Matthias Löb: "Opfern der Nazi-Psychiatrie ihre Namen zurück geben"

24.09.2017 | Gesundheitswesen | Nachrichten

Ein neuer Gedenkpfad für 440 Ermordete aus der Provinzial-Heilanstalt Lengerich wurde von Matthias Löb, Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) eingeweiht: genau an dem Tag, an dem vor 77 Jahren 77 Jahre die Deportation der ersten sieben Patienten jüdischen Glaubens aus Lengerich begann. 

Der Lengericher Gedenkpfad zur Erinnerung an 440 Opfer der Nazi-Krankenmorde - für Löb ist er "sichtbares Zeichen gegen das Vergessen". Er gebe "den Opfern ihre Namen zurück". Er schaffe "eine Verbindung zu ihnen". Und: Er verdeutliche eindrucksvoll, "welche Folgen das Wegbrechen ethischer Maßstäbe in der Psychiatrie haben und wie tief eine Gesellschaft in den Abgrund der Unmenschlichkeit fallen kann-"

Gedenkstätten seien umso wichtiger in einer Zeit des Übergangs von der lebendigen zu einer kulturell überlieferten Erinnerung. Es gebe immer weniger noch lebende Zeitzeugen der NS-Zeit, die von ihrer Geschichte erzählen können. 

"Mit Scham über das, was Menschen ausgerechnet in Einrichtungen des Heilens angetan wurde" belegte der LWL-Direktor die nationalsozialistischen und rassenideologischen Verstrickungen des LWL-Vorläufers Provinzialverband und seiner Heilanstalten - von der damaligen Verbandsspitze ("Überzeugungstäter") über NSDAP-angehörige Ärzte bis zu willfährigem Pflegepersonal. Die Gleichschaltung der staatlichen Organe nach der Machtergreifung Hitlers, ein verbrecherisches Menschenbild über behinderte und kranke Menschen sowie menschenverachtende Vorgaben des Regimes führten ab 1934 zu Zwangssterilisationen so genannter "Erbkranker" auch in der Heil- und Pflegeanstalt Lengerich. Löb: "Die eugenisch begründeten Sterilisationen machten vor blinden und tauben Menschen sowie Abhängigkeitserkrankten keinen Halt."

Massenmord

Mit Kriegsausbruch und Hitlers "Euthanasie"-Erlass begann 1939 der Massenmord an psychisch kranken und geistig behinderten Menschen. Die zynische "Gnadentod"-Vollmacht des "Führers" sei nicht zuletzt "auf Drängen von Psychiatern in einflussreichen parteipolitischen Positionen" zustande gekommen, so Löb. Das Morden begann mit der "Kindereuthanasie" und weitete sich noch im gleichen Jahr mit der so genannten T-4-Aktion auf in der Nazi-Diktion "gänzlich gemeinschafts- und arbeitsunfähige" Menschen aus. Ihnen wurde letztlich die Lebensberechtigung abgesprochen, sie wurden als "lebensunwert" eingestuft.

Die Folge: "Aus westfälischen Einrichtungen wurden 5.796 Patientinnen und Patienten deportiert. 2.896 Menschen haben nachweislich ihr Leben verloren, darunter mehr als 250 Kinder", so der LWL-Direktor. In Lengerich habe 1940 und 1941 mehr als ein Drittel der damaligen Patientenschaft dieses Schicksal ereilt. Die Menschen starben in Gaskammern zentraler Tötungsanstalten, durch Überdosen an Medikamenten, an Hunger, Kälte oder den katastrophalen hygienischen Verhältnissen in den Durchgangs- und Zielanstalten, erinnerte Löb.

Gedenken

Kritisch vermerkte der LWL-Direktor, dass in der Nachkriegszeit nur wenige zur Verantwortung gezogen wurden: "Viele Täter oder Mittäter waren weiter in der Klinik tätig." Dass nach langen Jahren mangelnder Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit sowie anhaltend menschenunwürdiger Zustände, dass nach der reformerischen Psychiatrie-Enquête Mitte der 1970er Jahre und dass erst nach mehr als 35 Jahren die westfälischen Kliniken ab etwa 1980 mit der historischen Aufarbeitung begonnen hätten, sieht Löb "aus heutiger Sicht als deutlich zu spät". Viele Betroffene und Angehörige hätten diese Entwicklung nicht mehr erleben können.

Es bedürfe aber "eines weitergehenden Gedenkens", wie es einer seiner Amtsvorgänger mit einer öffentlichen Entschuldigung bei überlebenden "Euthanasie"- bzw. Zwangssterilisations-Opfern zum Ausdruck gebracht habe und wie es die LWL-Klinik Lengerich forciert im Zuge ihres 150-jährigen Bestehens seit 2014 pflege, forderte der LWL-Direktor. Er verband damit seinen ausdrücklichen Dank an die vor zwei Jahren eigens gegründete Klinikprojektgruppe 'Gedenkort' unter Leitung von Vize-Pflegedirektor Stephan Bögershausen und der ehemaligen Sozialdienst-Mitarbeiterin Maria Brümmer-Hesters.

Deren zukunftsweisender Appell: "Dieser Gedenkpfad nimmt uns mahnend in die Verpflichtung, die kontinuierlichen Veränderungen der politischen und gesellschaftlichen Bedingungen stets sensibel und achtsam im Sinne aller Menschen zu reflektieren", so Stephan Bögershausen. Und Maria Brümmer-Hesters: "Zur Eröffnung des Lengericher Gedenkpfades gab es darum neben inspirierenden Vorträgen auch persönliche Schilderungen der Großnichte einer 1941 deportierten Lengericher Patientin. All das ruft zu einer aktiven Erinnerung auf und enthält eine Botschaft für unser heutiges, entschieden humanes Entscheiden und Handeln."


Details in Wort und Bild zum Lengericher Gedenkpfad gibt es online unter www.lwl.org/klinik_lengerich_download/Lengericher_Gedenkpfad.pdf.


Quelle: LWL-Presseinformation vom 21. September 2017