Junge im Rollstuhl schaut auf spielende Kinder im Hintergrund.
Kinder und Jugendliche mit Behinderung müssen weiter auf die Inklusive Lösung warten, Foto: Jahren Wicklund, fotolia.com

Alles auf Null? Die Inklusive Lösung und das SGB VIII

Sozial.de im Gespräch mit Norbert Müller-Fehling, Geschäftsführer des Bundesverbandes für körper- und mehrfachbehinderte Menschen

Der Bundesrat hatte die Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII) vor der Sommerpause von der Tagesordnung genommen, und auch am 22. September 2017 wurde sie wieder kurzfrisitig abgesetzt. Egal, wie in dieser umstrittenen Reform entschieden wird, von einer „Großen Lösung", die sie für alle Kinder und Jugendliche mit Behinderung bringen sollte, hatte man sich bereits auf dem Weg dorthin verabschiedet. Ein Neuanfang ist nun angekündigt. Was verbinden Vertreter von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung und ihrer Familien damit? Welche Weichen sind aus deren Sicht zu stellen, damit er diesmal gelingt? Das fragte Ines Nowack, Redaktion Sozial.de, den langjährigen Geschäftsführer des Bundesverbandes für körper- und mehrfachbehinderte Menschen, Norbert Müller-Fehling. 
Norbert Müller-Fehling im Porträt

Die „Große Lösung" war lange fast schon zum geflügelten Wort geworden. Können Sie beschreiben, was Sie selbst damit verbinden?

Norbert Müller-Fehling: Bis zum bisweilen letzten Anlauf des Bundesfamilienministeriums 2015 wurde die Zusammenführung der Leistungen für alle Kinder mit Behinderung in einem Gesetzbuch als sogenannte „Große Lösung" geführt. Die Auseinandersetzung darüber, wo der rechte Ort für diese Leistungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderung ist, wurde bereits während meines Studiums Mitte der 1970er Jahre geführt. Leistungen für Kinder mit körper- und geistiger Behinderung werden im Rahmen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII von der Sozialhilfe erbracht. Während die Leistungen für seelisch behinderte Kinder und Jugendhilfe seit 1995 nach dem SGB VIII von der Kinder- und Jugendhilfe erbracht werden. Das führt seither zu erheblichen Abgrenzungs- und Zuständigkeitsproblemen, die im 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung „Schwarze Löcher und Verschiebebahnhöfe" genannt werden. Mit der Zusammenführung aller Leistungen für alle Kinder und Jugendlichen und ihre Familien in einem Sozialgesetzbuch soll dieser Mangel behoben werden. Der Bund, die Länder und die Verbände der Kinder- und Jugendhilfe und der Behindertenhilfe haben sich dafür ausgesprochen, dass das SGB VIII der rechte Ort dafür ist. Die aktuellen Bemühungen laufen nun unter dem Titel „Inklusive Lösung".

Was bringt die aktuelle Reform, wenn der Bundesrat möglicherweise doch noch dem Regelwerk zustimmt? Sehen Sie darin Fortschritte für Kinder und Jugendliche mit Behinderung und ihre Familien?

Müller-Fehling: Die aktuelle SGB-VIII-Reform bringt keine „Inklusive Lösung". Abgesehen von einigen Appellen bei der gemeinsamen Erziehung und Betreuung in Kindertageseinrichtungen und wenigen sehr allgemeinen Programmsätzen zur Inklusion enthält das übriggebliebene Reformwerk keine leistungsrechtlichen Regelungen für Kinder und Jugendliche mit geistiger, körperlicher oder mehrfacher Behinderung. Die Mitte 2016 bekannt gewordenen Arbeits- und Diskussionsentwürfe des Bundesfamilienministeriums sind vor allem in der öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe auf erhebliche Ablehnung gestoßen. Wie weite Teile der Jugendhilfe sahen auch die Verbände der Behindertenhilfe das bisherige Verhältnis von öffentlicher und freier Jugendhilfe in Frage gestellt. Die Entwürfe sahen die Schwächung der Elternrechte und der individuellen Rechtsansprüche vor, ebenso die Beschränkung des Wunsch- und Wahlrechtes. Das Prinzip des sozialpädagogischen Aushandlungsprozesses wurde über notwendige und geeignete Hilfe mit den unmittelbar Betroffenen in Frage gestellt. Es bestand das Risiko, dass sich Veränderungen beim Leistungserbringungsrecht und die Ermöglichung von Ausschreibung individuell zu erbringender Leistungen zerstörerisch auf die Leistungserbringungsstruktur wirken könnte.

Denkbar ungünstigste Bedingungen für große Lösungen, könnte man sagen...

Müller-Fehling: Ja, damit war Vertrauen zerstört und mit der Verknüpfung weiterer Zielsetzungen die Inklusive Lösung in den Hintergrund gedrängt. Für unseren Verband war von vorneherein klar, dass es eine Zusammenführung der Leistungen für alle Kinder und Jugendlichen mit Behinderung unter dem Dach des SGB VIII nicht zulasten der Hilfe zur Erziehung geben kann. Grundlegende Veränderungen des Verhältnisses von freier und öffentlicher Jugendhilfe, die zum Wesenskern der Kinder- und Jugendhilfe gehören, sowie Einschränkungen und Leistungsverschlechterung treffen alle Kinder und Jugendlichen und ihre Familien und können daher nicht hingenommen werden. Vor diesem Hintergrund haben wir es begrüßt, dass die Zusammenführung aller Kinder und Jugendlichen unter dem Dach des SGB VIII auf die Zeit nach der Bundestagswahl verschoben wird und mit einem neuen Anlauf möglichst unbelastet in Angriff genommen werden kann.

Prof. Dr. Karin Böllert, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft KInder- und Jugendhilfe (AGJ), sagte auf der Podiumsdiskussion zum Abschluss des diesjährigen Kinder- und Jugendhilfetages in Düsseldorf, einen Neuanfang zur großen inklusiven Lösung dürfe es nicht ohne die Behindertenhilfe geben. Sie saßen mit ihr auf dem Podium und sagten: Es gibt zwischen der freien Kinder- und Jugendhilfe und der Behindertenhilfe Klärungsbedarf. Meinen Sie beide dasselbe?

Müller-Fehling: Es besteht große Übereinstimmung zwischen der Kinder- und Jugendhilfe und der Behindertenhilfe, dass die Zusammenführung der Leistungen für alle Kinder und Jugendlichen unter dem Dach des SGB VIII die Lage junger Menschen mit Behinderung verbessert und einen wichtigen Beitrag für eine inklusive Entwicklung der Gesellschaft leisten kann. Über dieses Einvernehmen hinaus haben wir es offensichtlich versäumt, konkrete Lösungsansätze im Einzelnen innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe und innerhalb der Behindertenhilfe hinreichend zu erörtern. Die Auseinandersetzung darüber ist erst recht nicht ausreichend zwischen Behindertenhilfe und Kinder- und Jugendhilfe geführt worden. Die Verbände haben es weitgehend dem Bundesfamilienministerium überlassen, Umsetzungsvorstellungen zu entwickeln. Die wiederum litten im Wesentlichen darunter, dass sie unter dem Gebot der Kostenneutralität standen und die Inklusive Lösung mit anderen Reformzielen verknüpften. Was bisher fehlt, sind abgestimmte Vorstellungen darüber, wie eine Inklusive Lösung aussehen und umgesetzt werden kann.

Sind dazu inzwischen bereits Schritte getan? Was ist geplant?

Müller-Fehling: Seitdem das Scheitern der Reform in dieser Legislaturperiode offensichtlich wurde, sind eine Reihe von Initiativen auf den Weg gebracht worden, um den Dialog innerhalb und zwischen den Bereichen voranzutreiben. Das Bundesfamilienministerium hat den Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge mit der Durchführung von Dialogveranstaltungen beauftragt, die zum Beispiel einzelne Fragestellungen nach dem einheitlichen Leistungstatbestand, dem Hilfeplanverfahren oder nach der sozialräumlichen Gestaltung von Leistungen einer „inklusiven" Kinder- und Jugendhilfe aufrufen.

Wer kann sich daran beteiligen?

Müller-Fehling: Alle Akteure von der öffentlichen und der freien Kinder- und Jugendhilfe und der Behindertenhilfe. Das Deutsche Institut für Urbanistik lädt zu Fachgesprächen ein, bei denen vorrangig die öffentliche Seite, das heißt die Jugendämter mit der Behindertenhilfe, ins Gespräch kommt. Die AGJ hat zwei Vorstandspositionen für Vertreterinnen und Vertreter der Behindertenhilfe geschaffen. Die Fachverbände für Menschen mit Behinderung haben ihre Vorstellungen für eine Inklusive Lösung in einem Diskussionspapier zusammengefasst, Es versteht sich als ein Aufschlag zu einer breit angelegten und ergebnisoffenen Diskussion der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendhilfe untereinander und miteinander über das richtige Konzept und die besten Lösungen des großen Reformvorhabens. Kontaktgespräche zwischen den Fachverbänden für Menschen mit Behinderung und den Erziehungshilfefachverbänden sind noch für dieses Jahr geplant.

Mal Hand aufs Herz, Herr Müller-Fehling, bringt eine Inklusive Lösung nicht enorme Veränderungsdruck in beiden bisherigen Unterstützungssystemen mit sich?

Müller-Fehling: Der Veränderungsdruck besteht durch die Trennung der Zuständigkeit der Leistungsträger, Eingliederungshilfe und Kinder- und Jugendhilfe, in Abhängigkeit von der Art der Behinderung und der Abgrenzung von Hilfe zur Erziehung und Eingliederungshilfe. Ein solcher Blick auf die Kindesentwicklung und die Unterstützungssysteme für Familien ist nicht zeitgemäß und steht im Widerspruch zu der UN-Behindertenrechtskonvention und der UN-Kinderrechtskonvention. Die Inklusive Lösung schafft keine Probleme, sie löst sie. Gleichwohl ist das Unternehmen alles andere als banal. So wie die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung noch weitgehend getrennt voneinander existieren, so fehlen den beiden Bereichen oft noch die Kenntnisse über die Geschichte, bisherige Verfahren oder die kulturellen Besonderheiten. Die miteinander geführten Gespräche lassen die auf beiden Seiten vorhandenen Defizite sichtbar werden und bieten die Chance sie auszuräumen.

Was sind Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen einer Inklusiven Lösung in der Kinder- und Jugendhilfe?

Müller-Fehling: Zu den zentralen Anliegen der Elternselbsthilfe wie dem Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen, gehört es, Kindern mit Behinderungen förderliche Bedingungen in ihren Familien zu sichern. Damit ist auch eine Begründung dafür geliefert, dass eigentlich alle Kinder und Jugendlichen mit Behinderung in der Kinder- und Jugendhilfe richtig aufgehoben sind. Es geht darum, den besonderen Unterstützungsbedarf von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in einen engen Kontext mit der für das Alter typischen Lebenswelt aller Kinder zu setzen. Das Recht auf Teilhabe an der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen muss strukturell ebenso ernst genommen werden wie das Recht auf eine der Behinderung angemessene Förderung und Unterstützung.

Wie könnte dies Ihrer Meinung nach gelingen?

Müller-Fehling: Ein Konzept der „Hilfe zur Entwicklung, Teilhabe und Erziehung", das sich nicht auf ein Nebeneinander von Hilfe zur Erziehung und Eingliederungshilfe beschränkt, sondern das gesamte Kinder- und Jugendhilferecht erfasst, erscheint daher für eine inklusiv ausgerichtete Kinder- und Jugendhilfe geeignet. Es stellt die bestehende Grundstruktur des SGB VIII nicht in Frage. Das fachliche Verständnis, die Arbeitsansätze und die Struktur der heutigen öffentlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe bilden eine gute Grundlage für eine inklusive Weiterentwicklung. Mit ihrem Blick auf das System Familie und das Umfeld, an und in der Regel auf der Seite der Familie. Mit den Wesensmerkmalen der Kinder- und Jugendhilfe, der gesetzlichen Grundstruktur des SGB VIII, mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die fachlich geeignet und engagiert sind, bestehen gute Voraussetzungen, um die beschriebene Zielrichtung zu erreichen.

Und welche besonderen Herausforderungen gibt für einen solchen Weg in der Behindertenhilfe?

Müller-Fehling: Die Reform der Eingliederungshilfe durch das Bundesteilhabegesetz hat die besondere Situation von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung und ihre Familien in Erwartung der SGB VIII Reform ausdrücklich ausgeklammert. Das heißt: Es gibt für die Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche Nachholbedarf. Für den Reformprozess setzen wir Leitplanken*. Wir wollen in die Kinder- und Jugendhilfe und wir wollen sie gemeinsam inklusiv weiterentwickeln. Dazu müssen Kinder und Jugendliche mit Behinderung und ihre Familien dort willkommen sein. Ich kann in den vorgestellten Grundbedingungen für eine Reform aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung keinen Widerspruch zu der Interessenlage der heutigen Kinder- und Jugendhilfe erkennen.

Es scheint ein sehr intensiver Prozess notwendig zu werden. Wann rechnen Sie mit einer großen Inklusiven Lösung?

Müller-Fehling: Die im großen Umfang ausgebliebenen Teile einer SGB-VIII-Reform stellen die bedeutenden sozialpolitischen Herausforderungen für die neue Bundesregierung und das Parlament dar. Wir erwarten die Reform in der Mitte der nächsten Legislaturperiode.

Was wären aus Ihrer Sicht die nächsten erfolgreichen Schritte?

Die Eingliederungshilfe und Kinder- und Jugendhilfe müssen den begonnenen eigenständigen Dialog fortsetzen und um gemeinsame und tragfähige Lösungen ringen. Wir erwarten darüber hinaus einen vom BMFSFJ geführten transparenten, fairen Beteiligungsprozess für das Gesetzesvorhaben von ausreichender Dauer und mit der erforderlichen Intensität zu allen Themen einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe und mit Beteiligung aller maßgeblichen Akteure. Im Mittelpunkt der Reform müssen ihre inklusiven Elemente stehen. Die Verknüpfung der Reform mit darauf bezogenen sachfremden Zielsetzungen muss vermieden werden. Wir wollen eine bundeseinheitliche Regelung und keinen Flickenteppich der Bundesländer bei der Zuständigkeit für Kinder und Jugendliche mit Behinderung. Die Vorgabe der Kostenneutralität muss aufgegeben werden. Der Bund soll die finanziellen Mittel bereitstellen, um den Trägern der Kinder- und Jugendhilfe die Zusammenführung und die Ausgestaltung einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe zu ermöglichen.

Vielen Dank für das Gespräch!

*Leitplanken der Fachverbände für Menschen mit Behinderung für eine Inklusive Lösung

  • Der leistungsberechtigte Personenkreis darf nicht eingeschränkt werden.
  • Keine Leistung darf auf den Weg ins SGB VIII verlorengehen.
  • Sie müssen auf der Grundlage von Rechtsansprüchen, nach den Prinzipien der individuellen Bedarfsdeckung, aus einem offenen Leistungskatalog zur Verfügung stehen.
  • Die Hilfeplanung muss transparent, partizipativ, fachlich fundiert und geeignet sein, behinderungsspezifische Bedarfe zu erfassen.
  • Die Angebote der Kinder- und Jugendhilfe müssen so weiterentwickelt werden, dass sie von allen Kindern und Jugendlichen und ihren Familien in Anspruch genommen werden können.
  • Bei der Kosten- und Unterhaltsheranziehung darf es für niemanden zu einer Verschlechterung kommen.
  • Der altersbedingte Übergang von der Kinder- und Jugendhilfe zur Eingliederungshilfe muss so geregelt werden, dass keine Leistungslücken oder Betreuungsabbrüche entstehen.
  • Die Schnittstellen zwischen der Kinder- und Jugendhilfe und den übrigen Sozialgesetzbüchern und der Schule müssen verlässlich geregelt werden.
  • Die öffentliche Jugendhilfe muss im Hinblick auf die Anzahl und Qualifizierung ihrer Fachkräfte ausreichend ausgestattet werden, um die neuen Aufgaben übernehmen zu können.
  • Das SGB VIII muss sich insgesamt zu einem inklusiven Leistungsgesetz für alle Kinder und Jugendlichen entwickeln.

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