Bundesteilhabegesetz beschlossen: Erste Reaktionen

Kurz vor dem Internationalen Tag für Menschen mit Behinderungen hat der Deutsche Bundestag nun das so lange erwartetete und in der Kritik stehende Bundesteilhabegesetz (BTHG) beschlossen. Nach einer langen und heftigen Diskussion, mit den Stimmen von Union und SPD. Die Grünen enthielten sich, und die Linke stimmte nicht zu.

Der Gesetzentwurf war im parlamentarischen Verfahren nachgebessert worden. 68 Änderungsanträge hatte die Regierungskoalition eingebracht. Ist das BTHG nun doch noch aus Sicht der Sozialverbände und Interessenvertretungen zu einem gutem Gesetz geworden? Die ersten Stellungnahmen ließen nicht lange auf sich warten. Nach den scharfen Tönen der vergangenen Monate klingen jetzt befürwortende an. Aber auch heftige Kritik ist bereits wieder zu hören.

Die Bundesvereinigung Lebenshilfe spricht von wichtigen Verbesserungen nach einem harten Kampf. Es ist ein wichtiger Schritt, dass die Eingliederungshilfe aus dem Fürsorgesystem herausgelöst und in ein modernes Teilhaberecht überführt wird“, betont Caritas-Präsident Peter Neher.  Eingliederungshilfe sollte zunächst künftig nur gewährt werden wenn ein Mensch mit Behinderung Einschränkungen in mehreren Lebensbereichen gleichzeitig wie Mobilität, Wissen oder Selbstversorgung aufweist. 

Dies soll nun erst einmal modellhaft erprobt werden und auf Grundlage dieser Ergebnisse soll die Regelung nach einer erneuten Entscheidung des Bundestags im Jahr 2023 in Kraft treten. „Sollte sich bei der Erprobung zeigen, dass Menschen, die heute Zugang zu Leistungen haben, bei Anwendung der neuen Kriterien aus dem System herausfallen, so können und müssen die notwendigen Korrekturen vorgenommen werden“, mahnte jedoch Neher deutlich.

Als einen „behindertenpolitischer Meilenstein" bezeichnet der Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), Matthias Löb, das beschlossene Gesetz. Es enthalte wichtige Weichenstellungen: Menschen mit Behinderung sind nicht mehr auf die Sozialhilfe angewiesen, es wird deutliche Freistellungen von Einkommen und Vermögen der behinderten Menschen geben", so Löb.

Michael Löhr, Vorstand des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, differenziert: „Mit dem vom Bundestag beschlossenen Bundesteilhabegesetz wird der Weg weiter beschritten, der mit der UN-Behindertenkonvention begonnen wurde. Eine selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen mit Behinderung haben wir damit noch nicht erreicht, aber wir sind dem Ziel ein stückweit näher gekommen." Um diesen Weg weiter und konsequent zu beschreiten, fordert der Deutsche Verein die Pflegeversicherung bei der Teilhabe- bzw. Gesamtplanung verpflichtend einzubeziehen. Leistungen wie aus einer Hand seien nur möglich, wenn sich auch alle Leistungsträger von Unterstützungsleistungen für Menschen mit Behinderungen daran beteiligen.

Dazu gehörten auch unbedingt Regelungen für den Fall einer mangelhaften Beteiligung der Leistungsträger. Sonst müssten Menschen mit Behinderungen wieder von Leistungsträger zu Leistungsträger gehen, um das zu bekommen, was ihnen zustehe. Löher fordert: „Pflegeversicherung und Eingliederungshilfeträger sollten im Rahmen der Neuregelungen das Wunsch- und Wahlrecht der Menschen mit Behinderungen ernst nehmen und die Regelungen im Sinne der Menschen mit Behinderungen leben. Außerdem muss die Teilhabeplanung mit bundeseinheitlichen Kriterien unterlegt werden, um Doppelbegutachtungen zu vermeiden.“

Die Bundesbeauftragte für die Belange Behinderter, Verena Bentele, betont gegenüber der Presse: "Es bleiben noch Baustellen, aber das Gesetz bietet eine Basis für die weitere Arbeit. Diese Arbeit geht 2017 los.“

Sie kritisiert vor allem das Poolen von Leistungen: „Aus meiner Sicht berücksichtigt das Gesetz das Wunsch- und Wahlrecht der Menschen mit Behinderungen nicht ausreichend. Im Bereich des Wohnens wurden zwar Verbesserungen erreicht, doch auch hier lassen die Zumutbarkeits- und die Angemessenheitsprüfung zu viel Spielraum. Ich sehe auch die Gefahr, dass bei der Freizeitgestaltung der Wunsch des Menschen mit Behinderungen nach einer individuellen Assistenz regelmäßig hinter dem Kostenvergleich zurückstehen wird.“

Auch die gehörlose Bloggerin Julia Probst hatte sich im ARD-Morgenmagazin zur Kostenfrage geäußert: Ich kann es nicht gut finden, wenn auch nur eine person ausgeschlossen wird. Das Gesetz muss uns allen zugute kommen."

Bitter enttäuscht zeigte sich der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV): Der Gesetzgeber hat die historische Chance für die Etablierung echter Nachteilsausgleiche verpasst. Es ist nicht gelungen, ein bundeseinheitliches gerechtes Blindengeld zu schaffen. „Blindsein ist in ganz Deutschland gleich – das Blindengeld ist es weiterhin nicht“, stellt DBSV-Präsidentin Renate Reymann ernüchtert fest.

Die im Sozialhilferecht geregelte Blindenhilfe werde sogar zu einer Teilhabeleistung zweiter Klasse degradiert. Die verbesserten Regelungen zur Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen, wie sie künftig für die Eingliederungshilfe gelten, kommen für die Blindenhilfe nicht zum Tragen. „Die für alle Sozialhilfeleistungen vorgesehene Erhöhung des Vermögensfreibetrages auf 5.000 Euro ist ein Tropfen auf den heißen Stein“, findet Renate Reymann und kündigt an: „Wir werden uns auch weiterhin für einen zeitgemäßen Nachteilsausgleich stark machen, um diese Ungerechtigkeit zu beenden.“

Ebenso enttäuscht vom Gesetz zeigte sich Thüringens Sozialministerin Heike Werner: „Die Bundesregierung verfehlt das selbstgesteckte Ziel, Menschen mit Behinderungen die volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Deutlich werde dies daran, dass weiterhin ein Teil des Einkommens auf die Hilfen angerechnet werden soll und dass das lange in der Diskussion stehende Teilhabegeld nun doch nicht eingeführt wird.“

Das Gesetz muss noch den Bundesrat passieren. Am 16. Dezember 2016 finden die Abstimmungen statt. Das BTHG soll ab 2017 stufenweise eingeführt werden.

Der Bundestagsdebatte am 1. Dezember 2016 kann auf den  Seiten des Deutschen Bundestages ausführlich nachvollzogen werden unter www.bundestag.de


Quelle: Presseinformationen genannter Verbänden am 1./2. Dezember 2016, ARD-Morgenmagazin am 1. Dezember 2016, www.lebenshilfe.de