Alte Diskrimierung im neuen Gewand
Teil des Paradigmenwechsels in der Behindertenpolitik oder Inklusionspolitik der letzten Jahre sollte ein verändertes Verständnis von Behinderung weg von dem medizinischen Begriff der Behinderung, hin zu einem an der Teilhabe und den Einschränkungen der Teilhabe orientierten Begriff von Behinderung sein. Entscheidend für die Frage, ob man behindert ist und wie viel, sollte also nicht mehr die medizinische Diagnose sein, sondern die Frage, wie behindert ist man in seinem Alltag und wie sehr wird die Teilhabe durch diese Hindernisse eingeschränkt. Das klingt erstmal sehr fortschrittlich. Das klingt erstmal nach Personenzentrierung, nach Abbau von defizitären Blickwinkeln im medizinischen Sinne und hin zu einer Perspektive, die auch Ressourcen und Entwicklungsmöglichkeiten berücksichtigt. In der Praxis beschleicht mich zunehmend das Gefühl, dass dieser Paradigmenwechsel neue Möglichkeiten der Diskriminierung und der Beschneidung der Rechte von Menschen mit Behinderung zufolge hat.
Die junge Frau Angie Berbuer hat vor einigen Tagen Mitte Februar auf Social Media ein Video hochgeladen in der sie verzweifelt davon berichtet, ihr Grad der Behinderung heruntergestuft werden soll. 2019 erlebte sie einen schweren Autounfall, in dessen Folge sie beide Unterschenkel verlor. Ihre Beine sind über den Knie amputiert. Sie sitzt seitdem im Rollstuhl oder läuft mit Prothesen. Ihre Diagnose ist natürlich gleich geblieben, trotzdem möchte das Landessozialamt ihre Behinderung nun von 100 auf 80% hinunterstufen und ihr das Merkzeichen h entziehen. Diese Ankündigung hat zu einer massiven Verzweiflung und großem Unverständnis bei der jungen Frau geführt.
Die offizielle Anerkennung der Behinderung und die damit verbundenen Schwierigkeiten durch die Behörden hat vorwiegend den Zweck des Schutzes der Menschen mit Behinderung vor weiteren sozial konstruierten Nachteilen und des Ausgleichs von Nachteilen durch die Behinderung. Wenn diese immer wieder in Frage gestellt werden durch verschiedene Begutachtungsverfahren und Ankündigungen der Herabstufung, kommen bei uns Menschen mit Behinderungen oft existenzielle Ängste auf, denn die Anerkennung unserer Behinderung durch verschiedene Behörden ist an existenziell wichtige Unterstützung geknüpft. Hinter der Herabstufung des Grades der Behinderung von Angie ist genau die oben besprochene Orientierung an den Teilhabemöglichkeiten. Angie hat sich in wahrscheinlich sehr harte Arbeit wieder mehr Teilhabe erkämpft. Sie hat sich an die massiv veränderten Lebensumstände angepasst und an sie gewöhnt. Sie hat physisch und körperlich sehr hart dafür gearbeitet, ein möglichst qualitativ hochwertiges Leben mit ihrer Behinderung leben zu können. Für diese harte Arbeit und diese heftigen Prozesse führt sie nun im Prinzip bestraft, in dem ihr ihre Behinderung in der Folge dessen aberkannt wird.Die Orientierung an den Teilhabemöglichkeiten wird zu ihren Ungunsten ausgelegt weil sie ja jetzt gelernt hat mit ihrer Behinderung zu leben und demnach quasi weniger behindert ist.
Diese Prozesse finden häufig statt und sorgen dafür, dass Menschen mit Behinderung oft Angst haben nicht mehr behindert genug zu sein für die Behörden, wenn sie anfangen sich mehr Lebensqualität zu verschaffen. Das kann uns sehr vielen Bereichen der Fall sein, so auch wenn man wieder mehr Mobilität erlangt, sich mehr soziale Kontakte aneignet, wenn man durch eine Therapie oder eine Reha eine Alltagsfähigkeit übt oder wieder erlangt uvm. Dabei werden viele Aspekte der Graubereiche zwischen „ich kann etwas alleine“ und „ ich kann etwas nicht alleine“ vollständig ausgeklammert. Ich habe bereits einmal einen Text geschrieben mit dem Titel „Hilfebedarf ist nicht schwarz-weiß!“ , in welchem ich detailliert erklärt habe, warum die Frage, ob ich als behinderte Person bei einer Tätigkeit Unterstützung brauche oder nicht von sehr vielen Faktoren abhängt, wie der Umwelt und ihren Bedingungen, meinen eigenen Kraft Ressourcen, meinen Zeitressourcen, meiner Prioritätensetzung für die Lebensqualität uvm. All diese Aspekte werden dabei außer Acht gelassen. Auch Angie verdeutlicht in einem zweiten Video auf Social Media kurze Zeit später, warum der Gedanke der geringeren Behinderung abstrus ist und viele Aspekte nicht berücksichtigt. Sie zeigt in dem Video kurze Zeit später, wie ihre Prothese einen technischen Fehler hat und sie deshalb auf einmal auf den Rollstuhl zurückgeworfen ist und ihren ursprünglichen Plan, ins Fitnessstudio zu gehen um ihren emotionalen Frust über die Diskriminierung etwas abzubauen, nicht in die Tat umsetzen kann.
Für mich ist es pervers zu beobachten, wie ursprünglich progressive und gute Gedanken und Prozesse zur Stärkung der Rechte von Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft umgedreht werden, um Menschen mit Behinderung weiter in der Ausübung ihrer Menschenrechte zu unterdrücken. Für mich persönlich ist z.B die Überarbeitung der Erfassung der Pflegegrade ein Beispiel der Benachteiligung von körperbehinderten Menschen. Natürlich ist es gut dass jenseits der motorischen Fähigkeiten und der unterstützungsbedarfe durch körperlich Einschränkung jetzt auch kognitive und soziale Einschränkungen in den Pflegebedarf mit aufgenommen werden Punkt deswegen ist meine Einschränkung durch eine körperliche Behinderung aber nicht kleiner geworden, er wird aber viel weniger berücksichtigt.
Man kann und sollte davon ausgehen, dass Menschen in unserer Gesellschaft nur nach Hilfe und Unterstützung fragen, wenn sie diese wirklich brauchen. Niemand hat Spaß daran, sich als bedürftiger hinzustellen in Bezug auf Behinderung, als er oder sie wirklich ist. Behinderung und Hilfebedarf ist mit so viel Scham und Minderwertigkeit verknüpft dass die Idee, dass Menschen sich als bedürftiger darstellen als sie sind total abstrus ist, zumal es dadurch ja in den allermeisten Fällen nicht zu einer persönlichen monetären Bereicherung kommen kann. Wenn mir ein höherer Pflegegrad zugesprochen wird dann habe ich mehr Minuten zur Verfügung, um meine Assistenz zu nutzen, aber ich bin ja kein reicherer Mensch.
Der Druck, der emotionale Stress und die existenziellen Ängste, den Menschen mit Behinderung also durch diese ständige Begutachtung und dem ständigen Misstrauen ausgesetzt sind steht also in keinem Verhältnis zu dem möglichen Schaden der davon getragen wird wenn mal jemandem „zu viel“ Behinderung zu gesprochen werden sollte. Aus meiner beraterischen Tätigkeit heraus habe ich deutlich das Gefühl, dass es sich bei der Versorgung von Menschen mit Behinderung flächendeckend um eine chronische Unterversorgung handelt und nicht um eine Überversorgung. Existenzielle Ängste von Menschen mit Behinderung betreffen eben im Unterschied zu anderen Bedürftigen Gruppen nicht nur finanzielle Absicherung, sondern darüber hinaus auch organisatorische Absicherung des Alltags und der basalen Lebensqualität mit Fragen von kann ich aufstehen, kann ich essen, kann ich duschen, kann ich das Haus verlassen, kann ich einer Tätigkeit nachgehen, kann ich soziale Kontakte pflegen. Diesen qualitativen Unterschied verstehen Menschen ohne Behinderung oft einfach nicht