicht „die Zurichtung des Menschen zu einem Element des Marktes“; Freiheit und Individualität der Person dürfe nicht als reine Privatsache angesehen. Es gehe vielmehr darum, Wohlstand für alle dadurch schaffen, dass wir Energie, Ressourcen und Stoffe effizienter nutzen und die Lebensqualität der Menschen dadurch erhöhen, dass wir nicht nach mehr Gütern und Dienstleistungen pro Kopf der Bevölkerung streben, sondern nach vermehrten Chancen für eine selbstbestimmte Praxis und frei verfügbare Lebenszeit. Es geht um die Wiederentdeckung und Erhaltung der lokalen und globalen Almende, das, was heute als Sustainability, als Kompetenz für ein nachhaltiges Denken und Handeln, bezeichnet wird [7] . Der Kasseler Sozial- und Psychogeograph Peter Jüngst macht in seinem Buch mit dem bezeichnenden Titel „Raubtierkapitalismus“ die „Gier als bestimmendes Prinzip in der Phase der flexiblen Kapitalakkumulation“ aus. Durch die postfordistische Entwicklung veränderten sich die Produktionsvorgänge und der Faktor „Arbeit“ in rasanter Weise. Dies führe zu Deregulierungen in den Bereichen der Produktionsstandorte und vor allem zum Abbau von rechtlichen und vertraglichen Regelungen auf dem Arbeitsmarkt. Das vom amerikanischen Volkswirtschaftler Alfred Rappaport erfundene Prinzip des Shareholder Value sagt nicht mehr und nicht weniger, als dass der Kurswert eines Produkts, in Aktien gemessen, das Maß aller wirtschaftlichen Dinge darstellt. Gelingt es also einem Management, den Marktwert einer bestimmten Ware auf dem globalen Aktienmarkt so zu platzieren, dass die Aktion von vielen Menschen mit der Erwartung und dem Versprechen auf hohen Gewinn erworben werden, steigt der Aktionärswert, wie Shareholder Value wörtlich übersetzt wird; nicht selten höher als es dem tatsächlichen Wert der Ware entspricht. Die Folge: Hohe Gewinne von spekulierenden Anlegern und große Verluste von Aktienkäufern. Ein bekanntes Beispiel: Oma Bräsig plündert ihr Sparbuch und kauft fleißig Aktien der Interklopp-AG, die Tennisbälle über das Internet vertreibt. Die Kurse schießen in unglaubliche Höhen, die keinerlei Bezug mehr zu Wert und Ertragslage des Unternehmens haben. Wenig später geht es mit den Kursen bergab. Oma Bräsigs Aktienvermögen ist futsch. Aber immerhin: Viele Profis haben viel Geld verdient [8] .
Sind die Deutschen reformresistent?
Die Klagen und Verwunderungen darüber, dass die Menschen in Deutschland mit ihrer gesellschaftlichen Situation unzufrieden sind, dass sie das sprichwörtliche „halb leere Glas“ dem halb vollem vorziehen, dass die Stimmung insgesamt mies ist, dass die von der Politik und den gesellschaftlichen Kräften in Gang gebrachten Reformen an den tatsächlichen Bedürfnissen und Erwartungen der Bürger vorbei gehen, dass den einen die Reformen zu schnell und den anderen zu langsam gehen – und dass schließlich sich daraus egoistische Einstellungen ergeben, die letztendlich münden in eine undifferenzierte Ohne-Mich-Haltung und Politikverdrossenheit, bis hin zur Suche nach allzu einfachen und nicht zuletzt antidemokratischen, rechtsradikalen, rassistischen und nationalistischen Lösungen, bestimmen immer öfter den gesellschaftlichen Diskurs. Im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung hat der am Otto-Stammer-Zentrum für Empirische Politische Soziologie der FU Berlin lehrende Gero Neugebauer eine Forschungsarbeit zu der Frage danach durchgeführt, welche dominanten Faktoren die oben beschriebene Stimmung in der deutschen Gesellschaft bestimmen. Die Untersuchung „geht der Frage nach, wie es um die Einstellungen der Bürger zu den Reformen bestimmt ist, worauf die Politik bei der Konzipierung von Reformvorhaben mit Blick auf die Erwartungen der Bürger achten sollte und wie sie Unterstützung für ihre Vorhaben erreichen kann“. Es geht also dabei um, wie notwendige Reformen im gesellschaftlichen Diskurs kommuniziert werden sollten, damit die Menschen im Land sie nicht nur verstehen und akzeptieren, sondern auch aktiv mitgestalten können und wollen. In der Analyse, die den tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandlungsprozess in der deutschen Gesellschaft betrachtet, wird erst einmal ein erstaunliches und auf den ersten Blick widersprüchliches Phänomen erkennbar: Während der Forscher auf der einen Seite eine breite gesellschaftliche Grundstimmung registriert, die sich in einer allgemein verbreiteten Verunsicherung und in Zukunftsängsten ausdrückt, liest er aus den Befunden andererseits heraus, dass „die Deutschen sich zugleich überwiegend als Gewinner der gesellschaftlichen Entwicklung betrachten“. Um diese Problematik in den Zusammenhang der Forschungsfrage stellen zu können, benutzt Neugebauer die vom Heidelberger Sinus-Institut seit 1979 durchgeführten Erkenntnisse zur Lebensweltforschung. Die mittlerweile weitgehend akzeptierten Ergebnisse zur Gliederung der deutschen (und der westeuropäischen) Gesellschaft(en) in soziale Milieus sehen dabei, abgehend von der traditionellen Schichteneinteilung, insgesamt zehn soziale Milieus vor: Mit den „Etablierten“ (10 %) und den „Konservativen“ (5) im oberen sozialen Lager, der „Bürgerlichen Mitte“ (15), de „Postmateriellen“ (10), den „Modernen Reformern“ (10), den „Traditionsverwurzelten“ (14), den „DDR-Nostalgischen“ (5) und den „Experimentalisten“ (8) im mittleren sozialen Lager und den „Konsummaterialisten“ (12) und „Hedonisten“ (11), freilich im Übergang der „Schichten“ fließend. Unter diesem Fokus filtert Neugebauer neun Milieus in der deutschen Gesellschaft heraus: Leistungsindividualisten (11 %) – Etablierte Leistungsträger (15) – Kritische Bildungseliten (9) – Engagiertes Bürgertum (10), zum oberen Bevölkerungsdrittel gehörend – Zufriedene Aufsteiger (13) – Bedrohte Arbeitnehmermitte (16), zum mittleren Drittel gezählt – Selbstgenügsame Traditionalisten (11)– Autoritätsorientierte Geringqualifizierte (7) – Abgehängtes Prekariat (8), die dem unteren Drittel zugeordnet werden. Die auf dieser Grundlage basierenden Repräsentativbefragungen ergeben ein beunruhigendes Bild des sozialen und wertebezogenen Zustandes der Gesellschaft: 63 Prozent der Menschen haben Angst vor gesellschaftlichen Veränderungen; 52 Prozent bezeichnen sich als orientierungslos; 46 Prozent empfinden ihr alltägliches Leben als einen ständigen Kampf; 44 Prozent fühlen sich vom Staat allein gelassen; 15 Prozent sind generell verunsichert und 14 Prozent meinen, dass sie ins Abseits geschoben sind. Aus dieser Grundstimmung einer allgemeinen gesellschaftlichen Verunsicherung heraus, sind 71 Prozent der Auffassung, dass unsere Gesellschaft immer weiter auseinanderdriftet, mit dem Empfinden, dass die sowieso schon Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden; 61 Prozent stimmen der Aussage zu, dass es in der Gesellschaft keine Mitte mehr gibt, sondern nur noch ein Oben und ein Unten [9] ; und mehr als die Hälfte beklagen, dass die Ellenbogenmentalität“ in der Gesellschaft zunimmt. Dem entspricht auch die steigende Politikverdrossenheit, die sich nicht zuletzt an der abnehmenden Wahlbereitschaft der Bürger ausdrückt. Dieses Zurückziehen auf die Privatsphäre und das Messen der sozialen und wirtschaftlichen Situation an den eigenen, durchaus egoistischen, aber gleichzeitig auch materiell existentiellen Bedingungen des täglichen Lebens wird auch deutlich, betrachtet man die Aussagen der Menschen zu ihren sozialen Beziehungssystemen. Danach sind 89 Prozent der Befragten mit ihrem Freundes- und Bekanntenkreis zufrieden; 87 Prozent sind es mit ihrer familiären Situation; 86 Prozent mit ihrem Wohnbereich; 78 Prozent geben an, dass sie gute Freunde haben, an die sie sich mit ihren Sorgen wenden können; ebenfalls 78 Prozent schätzen sich ein, dass sie flexibel genug sind, um sich auf schwierige Situationen einzustellen; 41 Prozent meinen, sich darauf verlassen zu können, im Alter von Kindern oder Verwandten gepflegt zu werden; und 39 Prozent schöpfen Kraft und Orientierung aus ihrem Glauben an Gott. Besonders die zum Prekariat gehörenden Menschen mit einem überwiegend niedrigen gesellschaftlichen Status, einem hohen Arbeitslosenanteil, niedriger Schulbildung und vom gesellschaftlichen Abstieg bedroht oder bereits vollzogen, drücken ihre Erwartungen zu Fragen der Sozialen Gerechtigkeit und zur eigenen Lebensbewältigung in hohem Maße durch Demokratiedistanz oder gar –feindlichkeit aus und sehen den Staat in der Pflicht, eine soziale Absicherung der Bürger zu garantieren. Gleichzeitig sind sie es, deren Einstellungen von ethnozentrierten Phantasien bestimmt sind: 79 Prozent der Befragten aus dieser Gruppe stimmen der Auffassung zu, dass der Staat den Zuzug von Ausländern unterbinden solle, damit diese den Deutschen nicht die Arbeit wegnähmen [10] . Eine Reihe von weiteren Analysen zur Frage nach den Ursachen dieser gemeinschaftsschädigenden Entwicklung liegen dazu vor; etwa, wenn sich Ulrich Beck, der mit seinem 1986 erschienenem Buch „Risikogesellschaft“ den Weg in eine andere Moderne aufgezeigt hat und mit seiner 2007 erschienenen Analyse, dass wir in einer „Weltrisikogesellschaft“ leben, die eine neue, historische Schlüssellogik für eine globale Verantwortungsethik verlangt [11] undüber eine „Entgrenzung sozialer Ungleichheit“ nachdenken sollten. Der Skandal der Ungleichheit in der Welt zeige sich in der Form eines Champagnerglases: „Auf die 900 Millionen Menschen, privilegiert durch die Gnade der westlichen Geburt, entfallen 86 Prozent des Weltkonsums, sie verbrauchen 58 Prozent der Weltenergie und verfügen über 79 Prozent des Welteinkommens … Auf das ärmste Fünftel, 1,2 Milliarden der Weltbevölkerung, entfallen 1,3 Prozent des globalen Konsums, 4 Prozent der Energie …“. Beck fragt: Wieso lassen sich die Mehrheiten der Weltbevölkerung diese Ungerechtigkeiten gefallen? [12].
Das Ende der Gewissheiten
In der sich immer interdependenter, entgrenzender (und ungerechter?) sich entwickelnden Welt, die wir nur allzu gerne und hoffungsvoll EINE WELT nennen, gehen die traditionellen Gewissheiten verloren; und es wird ein Perspektivenwechsel gefordert, der sich z. B. in der Aufforderung verdeutlicht, die von der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 an die Menschen herangetragen wurde: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“ [13]. Der Göttinger Politikwissenschaftler und politische Kommentator (u. a. für die SZ, FAZ, ZEIT und Spiegel), Franz Walter, unternimmt den Versuch, die „deutschen Lebenswelten 2008“ zu analysieren. Dabei betont er, dass es sich hierbei nicht um eine (bestellte) wissenschaftliche Bestandsaufnahme handelt, sondern um eine „Exkursion“, an der viele Mitdiskutanten, vor allem aus der Göttinger „Arbeitsgruppe Parteien- und Politische Kulturforschung“, beteiligt waren. Exkursionen haben es meist an sich, dass Zielsetzung und Gestaltungsverlauf sich nicht exakt vorausplanen lassen; vor allem aber auch nicht auf ausgetretenen Pfaden verlaufen. Damit aber ergeben sich interessante Ein- und Ausblicke, überraschende Stopps und bisher kaum im Mainstream gehandelte Positionen; etwa die Erkenntnis, dass die bundesrepublikanische Gesellschaft sich nicht nur in zahlreiche Parallelgesellschaften aufgespalten hat, sondern einen gravierenden sozialen Spaltungsprozess unterliegt. Den segregierten Unterschichtengruppen stehen die Aufsteiger gegenüber. Die so genannte „Mitte“ der Gesellschaft lässt sich freilich nicht mehr graphisch ermitteln. Obwohl alle dazu gehören wollen, verlaufen die nicht immer sichtbaren Barrieren heute nicht nach dem traditionellen Schema einer Pyramide; auch die Zwiebel ist längst ad acta gelegt. Die Entwicklungen vollziehen sich „volatil“, fließend, flüchtig, veränderlich und kaum in Strukturen fassbar. [14]. „Was sich die Herrschenden zu leisten wagen (dürfen), kann in modernen Demokratien nicht ohne eine Art billigende Mitwirkung der Beherrschten" geschehen, so eine Feststellung von einem, der Zeit seines beruflichen Lebens als Volkswirtschaftler und politischer Ökonom an der RWTH in Aachen den Zustand unserer heutigen Welt analysiert und feststellt, dass wohlfahrtsstaatliche Politik zurückgeht und Kapitalismus und Neoliberalismus voranschreiten: Karl Georg Zinn. Das zeigt sich nicht nur in Politik- und Parteienverdrossenheit, in Egoismus und einem „Ohne-mich-Denken“, sondern auch in Einstellungen, die jeder demokratischen und selbstbestimmten Erwartung zuwiderlaufen. In einer in Leipzig durchgeführten repräsentativen Umfrage bei Jugendlichen kommt heraus, dass sich jeder vierte Befragte eine einzige Partei in unserem Land wünsche, die die "Volksgemeinschaft" vertrete; und jeder Fünfte möchte sogar an der Spitze des Landes einen Führer haben, der "Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert". Weil sich das traditionelle Fundament der gesellschaftlichen Entwicklung, Arbeit, verändert hat und die Illusion einer „Vollbeschäftigung“ Geschichte ist und „Ausbeutung zur Arbeitslosigkeit“ auch kein wünschenswerter Weg sein kann, sieht Zinn nur die Möglichkeit, als eine Neuverteilung der Arbeit vorzunehmen. In der illusionären und teilweise bereits verwirklichten Politik der Arbeitszeitverlängerung nichts anderes als ein von "Ignoranz, Dummheit und verantwortungslose(r) Kurzsichtigkeit" bestimmtes politisches Denken und Handeln. Im zweiten Kapitel kommt Zinn zwangsläufig zu dem Fetisch, der seit Jahrhunderten die Ökonomie in den reichen Volkswirtschaften antreibt - und im Zeichen der Globalisierung sogar die marginalisierten. Um das Paradoxon des kapitalistischen Wohlstands, der Wachstumsideologie, zu überwinden, gebe es nur die eine Chance, nämlich Wachstumsverzicht [15].
Die Kinder des Sisyfos
Über die Bemühungen in Deutschland, die überkommenen Zustände und Gewohnheiten, die Machtverhältnisse und verfestigten gesellschaftlichen Strukturen zu verändern, gibt es zahlreiche Analysen und Erzählungen. Es sind zustimmende und kritische Stimmen zu den evolutionären und revolutionären Initiativen der letzten Jahrzehnte. Der Schriftsteller Erasmus Schöfer hat in einer bisher einmaligen Weise die Aufbruchstimmungen, Irrungen und Wirrungen, Ideologien und Ergebnisse der Bemühungen um eine gesellschaftliche Weiterentwicklung in vier umfangreichen Bänden geschildert und sich und seine Erfahrungen aus den „Zeiten des Aufbruchs“ dabei eingebracht. Das Literatur- und Geschichtswerk wird gegliedert in die gleichzeitig programmatischen Titel „Ein Frühling irrer Hoffnung“ (Bd. 1), „Zwielicht (2), „Sonnenflucht“ (3) und „Winterdämmerung“ (4), und es lässt sich lesen und verstehen als eine eindringliche Erzählung über eine Zeit, in der Menschen wirklich daran geglaubt haben, eine andere Wirklichkeit schaffen zu können, eine Wirklichkeit, die gemischt ist mit der Utopie der Menschlichkeit, der Hoffnung auf Gerechtigkeit und dem Willen, humanere Gesellschaften zu erkämpfen. Diese utopische Hoffnung gilt auch heute noch [16].
Das Ende des Kapitalismus und sein Weiterbestand
„Wenn aber die Globalisierung mehr Menschen in den Zustand oder die Stimmung versetzt, sich machtlos zu fühlen, dann muss in einer Demokratie reagiert werden“, so formuliert die Enquete Kommission des Deutschen Bundestages in ihrem Schlussbericht „Globalisierung der Weltwirtschaft – Herausforderungen und Antworten“ (12.6.2002) die Konsequenz, die sich aus der vielschichtigen, weltwirtschaftlichen Entwicklung für die Individuen und Völker, für das alltägliche Versorgen wie für die globale Verteilung der Güter und Ressourcen der Erde, für den regionalen wie den Welthandel, und nicht zuletzt für die durch die Globalisierungstendenzen und die sich daraus ergebende Machtverschiebung faktisch vorhandenen Ungerechtigkeiten ergeben. Die Kritik an der „Globalisierung des Profits“, wie dies in der Widerstandsbewegung von Attac zum Ausdruck kommt, ist Kennzeichen der Bemühungen, über Alternativen zu einer Perspektive nachzudenken, die mit dem Slogan charakterisiert wird: „Eine andere Welt ist möglich“. Wenn in dieser Welt die 84 reichsten Personen über ein Vermögen verfügen, das über dem Bruttoinlandsprodukt Chinas liegt, einem Land mit 1,3 Milliarden Menschen, dann muss danach gefragt werden, wie der neoliberalen Entwicklung Grenzen gesetzt werden können. Der an der FU-Berlin lehrende Politikwissenschaftler Elmar Altvater (geb. 1938) gilt seit den 70er Jahren als ein engagierter Streiter in den Denk- und Handlungsfeldern der Politischen Ökonomie, der Entwicklungstheorie und der Kapitalismuskritik. Mit seinen analytischen Hinweisen auf „Ökonomie und Ökologie des globalen Fordismus“ (Handbuch der Ditten Welt, 1993) hat er auf die „neue Welt(un)ordnung“ hingewiesen. In seinem mit Birgit Mahnkopf 1996, mittlerweile 2004 in 5. Auflage vorgelegtem Buch „Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft“ zeigt er deutlich die ungerechten und inhumanen Auswirkungen einer ungehemmten, neoliberalen Entwicklung auf freilich nicht, ohne dabei die „Kritik an der Globalisierungskritik“ auf den Plan zu rufen, wie dies etwa in dem von Markus Balser und Michael Bauchmüller in ihrem Buch „10 Irrtümer der Globalisierungsgegner“ erfolgt: „Die Globalisierung bereichert unser Leben, sie mischt Kulturen, Ideologien und Moden... Die Globalisierung ... kann das Tor zu einer offenen, freien, wohlhabenderen und demokratischen Welt sein“ (S. 230). Altvater fokussiert die Kritik an der offensichtlich weltweit verbreiteten Akzeptanz, dass „Sankt Kapitalismus ein Weltsegen“ sei. Obwohl sich die „Grenzen des Kapitalismus“ allenthalben zeigen, etwa in der Tatsache, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden, der immer deutlicher werdenden Knappheit der fossilen Energieträger und der (allzu) langsam wachsenden Erkenntnis, dass die natürlichen Ressourcen, die für ein kapitalistisches Wachstum als notwendig erachtet werden, endlich sind. Dabei weist er auf die bekannten, aber im gesellschaftlichen Diskurs wenig präsenten inneren Widersprüche in der Kapitalismusentwicklung hin, deckt die Bruchlinien im „Shareholder-Kapitalismus“ auf und diskutiert, durchaus optimistisch, Alternativen für eine „andere Welt“, die „mit der Praxis sozialer Bewegungen im Innern des Kapitalismus gegen die Mächte des status quo“ heran wachsen [17]. Es ist immer die Machtfrage, die gesellschaftliche und politische Hegemonien bestimmen – oder nicht? Der irische Politikwissenschaftler John Holloway, der an der Universidad Autónoma de Puebla in Mexiko lehrt, ist davon überzeugt, dass die Welt verändert werden könne, ohne die Macht zu übernehmen [18] und dass es möglich sei, den Kapitalismus aufzubrechen [19]; und zwar nicht nur als utopische Denke, sondern als denk- und machbare Utopie, wie dies sich etwa im lateinamerikanischen Zapatismus darstelle [20] Mit der Frage – „Wer wird die Erde erben? – appelliert der Erlanger Historiker Michael Stürmer sowohl an Lebenskunst des Einzelnen, als auch an die Staatskunst der Regierenden. Von der Bildung eines gemeinsamen Hauses Europa bis hin zum Eine-Welt-Gebäude ist ein weiter Weg [21]. „Das politische Machen ist auf Anregungen durch das Denken angewiesen“, diese Binsenwahrheit und eigentliche Selbstverständlichkeit gerät nicht selten unter die Räder des Machens, des Pragmatismus, der Widerstände und Verzagtheiten der alltäglichen Politik wie in den Perspektiven, Entwürfen und Visionen der Regierungs- und Machtausübung. Die uralte Frage nach dem guten Leben für alle Menschen auf unserer Einen Erde wird mit den Weltanschauungen und Ideologien der Mächtigen und Wohlhabenden beantwortet, gestern und heute! Politische Kommunikation, schon immer ein Merkmal, das Menschen ausmacht, gewinnt heute, in den Zeiten der Globalisierung, eine immer größere und unverzichtbare Bedeutung; und zwar nicht nur für Politiker, die kraft Amtes und Funktion politisches Handeln transportieren, sondern für jeden Menschen auf der Erde. Der studierte Wirtschaftswissenschaftler, Philosoph und Jurist Christoph Zöpel, legt zu seinem 65. Geburtstag ein gewichtiges Buch vor, in dem er seine Erfahrungen in der Regierungs- und Parteiarbeit reflektiert; als Vorsitzender des Komitees für Wirtschaft, Soziale Kohäsion und Umwelt der Sozialistischen Internationale (SI), als Mitglied des SPD-Parteivorstandes, Landtags- und Bundestagsabgeordneter, Staatsminister im Auswärtigen Amt und als Publizist [22]. Es gibt einen „guten Kapitalismus“ und er lässt sich normativ, qualitativ und demokratisch begründen, so in dem Buch mit dem für Kritiker des Kapitalismus aufreizenden Buches „Der gute Kapitalismus. Freilich sind auch die Autoren nicht der Auffassung, man könne so weitermachen wie bisher, sondern sie wollen die bisherige Ideologie - „Der Markt ist ein Meister, über dem nichts geht“ – austauschen gegen die: „Der Markt ist ein guter Knecht, aber ein schlechter Meister“. Das heißt, dass die guten Kräfte des Marktes über die schlechten siegen müssen. Und es bedeutet, dass den bisherigen praktizierten Konzepten einer neoliberalen Globalisierungspolitik Alternativen entgegengesetzt werden sollten [23].
Utopien und Wirklichkeiten
Soll man das Utopische als paradoxe Mischung aus Ideal und Illusion, oder als ein Modell für progressives Denken verstehen? Danach fragt der an der Literatur- und Kulturgeschichtler Jost Hermand, wenn er die zahlreichen Versuche der Menschen reflektiert, die Utopie einer gerechteren, glücksstiftenden Gesellschaftsordnung zu schaffen. Hermands Leitbild von Utopikern hingegen ist, „nicht der Illusion (zu) verfallen, ihrer Zeit voraus zu sein ( ), sondern stets von den Problemen ihrer eigenen Ära aus(zu)gehen und zugleich jene Gegenkräfte zum gesellschaftspolitischen Status quo ins Auge (zu) fassen, in denen ein echtes Potential der Veränderung steckt“ [24]. Alle Welt redet über „Sustainability“ – Nachhaltigkeit. Die richtige und falsche Benutzung des Begriffs führt nicht nur dazu, dass sich dadurch eine schwammige Diskussion um die wichtigen Fragen eines Perspektivenwechsels im Denken und Handeln der Menschen entwickelt hat, sondern es erlahmen auch die Kräfte bei der Bewältigung der schwierigen aber unverzichtbaren Menschheitsaufgaben. Es bedarf einer Begriffsklärung, um die richtigen Schritte gehen zu können. Ulrich Grober benutzt den „ökologischen Fußabdruck“ als Maßband für die Neuvermessung für ein gerechtes, lebenswertes menschliches Leben auf der Erde [25]. Welche Gesellschaftsform ist geeignet, dass der Mensch den Schritt vom Homo oeconomicus zum Homo empathicus schafft? Natürlich die Demokratie, in der das Individuum den ihm gebührenden Platz als Mitglied einer gleichberechtigten, humanen Gesellschaft innehat. Doch auch innerhalb der Demokratieformen gibt es Abstufungen und Wertesysteme, die es zu verbessern gilt. Der US-amerikanische Soziologe, Ökonom und Schriftsteller Jeremy Rifkin weiß, wie man die zivilisatorischen Entwicklungen, die positiven und negativen Vorgänge zur Lage der Welt wissenschaftlich fundiert mit allgemeinverständlichen Worten an die Menschen bringt. Mit seinem Buch „Die empathische Zivilisation“ schreibt er eine neue Zivilisationsgeschichte für ein Miteinander in der Gesellschaft, das bestimmt ist von dem „Ich nehme teil, also bin ich“. Die Faszination dieses empathischen und gleichzeitig subversiven Projektes der Beschreibung einer neuen Zivilisationsgeschichte und zukünftigen Wirklichkeit besteht darin, dass man an keiner Stelle der Lektüre das vage und abweisende Gefühl hat, da fantasiert sich einer etwas zusammen, was gar nicht geht. Dieser (real-) utopische Entwurf für eine empathische Zivilisation ist geeignet, die verborgenen Widersprüche in der Geschichte der Menschheit aufzudecken und die zahlreichen Zustände des Nichtgleichgewichts im Leben und Zusammenleben der Menschen auf der Erde zu erkennen, um sie zu verändern; hin zu dem, was die Weltkommission für „Kultur und Entwicklung“ 1995 als die Lösung der Menschheitsprobleme genannt hat: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“. Denn: Wir haben die Wahl ( vgl. dazu auch: Al Gore, Wir haben die Wahl, Riemann Verlag, München 2009, in: socialnet Rezensionen 8911), wir haben das Menschenrecht und wir haben die Kraft und die Macht dazu, wenn wir es tun! [26].
Kapitalismus überwinden, aber wie?
Über eine Fehlentwicklung kapitalistischen Denkens und Handelns sind sich neuerdings die Kontrahenten einig: Wirtschaftliches Wachstum, als Grundstock kapitalistischer Systeme, muss abgeschafft werden: Da haben wir zum einen die radikalen Kritiker, die sich in der wissenschaftlichen Disziplin der kritischen Internationalen Politischen Ökonomie (IPÖ) zusammen finden und im herrschaftsförmigen Prozess der neoliberalen-imperialen Globalisierung und in den vielfachen Formen einer Privatisierung von Politik und gemeinwirtschaftlichen Prozessen alle Übel der Welt ausmachen [27]; zum anderen finden sich im Sammelbecken der Kritik am Kapitalismus unterschiedliche Vertreter zusammen. Mit der Warnung, dass die Unternehmensgewinne von heute die Spekulationseinsätze von morgen seien, es also nicht reiche, einige Korrekturen im kapitalistischen Wirkungsfeld vorzunehmen, sondern nur die Abschaffung des Kapitalismus die Lösung der Probleme sein könne, sind sich sowohl Anhänger einer materialistischen Staatstheorie, als auch keynesianisch beeinflusste Ökonomen einig, dass die humane Solidarität, die in den Zeiten der Menschheitskrisen, von wirtschaftlichen bis hin zu Umweltkrisen, in besonderem Maße gefordert ist, vom Kapitalismus nicht zu leisten ist [28]. Eine weitere Stimme, eher aus dem Lager, von dem man erst einmal keine eindeutige Kritik am Kapitalismus erwartet hätte: Meinhard Miegel hat lange Jahre als Mitarbeiter in CDU-Gremien gewirkt; den Slogan im Grundsatzpapier der CDU - "Ohne Wachstum ist alles nichts", (an dem er mitgewirkt hat?) - steht er heute äußerst skeptisch gegenüber. Mit der Gründung eines gesellschaftlichen Diskussionsforums, „Denkwerk Zukunft“, 2007, will er zur Erneuerung der westlichen Kultur beitragen, „um diese wieder zukunfts- und verallgemeinerungsfähig zu machen“. Als wissenschaftlicher Leiter des von der Ernst Freiberger-Stiftung initiierten Ameranger Disputs im bayerischen Chiemgau, hat Meinhard Miegel 2009 mit dem Thema „Weniger Wohlstand – und doch zufrieden?“ an den Grundfesten des Selbstverständnisses der Menschen in den westlichen Industrieländern gerüttelt, mit der Kritik, dass ihre individuelle Zufriedenheit und ihr jeweiliger gesellschaftlicher Status entscheidend von der Mehrung ihres materiellen Wohlstands durch ein immerwährendes Wirtschaftswachstum abhänge. Was aber wird, wenn diese scheinbar naturgegebenen und als selbstverständlich erachteten Voraussetzungen nicht mehr vorhanden sind? Da macht sich – ein Konservativer? – auf, um allen im Bundestag vertretenen Parteien, die in ihren Programmen allesamt den Satz stehen haben, gelegentlich etwas verklausuliert und sibyllinisch formuliert: „Die Wirtschaft muss wachsen“, weil es nur so Vollbeschäftigung, Konsumbereitschaft und Steuereinnahmen geben könne, weil nur so die Menschen zufrieden seien, die Leviten zu lesen; aber auch den Zockern und Krisengewinnlern überall in der Welt. Es ist die „Kettenbrief“- Mentalität, die zur jüngsten Wirtschafts- und Finanzkrise geführt habe: „Wie bei diesem ging alles gut, solange sich immer neue Mitspieler fanden – Menschen und Institutionen, die bereit waren, jene hochspekulativen, undurchschaubaren Finanzprodukte und völlig überteuerten Immobilien zu erwerben“. Damit charakterisiert Miegel die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die unfähig ist, ein Umdenken im System und bei den Menschen zu bewirken, sondern bestrebt ist, „Zustände wiederherzustellen, wie sie vor der Krise bestanden“. Auch wenn er seine Kapitalismuskritik nicht konsequent durchhält, sind seine pragmatischen Analysen und Zustandsbeschreibung es wert, zur Kenntnis genommen zu werden [29]. „Wir haben es weit gebracht mit der Ungleichheit“, stellt der an der TU in Braunschweig lehrende Philosoph und politische Denker Bernhard Taureck fest und appelliert daran, Gleichheit als menschliche Selbstverständlichkeit zu denken und in der lokalen und globalen Wirklichkeit auch zu realisieren – mit den Denkinstrumenten, die den Menschen zum Verstandeswesen macht [30]. Denk- und Argumentationshilfen zwischen Partikularismus und Kosmopolitismus, zwischen Gerechtigkeit und Freiheit, zwischen Menschenrechten und Individualismen in der globalisierten Welt liefern Christoph Broszies und Henning Hahn mit ihrer Auswahl von Schlüsseltexten zur Thematik [31].
Die Internationalisierung der Kapitalismuskritik
Globalisierungsprozesse heben nationale auf. Es bedarf also auf allen Gebieten des menschlichen Zusammenseins in unserer „Einen“ Welt, auf kulturellen [32], aber auch auf dem Gebiet des Ökonomischen, inter- und supranationale Vereinbarungen, Zusammenschlüsse und Vernetzungen. „Transnationalität als globale Verflechtung“ ist das Stichwort dazu [33]; und zwar nicht nur im ökonomischen Denken und Tun, sondern als allgemeine Einstellung und humane Grundlage [34]. Der Schweizer Soziologe und internationale Politiker Jean Ziegler weist darauf hin, dass das Gedächtnis des Westens hegemonial sei. Daraus zieht er den Schluss, dass die Politik der industrialisierten westlichen Staaten dazu führe, dass Armut und Unterdrückung in großen Teilen der Erde auf das Konto des Westens gehe, wie er dies in seinem 2005 erschienenem Buch „Das Imperium der Schande. Der Kampf gegen Armut und Unterdrückung“ deutlich formuliert. Es sei die Doppelzüngigkeit des Westens, vor allem auf dem Gebiet der wirtschaftlichen und hegemonialen Macht, die den Hass der Völker der südlichen Hemisphäre auf den Westen immer wieder schüre. Es ist die ökonomische, strukturelle Gewalt, die den Unfrieden in der Welt schafft und vom „wirtschaftlichen Weltkrieg“ sprechen lässt [35]. Gegen die „Globalisierungsmacher“ angehen [36] ist genau so notwendig, wie der Frage nachzugehen, warum unsere Weltordnung aus den Fugen geraten ist [37]; denn wir alle Menschen auf der Erde sitzen auf dem Einen Planeten, der durch menschengemachtes“ Immer-weiter-immer-schneller-immer-mehr“ vor der Überhitzung steht [38].
Die Herausforderungen an jeden von uns
Die Auseinandersetzungen um den richtigen Weg, damit alle Menschen auf der Erde ein „gutes“, menschenwürdiges Leben führen können, damit es mehr individuelle und soziale Gerechtigkeit gibt, dürfen nicht delegiert werden auf „die da Oben“ oder diejenigen, die qua Tradition oder Hegemonie die Macht haben, das „gute Leben“ in ihrem Sinne und nach ihren Bedürfnissen zu definieren und zu gestalten. Deshalb ist ein „Lernen für die Zivilgesellschaft“ erforderlich; denn nur der wissende, kritische und urteilsfähige Bürger ist bereit und in der Lage, zu handeln und Verantwortung zu übernehmen [39]. Um ein zivilgesellschaftliches und humanes Denken und Handeln zu ermöglichen, brauchen wir die Auseinandersetzung darüber, wie die menschlichen Gesellschaften lokal und global verfasst werden sollen. Wir brauchen die Kritik am Kapitalismus, um die Welt gleicher, gerechter und friedlicher mit gestalten zu können [40]. Damit wir uns auch trauen, Alternativen zu denken und zu praktizieren, lassen wir uns von Hans A. Pestalozzi, dem ehemaligen Schweizer Top-Manager und heutigem Querdenker in Sachen Gesellschaftsveränderung, ermuntern: Wo kämen wir hin, wenn alle sagten, wo kämen wir hin, und niemand ginge, um einmal zu schauen, wohin man käme, wenn man ginge“[41]. Und zum Schluss ein weiterer, bisher im Diskurs um das „richtige Leben“ weitgehend vernachlässigter Hinweis: Argumente, Analysen und Absichten für eine nachhaltige Entwicklung der Menschheit bedürfen den ganzheitlichen und globalen Blick und das aufgeklärte Bewusstsein, dass das Denken und Handeln des Menschen aus Kopf, Herz und Hand besteht, wie dies die Schweizer Pädagogin Maria Montessori für das Lernen postuliert hat [42]. So mancher wird bei der subjektiv zusammengestellten Literatur zu Fragen, wie wir Menschen in der Gegenwart und Zukunft human (über-)leben wollen, wichtige Argumente und Stimmen vermissen; das überrascht nicht – und es würde den Rezensenten glatt überfordern, erwartete man das. Die Auswahl erfolgte nicht aus fach- und disziplinspezifischen wissenschaftlichen Motiven, sondern ist orientiert daran, dass Du und ich, der bisher Absente wie der politisch Engagierte sich an der humanen Weiterentwicklung der Menschheit beteiligen müssen. Vielfältige weitere rezensierte Literatur ist zu finden im Internet-Rezensionsdienst www.socialnet.de, in dem die ausgewählten Werke ebenfalls vorgestellt werden. Dr. Jos Schnurer (Jg. 1934)
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Immelmannstr. 40
31137 Hildesheim Fußnoten